Tilman Niemeyer im Interview

Am 23. Mai erscheint das Buch „Kleiner Psychotherapieführer“ von Tilman Niemeyer im Handel. Der Autor, Heilpraktiker für Psychotherapie und angehender Hakomi-Körperpsychotherapeut, erläutert hier wichtige Aspekte, die bei dem Gedanken, eine Psychotherapie aufzunehmen, betrachtet werden sollten. Schließlich kann die Aufnahme einer Therapie viele Fragen aufwerfen, wie etwa: An wen soll ich mich wenden? Welche Methode passt zu mir? Übernimmt die Krankenkasse die Kosten? Was erwartet mich in einer Therapie?

Bevor Tilman Niemeyer aber solche und ähnliche Fragen in seinem Buch beantwortet, haben wir ihn gebeten, erst einmal Antworten auf die folgenden Fragen zu geben und uns einen kleinen Einblick hinter die Kulissen seines Schreibens zu gewähren…

 

Lieber Herr Niemeyer, verraten Sie uns, wann Ihr letzter Glücksmoment war und worin er bestand?

Das war, als ich jetzt eben die erste Frage gelesen habe. – Es ist, ich gestehe, mein erstes Interview und ich war sehr neugierig. Auf eine Frage zu stoßen, die ich mir so nicht gestellt hätte und deren Antwort ich also vorher selbst nicht kannte, das war: ein Moment des Glücks.

Sie wundern sich vielleicht über die Frage. Aber wenn das Leben nicht so richtig zu gelingen scheint und man sich psychisch ausgelaugt fühlt, fragt man sich auch unweigerlich, wie man das Glück in sein Leben zurückholen kann. Eckhard von Hirschhausen vertritt ja die Ansicht, dass man Glück lernen kann. Was meinen Sie?

Ich neige zu einem Ja. Vielleicht nicht unbedingt Glück, aber Zufriedenheit. Und: die Voraussetzung dafür, Glück überhaupt empfinden zu können; man kann Unglücklichsein verlernen. Das geht, davon bin ich überzeugt.

In wenigen Tagen erscheint Ihr Buch „Kleiner Psychotherapieführer. Praktischer Wegweiser zur geeigneten Therapie“. Welche Rückmeldungen erhoffen Sie sich?

Ich hoffe, dass der eine oder andere das Buch nützlich findet und dass darin die Informationen zu finden sind, die er oder sie sich davon versprochen hat.
Ich kann nicht hoffen, gar keine Fehler gemacht zu haben; aber ich hoffe, dass ich keine gravierenden Fehler gemacht habe.
Und glücklich wäre ich, wenn mir irgendwann jemand sagt, das Buch habe ihm persönlich geholfen.

Sie haben sich da kein ganz einfaches Thema ausgesucht. Was genau hat Sie zum Schreiben des Buches animiert?

Zum einen war das die Feststellung, wie wenig oftmals sogar Fachleute über andere als die eigene Methode wissen. (Woher sollen dann also Klienten etwas über die Unterschiede zwischen den Methoden wissen?)
Zum anderen war es das Empfinden, wie viel Glück ich hatte, die für mich „richtige“ Methode und die „richtige“ Therapeutin gefunden zu haben. Dieses Glück wünsche ich anderen, die in derselben Lage sind, in der ich damals war, auch.

Ihr Buch verfolgt das anspruchsvolle Ziel, Menschen mit psychischen Problemen auf der Suche nach der geeigneten Therapie zu begleiten und sie zu unterstützen. Trotzdem ist es nicht „bierernst“ geschrieben, sondern eher unterhaltsam, teilweise auch augenzwinkernd. Wie wichtig ist Ihnen Humor – trotz oder vor allem bei psychischen Problemen?

Gerade da! Wissen Sie, Humor ist eine ernsthafte Sache …

Haben Sie auf Ihrem Weg durch den Psychotherapiedschungel auch die eine oder andere lustige „Geschichte“ erlebt?

Ehrlich gesagt: eher viele traurige.
Aber ich habe beglückende Begegnungen gehabt, mit Menschen, deren Bekanntschaft eine Bereicherung für mich ist.

In Ihrem Buch zitieren Sie das indische Sprichwort „Das Leben hat immer Recht“. Was genau bedeutet das für Sie?

Ich habe in meinem Leben oft „gekämpft“, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Zu lernen, dass sich auf diese Weise nicht alles erreichen lässt, ja, dass gerade im zwischenmenschlichen Bereich vieles auf diese Weise gar nicht zu erreichen ist – das hat ebenso eine frustrierende, wie eine entlastende Seite. Ich denke, es ist vor allem diese Einsicht, die ich persönlich mit diesem Spruch verbinde.

Zum Abschluss möchte ich Sie noch bitten, ganz kurz und spontan folgende Sätze zu vervollständigen:

Besonders dankbar bin ich im Moment für…

meine Berufswahl.

Die beste Entscheidung in meinem Leben war…

        geboren zu werden.

Wenn ich die Welt der Psychotherapie nach meinen Vorstellungen ändern könnte, dann würde ich…

        erst mal viele verschiedene Menschen, die teilweise sehr unterschiedliche Vorstellungen zu haben scheinen, an einen Tisch und ins Gespräch bringen wollen.

Die wichtigste Erkenntnis, zu der ich gelangt bin bei dem Versuch, einen Überblick über den Therapiedschungel zu bekommen, ist…

        dass die Ziele verschiedener Methoden, so sehr sie sich in ihrem Vorgehen unterscheiden mögen, einander dann doch wieder sehr nah sind: Es geht um den Menschen.

Vielen Dank für das Interview, Herr Niemeyer!

Ich danke Ihnen.

Resilienz – das Schlimme mit dem Guten heilen

Elisabeth war, als ich sie vor über zehn Jahren in einer Beratungseinrichtung kennenlernte, 61 Jahre alt und befand sich damals am gefühlten Tiefpunkt ihres Lebens. Als Kind misshandelt worden, setzte sich die Gewalt durch ihren Mann in ihrer ersten Ehe fort und Elisabeths Leben zog wie ein schlechter Traum all die Jahre an ihr vorbei. Nachdem ihr Mann nach Jahren der Alkoholabhängigkeit gestorben war, brachen die Wunden der älteren und jüngeren Vergangenheit in ihr auf und der Schmerz schien zunächst größer zu sein als ihre Kraft. Nach einem glücklicherweise erfolglosen Suizidversuch und einem daran anschließenden Klinikaufenthalt begann Elisabeth eine Therapie zu machen und sich nach mehr als sechs Jahrzehnten für sich selbst und das Leben zu öffnen.

Als Elisabeth und ich uns kennenlernten, war ich eine junge Frau von 26 Jahren. Ich weiß noch genau, wie traurig ich lange Zeit darüber gewesen war, keine wirkliche Kindheit und Jugend gehabt zu haben. Dennoch konnte ich mich mit der Vorstellung trösten, auch nach der Aufarbeitung meiner Vergangenheit sehr wahrscheinlich noch den größten Teil meines Lebens vor mir zu haben. Wie aber musste sich jemand fühlen, der wie Elisabeth den größeren Teil seiner Lebenszeit bereits hinter sich hatte und diese Zeit alles andere als glücklich gewesen war?

Ich war sehr überrascht über ihre Reaktion auf meine vorsichtige Frage, ob es nicht vielleicht besser für sie gewesen wäre, wenn all der Schmerz nicht hochgekommen wäre.

„Nein! Im Gegenteil! Ich bin so froh darüber. Nun kann ich endlich anfangen zu leben.“ Mit 61 Jahren anfangen zu leben.

Zwei Jahre später erfüllte sich Elisabeth ihren Lebenstraum. Sie verkaufte alles, was sie besaß und kaufte sich ein kleines Haus an der Nordsee. „Weißt du, in der Stadt hatte ich immer das Gefühl zu ersticken. Hier an der See bekomme ich endlich wieder Luft!“

Einige Zeit darauf bekam ich einen Brief von der Nordsee mit einem Foto von Elisabeth, wie sie vor ihrem neuen Haus stand. Sie war kaum wieder zu erkennen – so sehr strahlte sie.

Nach zwei weiteren Jahren bekam ich wieder Post von ihr. Es war eine Einladung – zu Elisabeths Hochzeit! Auf einer Wattwanderung hatte sie die Liebe ihres Lebens kennengelernt. Mit 64! Ich folgte ihrer Einladung – und kann mich nicht entsinnen, je zuvor eine so schöne und so glückliche Braut gesehen zu haben.

Elisabeths Geschichte hatte mich damals tief berührt und mir großen Mut gemacht, auch an meine eigene Heilung zu glauben.

Jahre später, im Zusammenhang mit den Recherchearbeiten für mein Resilienzbuch, hatte ich Elisabeth befragt. Was war es bei ihr gewesen, das sie wieder zurück ins Leben geholt hatte? Sie erzählte mir, dass sie während des Klinikaufenthalts nach ihrem Suizidversuch immer wieder ein bestimmtes Bild gemalt hatte: von einem Haus am Meer. Eine Ärztin in der Klinik und auch andere Patientinnen hatten sie daraufhin auf ihr Bild angesprochen und immer wenn Elisabeth anfing, von dem Haus am Meer zu erzählen, spürte sie in sich so etwas wie ein Aufglimmen von Hoffnung, ein Gefühl von neuem Lebensmut. In vielen Gesprächen und Übungen mit ihrer späteren Therapeutin begann Elisabeth zu verstehen, dass es an ihr lag, ob sich der Traum vom Haus am Meer erfüllen würde oder nicht. Sie lernte, was es heißt, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und wollte alles loslassen, was sie von „ihrem Haus am Meer“ trennte. Also sah sie ihrer Vergangenheit ins Auge: den Schlägen in ihrer Kindheit, den Übergriffen ihres Onkels und dem Horror ihrer ersten Ehe.

„Das war wirklich eine harte Zeit. Ich habe so viel geweint. Und wenn ich dachte, ich schaffe es nicht, dann habe ich das Bild hervorgeholt – von meinem Haus am Meer. Von meinem neuen Leben. Im Grunde vom Leben überhaupt.“

Ohne sich dessen bewusst zu sein, ist Elisabeth auf ihre Art dem Konzept der Resilienz gefolgt: Sie verband sich mit einer Zukunftsvision, die in ihr ein Gefühl des Friedens und des Glücks auslöste und setzte mithilfe ihrer Therapeutin alles daran, dieses Glück wahr werden und die Vergangenheit loszulassen. Sie war kein Opfer mehr; sie war eine Frau, die ihren Weg ging.

Resilienz zu üben bedeutet nicht nur, unsere Seele zu stärken; es bedeutet gleichzeitig auch, dem Leben entgegenzugehen; dem Leben zu vertrauen lernen. Ganz gleich, wie alt wir sind, woher wir kommen und was wir erlebt haben. Vor dem Leben mitsamt seinen Krisen sind wir alle gleich. Ich glaube ganz fest daran, dass wir lernen können dem Leben zu vertrauen. Dass in jedem von uns sozusagen „ein ganz persönliches Haus am Meer“ schlummert. Dass es immer Hoffnung gibt und dass wir das Schlimme mit dem Guten heilen können.

Elisabeth sagte in dem Zusammenhang zu mir: „Ich bin so froh darüber, dass ich jetzt hier bin. Jeder Tag in meinem neuen Leben kommt mir vor wie ein ganzer Monat des Glücks und jeder Monat zählt für ein ganzes Jahr. Wenn man mich am Ende meines Lebens danach fragen sollte, so kann ich sagen, dass ich in viel stärkerem Maße glücklich in meinem Leben war als ich traurig gewesen bin.“

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Fabienne Berg hat Sprach- und Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt außeruniversitäre Erwachsenenbildung studiert. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Traumabewältigung befasst sie sich vor allem mit den Auswirkungen seelischer Verletzungen sowie mit den Zusammenhängen von Heilung und Selbstfindung. Besonders liegt ihr am Herzen, andere Menschen für ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu sensibilisieren und sie auf ihrem Heilungsweg zu unterstützen und zu stärken.

Bei Junfermann sind ihre Bücher Mut, Kraft und Liebe wünsche ich dir  (2012) und Übungsbuch Resilienz (2014) erschienen.