„Wer moderiert denn heute die Veranstaltung?“

Das ist nicht gerade die beliebteste Frage, wenn mal wieder eine Konferenz oder ein Meeting ansteht. Die meisten Kollegen blicken zu Boden und analysieren die Struktur der Auslegeware – ich eingeschlossen. Keiner reißt sich wirklich darum, die Gesprächsleitung zu übernehmen.

Das ist in den meisten Fällen gar nicht mangelnder Vorbereitung geschuldet, sondern schlicht und einfach der Situation: Eine Gesprächsrunde zu führen, zu schauen, wann ein Themenpunkt abgearbeitet ist und der nächste angesprochen werden kann, beim Thema zu bleiben und es nach Abschweifungen wieder auf den Weg zurückzubringen und unpassende Argumente oder Bemerkungen freundlich aber bestimmt zu entkräften – das erfordert Selbstbewusstsein, Wachheit und Gesprächskompetenz. Es ist ein komisches Gefühl, wenn man redet und plötzlich hören alle schweigend zu. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Noch schlimmer ist es, wenn alle wie versteinert sitzen und kein Signal zurückkommt – kein Nicken, keine Bestätigung. Schnell stellen sich Selbstzweifel ein, und die machen unsicher. Schlimmstenfalls stottert man sich dann irgendwie durchs Programm und sehnt das Ende der Veranstaltung herbei.

An der Uni fiel es mir relativ leicht, Referate zu halten. Ich hatte mich in das Thema eingearbeitet, das Reden vor Publikum machte mir nichts aus und es konnte fröhlich losgehen. Fragen irritierten mich nicht, denn in der Regel kam die Antwort schon noch früher oder später. Eine Gesprächsrunde zu moderieren ist ein anderes Kaliber: Hier kommen Einwände und Fragen, die das Gespräch immer wieder in andere Richtungen führen können. Je nachdem, wie vertraut ich mit einem Thema bin, fällt es mir leichter oder schwerer, Gesprächsrunden zu moderieren. Wenn es beispielsweise um den Relaunch der Junfermann-Website geht, fühle ich mich ungefähr wie eine Viertklässlerin. Von all dem, was technisch zu bedenken ist, verstehe ich mit Glück ein Drittel. Unter diesen Bedingungen eine Sitzung zu einem guten Ergebnis zu bringen, finde ich nicht ganz einfach (zum Glück geht es den Kollegen genauso – und gemeinsam mit den Programmierern werden wir schon was Gutes auf die Beine stellen).

Alexander Myhsok und Anna Jäger haben dem Thema „Moderation“ ein ganzes Buch gewidmet: Moderieren in Gruppen und Teams. Und wie sagt der Klappentext so schön: „Gespräche in Gruppen zu moderieren, ist eine Grundqualifikation, die heute im Beruf und darüber hinaus mehr denn je gefragt ist“. Stimmt. Blöderweise hat man so etwas weder in Ausbildung noch Studium gelernt …

 

Und hier gibt’s das Buch!

Moderieren heißt: die Gruppe in begrenzter Zeit zu einem gemeinsamen, konkreten Ergebnis zu führen und ein Klima und Strukturen zu schaffen, die es den Teilnehmern ermöglichen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen aktiv einzubringen. Das Fundament des Buches sind die Techniken und Konzepte der Transaktionsanalyse. Ganz praktisch lernt man als Leser, wie man ein Gespräch beginnt, wie man Zwischenziele vereinbart, wie man mit Einwänden umgehen kann und den roten Faden nicht verliert. Durch Fragen kann man ein Gespräch geschickt führen, Rollenspiele helfen Unsicherheiten aufzulösen, und auch bei auftretenden Konflikten gibt es Strategien, wie man wieder zur Sache zurückfindet. Besonders interessant finde ich, dass die Autoren auch auf Frauen als Moderatorinnen eingehen, denn das kenne ich aus eigener Erfahrung, wenn viele Männer mit in der Runde sind: Es findet sich immer irgendein Besserwisser, der dem „Mädchen“ mal zeigt, wo es lang geht. Das erzeugt  Gefühle von Unsicherheit bis Wut – aber auch damit kann man umgehen lernen.

Schon hilfreich, so eine „Schatzkiste“ an Tipps und Tricks rund ums Moderieren. Wenn man um die Tools und Möglichkeiten weiß, die man zur Verfügung hat, verändert sich das Grundgefühl und man kann selbstbewusster in die nächste Gruppenrunde gehen.  Andererseits gilt: Die Dosis macht das Gift. Die Authentizität zu opfern, weil man jetzt ein erlerntes Programm abspult, wäre kontraproduktiv. Aber die eine oder andere Strategie in der Hinterhand zu haben, kann nicht schaden. Und eine flotte Replik auf ein Totschlagargument darf man sich auch schon vorher überlegen. Manche Techniken lernt man nur durch Üben (vielleicht auch erst mal zuhause mit dem Partner oder mit einer guten Freundin) – und durch immer wiederkehrende Erfahrung in ganz unterschiedlichen Gruppen. Also: ruhig mal „ICH!“ sagen, wenn die Frage lautet: „Wer moderiert denn heute die Veranstaltung?“

Simone Scheinert

 

 

„Alles, was Sie tun, wirkt sich direkt auf die Gefühlslage Ihres Kunden aus“

Shelle Rose Charvet

Diese Aussage ist eines der Prinzipien von Ursache und Wirkung, die Shelle Rose Charvet in ihrem Buch „Oh nein, schon wieder ein Kunde!“ erläutert. Das zweite Prinzip von Ursache und Wirkung lautet: „Alles, was Sie tun, hat Einfluss darauf, was Ihr Kunde über Ihre Organisation denkt.“ – Ich habe kürzlich beide Prinzipien am eigenen Leib erfahren und meine Gefühlslage hinsichtlich eines bestimmten Unternehmens ist als eher düster einzustufen. Und nun wollen Sie vielleicht wissen, was ich über dieses Unternehmen denke? – Also gut, hier ist meine Geschichte, in der sich auch einige LAB-Profilmuster identifizieren lassen:

 

Am 4. März 2012 landete ich frühmorgens auf dem Flughafen Madrid Barajas. Ich war aus Mexico City gekommen und stellte nun plötzlich fest, dass meine Kamera nicht in meiner Tasche war. Es gab nur eine einzige Erklärung, wo sie sein könnte: Sie musste noch im Flugzeug liegen. Auf der Speicherkarte in der Kamera befanden sich sämtliche Urlaubsfotos – und die wollte ich unbedingt wiederhaben.

Sehr proaktiv gestimmt, mit einer eindeutigen Auf-etwas-zu-Motivation begab ich mich zu einem Informationsschalter „meiner“ Airline und brachte meine Geschichte vor. Ich wollte wissen, was zu tun wäre, um meine Kamera wieder in Besitz zu nehmen. Die Mitarbeiterin führte ein kurzes Telefonat, bat mich dann um eine Beschreibung des verlorenen Gegenstandes und um meine Kontaktdaten. Sie erklärte mir dann Folgendes: Die Maschine müsse erst geputzt und durchgecheckt sein. Erst dann, so etwa gegen 9:30 Uhr, könne man Aussagen über Fundsachen machen. Da ich bereits um 9:55 Uhr nach Frankfurt weiterfliegen sollte, könnte ich zu einem anderen Informationsschalter in der Nähe meines Gates gehen. Ich würde dann zumindest eine Auskunft erhalten, ob die Kamera gefunden worden sei. Falls ja, sollte ich mich in Frankfurt bei der Airline melden und alles Weitere klären. Dieses prozedurale Muster – Schritt für Schritt wurde mir erklärt, was zu tun sei – passte vollkommen für mich und so begab ich mich einigermaßen beruhigt zu meinem Gate.

 

Ende gut – alles gut?
Sehr positiv gestimmt begab ich mich ca. 40 Minuten vor meinem Weiterflug nach Frankfurt zum gate-nahen Informations-Schalter. Auch die Mitarbeiterin dort hörte sich meine Geschichte an, telefoniert kurz und teilte mir mit: „Sie wurde gefunden.“ Freude wollte sich schon in mir ausbreiten, aber dann fragte ich nach: „Und wie bekomme ich nun die Kamera?“ Die sei in einem Fundbüro bei den Gepäckbändern; der Weg dorthin dauere etwa 10 Minuten. Auf meinen Einwand, dass das wohl etwas knapp sei, antwortete die freundliche Dame an der Information nur: „10 Minuten hin, 10 Minuten zurück – das ist doch wohl zu schaffen!“ – Schlagartig fühlte ich mich gar nicht mehr gut verstanden geschweige denn gut behandelt. Ich war überhaupt nicht external eingestellt, wollte mir eigentlich nicht von jemand anders sagen lassen, was ich wie schaffen könnte. Aber jede weitere Diskussion hätte Zeit gekostet – und so machte ich mich auf den Weg …

 

„Alles, was Sie tun, hat Einfluss darauf, was Ihr Kunde über Ihre Organisation denkt“
Unterwegs musste ich feststellen, dass ich die Wahl hatte, meinen Flug zu schaffen oder meine Kamera zu holen – dabei wollte ich in diesem Moment gar keine Optionen. Ich entschied mich für den Flug und ging in Frankfurt erneut zu einer Info der Airline. Wieder erzählte ich meine Geschichte und wieder musste ich meine Kontaktdaten hinterlassen. Man würde die Kamera nach Frankfurt holen und sich dann bei mir melden, hieß es schließlich.

Ich fühlte mich ein wenig abgefertigt, war aber durch die lange Reise und Schlafmangel so mürbe, dass ich mir diese Behandlung in dem Moment gefallen ließ. Doch als ich nach 14 Tagen nichts über den Verbleib meiner Kamera gehört hatte, musste ich wohl oder übel wieder an die Airline ran. Doch an wen? Und wo mich melden? – Ich hatte überall Daten hinterlassen, aber mir hatte man keine Anlaufstelle, keinen Ansprechpartner genannt. Ich telefonierte mich also durch zahllose Schleifen einer Servicenummer zu einem echten Menschen durch. Und der erzählte mir, dass Fundsachen von Madrid nicht an andere Flughäfen geschickt würden; das täte man lediglich mit fehlgeleitetem Gepäck.

 

Labyrinthe in der Servicewüste
Ich bekam eine Telefonnummer für das Fundbüro – und erfuhr über die Bandansage, dass ich montags bis freitags zwischen 10:00 und 12:00 Uhr jemanden erreichen könnte. Ich war inzwischen so weit, dass ich in jede Tischkante hätte beißen können … Laut Shelle Rose Charvet lautet die kanadische Kundenphilosophie: „Der Kunde geht mir auf die Nerven.“ Dreimal dürfen Sie raten, wie die spanische Kundenphilosophie lauten könnte… Als ich dann – man sollte es nicht glauben – schließlich doch einen Kontakt herstellen konnte, erfuhr ich: Fundsachen können montags bis freitags von 9:30 bis 13:00 Uhr abgeholt werden. Wenn man nicht persönlich vorbeikommt, muss die abholende Person eine Passkopie und eine schriftliche Vollmacht des Fundsachen-Besitzers vorlegen.

Habe ich meine Kamera wiederbekommen? Ja. Das verdanke ich aber nicht dem kundenfreundlichen Verhalten einer gewissen Airline, sondern der Tatsache, dass ich einigermaßen gut vernetzt bin und es nette und hilfsbereite Menschen gibt. Natürlich war alles ursprünglich mein Fehler: Ich hatte die Kamera im Flugzeug vergessen. Aber musste man mich deshalb in die Irre schicken und mir am Ende noch Märchen erzählen („Wir holen Ihre Kamera nach Frankfurt …“)? In ihrem Buch „Oh nein, schon wieder ein Kunde!“ fordert Shelle Rose Charvet, dass Unternehmen Vorgehensweisen für Ausnahmesituationen entwickeln müssen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen wissen, was sie tun können, wenn mal etwas nicht nach Plan läuft und Standardprozeduren nicht greifen. Schön und gut. Was aber bitteschön soll ich als Kundin tun, wenn ein Unternehmen in bestimmten Fragen nicht mal über eine Standardprozedur verfügt?

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Die LAB-Profile wurden ursprünglich von Rodger Bailey entwickelt und stammen aus dem Neurolinguistischen Programmieren (NLP). Sie sind ein Werkzeug, mit dessen Hilfe Sie erfassen können, wodurch eine Einzelperson oder eine Personengruppe motiviert wird, auch wenn der Person (oder der Gruppe) dies selbst nicht unbedingt bewusst sein muss. Denn gerade die zumeist unbewussten Motive haben einen großen Einfluss auf jeden Denk- und Entscheidungsprozess.

 

Für alle, die es noch etwas drastischer lieben – hier ein Song über schlechte Behandlung durch eine Airline: United Breaks Guitars

Hier geht es zum Buch von Shelle Rose Charvet.

 

E-Books bei Amazon

Anfang April hat unser E-Book-Programm nun auch die letzte Hürde genommen und ist auf der einzigen großen Plattform gelandet, die uns noch fehlte – die 36 aktuell lieferbaren E-Books können jetzt auch als Kindle-Edition bei Amazon gekauft werden.

Langwierig und zäh waren die Vertragsverhandlungen (was weniger an unterschiedlichen Vorstellungen bezüglich Konditionen lag, sondern mehr an der, sagen wir: eingeschränkten Manövrierfähigkeit des Tankers Amazon), fast noch länger dauerte es, den technischen Voraussetzungen Genüge zu leisten. Die proprietären Gepflogenheiten im E-Book-Geschäft, bei dem zumindest die großen Mitspieler in unzeitgemäßer Weise darauf bedacht sind, die Leser mit unvereinbaren Formaten an ihre jeweiligen Geräte zu binden, ist nicht nur für die Kunden ärgerlich, sondern treibt auch die Verlage in den Wahnsinn: jeder Händler besteht auf seinem eigenen Format, seiner eigenen Art der Anlieferung und Benennung der Masterdateien etc. Man darf gespannt sein, wie lange es dauert, bis die Bedürfnisse der Leser ein Ende dieser Praxis erzwingen. Die gegenwärtige Entwicklung in den USA jedenfalls deutet eher auf eine Verhärtung der Fronten zwischen Amazon und Apple hin (mehr dazu hier).

Trotz allem sind wir glücklich, unseren Lesern nun auch die Kindle-Versionen unserer E-Books anbieten zu können. Amazon ist einer der wichtigsten Partner für E-Books und wird das auch bleiben, zumal das Lesen auf dem Kindle nach wie vor zu den angenehmsten Erfahrungen gehört, die man mit E-Book-Readern machen kann. Das Unternehmen verkauft seit kurzer Zeit nun auch die Touchscreen-Versionen in Deutschland und es wird wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis auch die unter der Bezeichnung „Kindle fire“ bisher nur in den USA erhältlichen Farbdisplays nach Europa kommen. Und obgleich für Junfermann als psychologischer Fachverlag die Downloadzahlen der E-Books gegenwärtig noch eine quantité négligeable darstellen, sind wir froh und stolz, dass es uns gelungen ist, den Anschluss an diesen Teil der Entwicklung der Buchbranche zu halten – es lässt einen gelassener in die Zukunft schauen.

Leipziger Buchmesse – eine Nachlese

Die Frühjahrsmesse in Leipzig hat zweifellos ihre Vorteile – sympathischer Ort, überschaubares Gelände, kurze Wege, keine Verlagsstände, die eher Trutzburgen als Ausstellungsflächen ähneln, und vor allem natürlich die Vielzahl von Veranstaltungen und Lesungen in der Stadt und auf dem Messegelände. Eine Messe für die Leserinnen und Leser – und eine Messe für Publikumsverlage. Für Junfermann als Verlag für das psychologische Fachbuch also eher weniger relevant, dennoch kann es nicht schaden, von Zeit zu Zeit selbst vor Ort zu überprüfen, ob sich ein eigener Verlagsstand und die damit verbundene Präsenz des Fachbuchprogramms nicht doch lohnen könnten. Da eine Messe zudem stets eine willkommene Gelegenheit zum Austausch mit Kollegen, Dienstleistern und anderen Partnern bietet, erschien mir eine Reise nach Leipzig am Freitag und Samstag als gut investierte Zeit.

Wenn man einige Jahre nicht zugegen war, fällt zuallererst die unterdurchschnittliche Auslastung der Ausstellungsflächen auf. Die Kinder- und Jugendbuchhalle ist mit Ausstellern bis unters Dach vollgepfropft, ansonsten finden sich aber in allen Hallen gewaltige Flächen, die frei stehen, gastronomisch oder anderweitig buchfremd genutzt werden. Dem Besucherzustrom tut dies offenbar keinen Abbruch, doch es sind deutlich weniger Verlage und Bücher zu sehen als bei meinem letzten Besuch vor vier Jahren. Nach wie vor beeindruckend ist, dass an jeder Ecke und quasi durchgehend Autoren aus ihren Büchern lesen, über sie sprechen, Interviews geben, sich mit Lesern austauschen. Dementsprechend zufrieden ist der Eindruck, den die Kollegen aus den Belletristik- und Publikumsverlagen vermitteln. Die Fachverlage jedoch sind zum allergrößten Teil lieblos platziert und ihre Stände schlecht besucht. Die Entscheidung, das für einen solchen Messeauftritt einzusetzende Geld lieber an anderen Stellen zu investieren, scheint sich als sinnvoll zu erweisen.

Dies umso mehr, da sich eine einstmalige Kuriosität im Laufe der Jahre zum dominanten Faktor dieser Messe entwickelt hat – die Rede ist von den zahllosen Cosplayern, jenen fantasievoll verkleideten Jugendlichen, die ihre Leidenschaft für Manga-Comics ausstellen. Waren diese vor Jahren noch eher ein interessanter Farbtupfer im Business-Grau des Messebetriebs, so dominieren sie mittlerweile die Messe nicht nur am Samstag, sondern auch an den übrigen Tagen. Tausende ins Leben getretene Manga-Figuren laufen durch die Messehallen. Dagegen ist nichts einzuwenden, zumal die jungen Menschen ja wirklich nett sind:

Dennoch stellt sich angesichts der zahlenmäßigen Übermacht der Cosplayer die Frage, welche Art von Medien in einem solchen Umfeld angemessen präsentiert werden können. Junfermann zumindest würde ja auch nicht auf die Idee kommen, etwa auf der Spielwarenmesse in Nürnberg auszustellen. Und so werden wir wohl auch Leipzig in den nächsten Jahren allenfalls zu touristischen Zwecken aufsuchen.

ADHS – eine oft nicht zutreffende Diagnose

Anfang März lese ich in der Tageszeitung: Viele Kinder im Grundschulalter erhalten die Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)“ und die entsprechenden Medikamente – in Wirklichkeit sind sie jedoch nur noch nicht reif für die Schule.

„Ein Hammer!“, denke ich. Wer aber behauptet das und auf welcher Grundlage? Wissenschaftler der University of British Columbia in Vancouver (Kanada) haben Ergebnisse einer breitangelegten Studie vorgelegt. Untersucht wurden fast 1 Million Kinder im Alter von 6-12 Jahren über einen Zeitraum von 11 Jahren. Als sehr auffällig erwies sich, dass besonders oft Kinder die Diagnose ADHS erhielten, die erst kurz vor dem Einschulungsstichtag geboren wurden. In ihren Klassen waren sie also die jüngsten Schüler – und zeigten überdurchschnittlich häufig ein „unangepasstes Verhalten“.

Unreifer als der Rest der Klasse bzw. noch nicht schulreif: Zu diesem Schluss kommen die Wissenschaftler. Und Lehrer, Ärzte und Eltern? – Sogenannten „Verhaltensauffälligkeiten“ wird immer öfter mit Pillen begegnet. Unter der Headline „Psychopillen statt Pausenbrot“ veröffentlichte der Spiegel im Jahr 2010 eine Grafik, aus der hervorgeht, dass deutsche Apotheken im Jahr 1993 insgesamt 34 kg des Wirkstoffes Methylphenidat (hauptsächlich unter dem Namen „Ritalin bekannt) erwarben; 2009 waren es bereits 1735 kg. – Wer Spaß daran hat, kann sich die Steigerungsrate ausrechnen … Mir reichen die nackten Zahlen, sie lassen mich gruseln!

 

Das Märchen vom ADHS-Kind? Vor zehn Jahren, also Anfang 2002, brachten wir bei Junfermann das Buch „Das Märchen vom ADHS-Kind“ von Thomas Armstrong heraus. Der Autor vertritt die provokante These: „ADHS gibt es nicht“. Er untersucht diverse Mythen im Zusammenhang mit der „Modediagnose“ ADHS und zeigt u.a., welches Interesse die Pharmaindustrie an ihr haben könnte. Gleichzeitig beleuchtet er die Phänomene Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität von einer ganz anderen Seite: Müssen wir sie zwangsläufig als Defizite ansehen? Könnte es sich nicht auch um Fähigkeiten handeln? Ergänzend zu diesem eher positiven Bild stellt Thomas Armstrong 50 nicht-medikamentöse Strategien vor, um auf ein als schwierig empfundenes kindliches Verhalten einzuwirken.

Ich beschäftigte mich seinerzeit etwas intensiver mit dem Thema und fand heraus, dass es damals (wie heute) keine wirklich gesicherte Form der ADHS-Diagnose gab. Gleichwohl wurde zunehmend ADHS – hauptsächlich bei Schulkindern – angenommen. Ich las über die vermeintliche „Volksseuche“ und stellte mit Erschrecken fest, wie leichtfertig anscheinend „Psychopillen“ verabreicht wurden. Gleichzeitig lernte ich aber auch die andere Seite kennen: betroffene Eltern, die alles andere als leichtfertig Medikamente verabreichten. Sie wussten häufig keinen anderen Ausweg, das Leben mit vollkommen überdreht wirkenden Kindern in den Griff zu bekommen und vor allem zu gewährleisten, dass die schulische Situation nicht völlig aus dem Ruder lief.

 

Was bewirkt die Diagnose ADHS? Wenn ich mir vorstelle, dass der oben erwähnten Studie zufolge unzählige Kinder grundlos mit Medikamenten vollgestopft wurden, dass ihnen – unberechtigterweise – der Stempel „ADHS“ verpasst wurde, dann kann etwas fundamental nicht in Ordnung sein. Nicht nur die zahlreichen Nebenwirkungen der verabreichten Medikamente sind bedenklich: Appetit-, Schlaf- und Wachstumsstörungen sowie ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch die Diagnose selbst wirkt sich negativ für die Betroffenen aus. Möglicherweise verhalten sich Lehrer, Eltern und Erzieher ihnen gegenüber anders, weshalb psychische Folgen, Ängste oder Probleme mit dem Selbstwertgefühl nicht auszuschließen sind.

„Ich bin der Auffassung, dass Kinder, die unter Aufmerksamkeits- und Verhaltensproblemen leiden, in ihrem Kern völlig normale und gesunde Menschen sind – dass sie nicht unter einer medizinischen Störung leiden. Ich bin nicht der Meinung, dass diesen Kindern durch eine medizinische Diagnose, ein entsprechendes Etikett und eine sorgsam ausgewählte medizinische Behandlung am besten geholfen werden kann, sondern indem man auf jene nährende, anregende und ermutigende Weise mit ihnen umgeht, die allen Kindern zugutekommt.“ – Dieses leidenschaftliche Plädoyer stammt von Thomas Armstrong. Und heute wie vor 10 Jahren empfinde ich diese Haltung als sympathisch.

Heike Carstensen

 

Einen Bericht über die Ergebnisse der kanadischen Studie kann man hier nachlesen.

Die Grafik über den Methylphenidat-Absatz findet sich hier.

Und hier gibt es Informationen zum Buch von Thomas Armstrong.

Die erste iPhone App bei Junfermann

Al Weckert ist ein begeisterungsfähiger Autor, der die um neue Ideen verlegen ist. Auf ihn geht die jüngste Entwicklung in unserem Programmsegment zurück. Als wir uns im letzten Sommer in Berlin trafen, erwähnte er eher en passant, dass die Inhalte der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) doch prächtig dafür geeignet seien, als App für das iPhone aufbereitet zu werden. Eine Art Tool, um sich selbst über seine Gefühle und die damit verbundenen Bedürfnisse zu befragen. Mir leuchtete das sofort ein – der Mehrwert gegenüber dem herkömmlichen Buch ist evident: Man kann es in jeder Situation sofort und ungefiltert einsetzen und man kann die Ergebnisse archivieren, sich wiederholt ansehen und über einen längeren Zeitraum hinweg sogar Häufigkeitswerte bestimmen lassen. Unsicher war ich mir allerdings, ob Junfermann der richtige Anbieter für solch ein Produkt wäre; schließlich sind wir immer noch und zuallererst ein Verlag und kein Programmierschuppen. Andererseits – wenn es zutrifft, dass Verlage in (wenngleich ferner) Zukunft eher Inhalte als Bücher anbieten, warum dann nicht einmal einen Testlauf in diesem neuen Feld versuchen, mit einem Produkt, dessen Idee überzeugt?

Wir machten uns also auf die Suche nach Partnern, die die Technik und das Design solcher Produkte beherrschen – und nach einem Angebot, das das wirtschaftliche Wagnis in verantwortbaren Grenzen hielt. Die Spannweite bei den Preisvorstellungen der unterschiedlichen Anbieter war beeindruckend. Schön ist die kurze Entwicklungszeit eines solchen Produkts. Nachdem Al Weckert das Konzept und die Inhalte mit uns abgestimmt hatte und wir die technische und gestalterische Betreuung mit unserem Schwesterunternehmen Junfermann Druck & Service sowie der Agentur Rheingans in Bielefeld in guten Händen wussten, begannen wir Anfang Dezember ernsthaft mit der Arbeit – Ende Februar war die App marktreif.

Herzstück der App ist eine intuitiv zu bedienende Datenbank, mit der sich die Nutzer in kürzester Zeit auf Basis der GFK Klarheit über ihre aktuellen Gefühle, Bedürfnisse und ihr Körperbefinden verschaffen können. Das Training der Selbstempathie, des einfühlsamen Zuhörens und des achtsamen Sprechens gehört zu den wesentlichen Elementen der GFK. Beliebte Bestandteile der GFK-Übungspraxis – z.B. das Empathie-Tagebuch oder die Übung „Celebration of Life“ – sind dadurch mit dem Mehrwert einer intelligenten Datenbank für den Alltagsgebrauch verfügbar.

Und kaufen kann man sie natürlich auch: http://itunes.apple.com/de/app/empathienavigator/id501063329

 

Raus aus dem Netz der Angst

Mit wingwave gegen die Spinnenphobie

Ich bin allein zu Hause. Das heißt: nicht ganz allein, denn in unserem Hausflur sitzen zwei ansehnliche Exemplare der Gattung Tegenaria atrica, auch Hauswinkelspinne genannt, an der Wand. Mein Mann ist vor ein paar Minuten zur Arbeit gefahren, unsere Nachbarn sind auch nicht zuhause und ich habe mich im Erdgeschoss verrammelt.

Hingehen und die Achtbeiner nach draußen befördern? Unmöglich. Ein beherzter Schlag mit dem Hauspuschen? Geht auch nicht: Ich müsste viel zu nahe ran, außerdem  könnte ich die Spinne verfehlen. Und überhaupt: Ich möchte keine Tiere töten. Ein fieses Gefühl: Ich empfinde Abscheu, Anspannung und bin ständig auf der Hut. Die Spinne könnte plötzlich weg sein und dann ganz woanders auftauchen – im Schlafzimmer zum Beispiel, oder in der Dusche. Und dann? Würde ich mich ausgeliefert fühlen und vollkommen kopflos reagieren. Wenn sie auf mich zuliefe, mich berührte …

Ja, es geht um eine Spinne. Ja, die tut nix. Sie ist nicht einmal giftig. Wahrscheinlich hat sie mehr Angst vor mir als ich vor ihr. Weiß ich alles. Nur hilft mir das jetzt leider gar nicht weiter. Die Phobie lässt sich eben nicht mit Vernunft beschwichtigen. Ich entscheide mich, meine Mutter anzurufen, sie wohnt nicht weit entfernt und kann mich von den ungeliebten Hausgästen befreien. Und ich entscheide mich, endlich etwas zu unternehmen, denn diese Spinnenphobie wird mir wirklich lästig. Alltägliche Dinge sind davon geprägt: Inzwischen räume ich nur noch unter Anspannung den Gartenschuppen auf, gehe mit ständigem Spinnen-Scan-Blick in den Keller, in die Garage.

Auf dem Junfermann-Kongress Mitte Februar spreche ich Cora Besser-Siegmund an. Wir kennen uns schon länger und ich weiß, dass sie mit wingwave schon viele Menschen von ihren Ängsten befreit hat – von Auftrittsangst, Flugangst zum Beispiel. Vielleicht kann das auch bei Spinnenphobie helfen … „Wollen wir das wegwinken?“ fragt Cora Besser-Siegmund, und ich bin erstaunt: Das geht hier sofort auf dem Kongress? Cool, denke ich, ich habe nichts zu verlieren. Cora prüft zuerst meine Muskelspannung mit dem O-Ring-Test. Ich drücke Daumen und Zeigefinger fest zusammen. Dann konfrontiert sie mich mit bestimmten Aussagen. Lassen sie mich „kalt“, schließt der Ring fest, sie zieht kräftig an meinen Fingern, kann den Ring aber nicht öffnen. Lösen sie Stress in mir aus, kann ich gar nichts dagegen tun, dass meine Muskelspannung nachlässt: Der Ring öffnet sich. Ich bin bereit für meine erste wingwave-Sitzung.

„Dicke, fette, schwarze Spinne …“ probiert Cora einen Trigger. Der Ring schließt fest. „Aha, die Spinne ist es also gar nicht“, sagt Cora. Sie bittet mich, das Gefühl zu beschreiben, das mich beim Anblick einer Spinne durchströmt. Es ist Abscheu, legt sich wie ein Ring um meine Brust, zieht im Magen… Durch gezieltes Fragen und Testen der Muskelspannung kommen wir an ein grundlegendes Gefühl, das mich stets dann befällt, wenn ich mich mit etwas oder jemand Unangenehmem in einem Raum aufhalte und nicht weg kann oder darf. Woher kommt das Gefühl?

Wir gehen weiter zurück in meiner Biographie, auf der Suche nach dem Auslöser: „Es ist ein Ereignis aus der Kindheit.“ – Wenig Muskelspannung, Ring öffnet sich: Treffer. „Im Privatleben?“ – Nein. „In der Schule?“ – Ja. Und dann erinnere ich mich an ein Erlebnis, das ich dreißig Jahre lang erfolgreich verdrängt habe: Ich bin neun Jahre alt und wir übernachten in der Jugendherberge. Es ist für mich ganz ungewohnt und beängstigend, mit so vielen Kindern in einem Raum zu schlafen. Ein paar Mädchen erzählen schmutzige Witze und sprechen über Sex. Das macht mir Angst, so was kenne ich nicht… Ich will nach Hause – und ich kann nicht. Ich kann nicht mitten in der Nacht einfach zurück nach Hause zu meinen Eltern. Also halte ich aus und liege ganz still in meinem Bett.

Das ist der Punkt, an dem Cora ihr Wink-Set beginnt – ich folge ihrer Hand mit meinen Augen, während sie noch einmal mein unangenehmes Gefühl zusammenfasst. Danach fühle ich mich seltsam leicht, und mir wird sehr warm. In mir ist Chaos: ich fühle mich berührt, habe Mitleid mit meinem neunjährigen Ich und bin trotzdem irgendwie euphorisch. Ob es das nun war? Wenn ich mir vorstelle, dass ich in den Keller gehe und mir dort eine Spinne begegnet, kribbelt es immer noch in der Magengegend. Ein Rest von Skepsis bleibt…

Am Samstag  treffe ich mich noch einmal mit Cora Besser-Siegmund. Sie prüft, ob der aktuelle emotionale Status noch stabil ist. Es sieht gut aus, trotzdem bekomme ich noch eine Ressource mit auf den Weg. Ich soll an mich an eine Situation erinnern, in der ich stark war, die ich besonders ruhig und souverän gemeistert habe. Das kann ich – und Cora verankert die Ressource „Ruhe“. Immer, wenn ich eine bestimmte Handbewegung mache, soll sich nun meine Aufregung legen und das Gefühl der Ruhe einkehren. Cora verspricht keine Wunder. Ich würde nicht gleich morgen Deutschlands größter Spinnenfan werden. Das möchte ich auch nicht. Was ich erreichen will ist, mit der Situation „Spinne und ich allein zu Haus“ klarzukommen, mir selbst zu helfen und nicht mehr in sinnlose Panik zu verfallen.

Sonntagabend – ich bin müde vom Kongresswochenende und voller neuer Eindrücke. Ganz in Gedanken räume ich noch ein paar Teller in den Küchenschrank. Und links daneben, an der Wand … !!  Die Spinne ist nah an mir dran, ungefähr 15 Zentimeter, und sie bewegt sich bedächtig. Ich bleibe ruhig stehen, und überlege, wie ich jetzt handeln soll. Ich will es schaffen, ich will diese Spinne einfangen! Erst mal warten, bis das Tier auf dem Fußboden ist, dann ein Glas drüber stülpen. Nee, Glas bringt mich zu dicht ran, besser ein Küchensieb, mit Stiel. Ich beobachte die Spinne. Endlich ist sie auf dem Boden angekommen. Ich kann das Sieb über das Tier legen und es durch die Maschen beobachten. Ich bin angespannt, muss durchatmen, meine Ressource abrufen … Aber ich bin NICHT panisch. Ich bin nicht aufgelöst zu meinem Mann gerannt, und ich habe dabei nicht alle Türen zwischen mir und der Spinne fest verriegelt.

Ich schiebe eine dünne Pappe unter das Sieb, die Spinne bewegt sich – das ist unangenehm, aber ich kann es aushalten und Sieb, Pappe und Achtbeiner mit einem beherzten Wurf zur Terrassentür hinausbefördern.

Mein erster eigener Fang 🙂

 

Danach fließen die Tränen. Erleichterung darüber, dass eine über 30 Jahre alte Phobie überwunden ist. Es erscheint mir wie ein kleines Wunder. Mir wird klar, dass meine Schwellenangst vor einer Konfrontationstherapie als der landläufig üblichen Vorgehensweise gegen Phobien größer war als der Leidensdruck. Ich fühle Stolz. Ich habe es geschafft. So fühlt sich ein Durchbruch an! Meine Familie freut sich mit mir.

Natürlich können auch bei wingwave verstörende Dinge aus den Tiefen der Seele ans Tageslicht kommen, die therapeutischer Aufarbeitung bedürfen. Mein Auslöser war vergleichsweise harmlos. Auch die Wochen danach zeigen: Der neue Zustand hält sich, er verbessert sich sogar noch mit jeder neuen Spinne, die ich einfange. Das Gefühl von Abscheu hat sich neutralisiert, Gelassenheit stellt sich ein, ich schaue nicht mehr angespannt in alle Zimmerecken. Ja, fast freue ich mich schon, wenn wieder ein hübsches Exemplar an der Wand auftaucht und ich meine neue Kompetenz als Spinnenfängerin unter Beweis stellen kann…

Bücher zum Thema wingwave gibt’s hier: http://www.junfermann.de/suchergebniss.php?ojid=118ffd3c1c2539f3e11b4a2da4c60d12&keywords=wingwave&x=0&y=0