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Ein Stück weiter in Richtung „widerstandsfähig“ kommen

Mit der Sprungkraft eines Kängurus

Von Melanie Hausler

 „Wie geht’s dir?“, frage ich meinen Kollegen bei einem zufälligen Treffen auf dem Flur. Er antwortet: „Gestresst, wie immer“, zwinkert mir zu und eilt schnellen Schrittes, die Kaffeetasse in der Hand, davon.

So oder so ähnlich laufen täglich unzählige Gespräche ab. Teilweise schwingt zwar noch ein gewisser Humor mit, in der Aussage ist es aber doch bedenklich. Gestresst zu sein ist normal geworden. „Stress“ hat sich als gesellschaftlich äußerst akzeptierter Zustand etabliert. Gestresste Menschen werden häufig als wichtig, erfolgreich oder zumindest sehr fleißig angesehen. In Smalltalks mit Kollegen, Nachbarn und Freunden dreht es sich meist um aktuelle Stressoren, und selbst nach Feierabend fällt es immer mehr Menschen schwer, herunterzufahren und zu entspannen.

Wir alle kennen das Gefühl des Gestresstseins. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie müssten in fünf Minuten unvorbereitet einen Vortrag halten. Wie würden Sie reagieren? Vermutlich würden Ihre Hände kühl und schweißig, das Herz schlüge schneller, die Atmung wäre flacher und beschleunigt und Sie nähmen eine erhöhte Anspannung der Muskulatur wahr. Kein sehr angenehmer Zustand!

Bleiben diese Stresszeiten zeitlich begrenzt, schaden sie uns nicht. Problematisch wird es aber vor allem dann, wenn wir uns ständig gestresst fühlen und zwischen den Stressereignissen kaum Zeit finden, unser System wieder in einen Entspannungszustand zu bringen. Zudem häufen sich nicht selten Stressoren aus verschiedenen Lebensbereichen: im Beruf, in der Beziehung, mit dem Vermieter … Je mehr Stressoren wir gleichzeitig erleben und je weniger wir uns dazwischen wieder entspannen und uns etwas Gutes tun, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit für Burnout, Depressionen, Ängste, Schlafstörungen und Co.

Als Wissenschaftlerin interessiert mich die Frage, wie sich individuelle Stressoren auf der einen und positive Erlebnisse auf der anderen Seite auf die psychische und körperliche Gesundheit sowie das Wohlbefinden auswirken. Eine Kernaussage, die sich auf Basis der wissenschaftlichen Forschung treffen lässt, ist diese:

Durch gezielte Förderung des Wohlbefindens und effektive Stressbewältigung kann sowohl psychischen als auch körperlichen Erkrankungen entgegengewirkt werden.

 

Die Logik unserer Psyche

In meiner psychologischen Praxis begegnen mir die verschiedensten Menschen mit ihren Geschichten. Sie geben mir einen unglaublich spannenden Eindruck in die komplexe Welt der Psychologie. Und jedes Mal aufs Neue fasziniert es mich zu erkennen, welche Logik hinter der individuellen Symptomatik steckt. Denn eins ist gewiss: Es ist immer psycho-logisch. All unsere Gedanken, unsere Gefühle und Verhaltensweisen haben eine Entstehungsgeschichte, die sinnvolle Erklärungen dafür bietet, warum sie sich entwickelt haben. Und nicht nur das. Auch in der aktuellen Lebenssituation gibt es immer Faktoren, die der Symptomatik Sinn verleihen bzw. sie aus gewissen Gründen aufrechterhalten. Ich möchte Ihnen hierfür ein Beispiel geben:

Die 22-jährige Sarah B. berichtet über Angstattacken, die sie ohne erkennbare Auslöser regelmäßig ereilen. Wenn sie die Ängste erlebt, wird ihr schwindelig, ihr Herz klopft rasend schnell, ihr Mund wird trocken und in ihrem Kopf kreisen Gedanken um die Angst, verrückt zu werden. Sie erkennt zunächst keinen erkennbaren Auslöser und erst recht keinen Sinn in ihrer Symptomatik. Nach einigen Sitzungen haben wir folgende Erkenntnisse gewonnen:

  1. Die auslösende Lebenssituation stellt sich wie folgt dar. Sarah B. hat einen Umzug in eine neue Stadt hinter sich, wo sie ein BWL-Studium begonnen hat. Sie erlebt das Studium als sehr anspruchsvoll und hat gleich zu Beginn eine Prüfung nicht geschafft. Sie wohnt in einer Ein-Zimmer-Wohnung und fühlt sich dort recht einsam. Die Panikattacken treten gehäuft vor dem Einschlafen auf, wenn sie über ihre Situation nachgrübelt.
  2. Auf welche Person treffen nun diese Lebensumstände? Sarah B. beschreibt sich als sehr leistungsorientiert. Ihre Eltern haben ihr immer klar vermittelt, dass sie gute Leistungen von ihr erwarten. Wenn sie gute Noten nach Hause brachte, wurde das gemeinsam gefeiert und sie erfuhr Anerkennung und Zuneigung. Im Falle von schlechten Noten entfiel der positive Austausch und stattdessen saß sie alleine in ihrem Zimmer, um zu lernen. Als sie nun in eine neue Stadt zog, reduzierte sich der Kontakt zu den Eltern und ihren Freunden. Sie fuhr zwar regelmäßig nach Hause, aber dennoch war ihr Bedürfnis nach Austausch und Nähe nicht ausreichend erfüllt. Als sie dann auch noch eine schlechte Note erzielte, ging ihr System in Alarmbereitschaft und versetzte ihren Körper in Anspannung. Nun würde sie in nächster Zeit alleine in ihrer Wohnung verbringen müssen, um zu lernen, und die Wochenendbesuche wären nicht mehr so häufig möglich. Darüber hinaus hatte ihre Mutter Sorgen geäußert, ob sie mit dem Studium überfordert sei.
  3. Die Reaktion ihres Systems war eine Steigerung der inneren Anspannung. Als dann eine weitere Prüfung ins Haus stand, überschritt die Anspannung ihre Angstschwelle und sie erlebte ihre erste Panikattacke. Fortan beobachtete sie sich sehr genau und verfiel bei dem geringsten Anzeichen von Unwohlsein (z. B. Übelkeit, Schwindel oder Herzklopfen) in Sorge darüber, ob etwas mit ihr nicht stimme und es zu einer neuen Panikattacke kommen könne – was dann auch zunehmend häufiger der Fall war.
  4. Die Konsequenzen waren nicht nur rein negativ, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten würde. Zwar fühlte sie sich langfristig dadurch massiv in Alltag und Studium eingeschränkt, doch gab es kurzfristig auch positive Konsequenzen. So rief ihre Mutter fast täglich an, um sich nach dem Befinden der Tochter zu erkundigen. Auch war sie nach dem gehäuften Auftreten einiger Panikattacken zur Erholung für ein paar Tage nach Hause gefahren. Dort hatte sie sehr viel Zuneigung und Zuspruch erlebt. Ihre Eltern hatten ihr klargemacht, dass sie wichtiger sei als positive Leistungen und dass sie vor allem auf sich schauen solle. Damit nahmen sie ihr eine große Last von den Schultern, machten aber ihre Anerkennung vom Gesundheitszustand der Tochter abhängig. Wenn nun die Symptomatik verschwinden würde – was dann? Vermutlich wären die Ansprüche – sowohl der Eltern, als auch die eigenen – wieder deutlich höher.

Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, das veranschaulicht, warum sich Symptome entwickeln und auch, warum sie aufrechterhalten werden. Bei Depressionen, Burnout, Schlafstörungen und Co. ist es nicht anders. Jede Person hat eine andere Art und Weise, eine für sie bestmögliche Lösung zu finden, um mit der aktuellen Lebenssituation zurechtzukommen. Dabei ist es sehr wichtig, niemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Weder hat Frau B. ihre Symptomatik „absichtlich“ entstehen lassen, noch sind die Eltern schuld an der Misere. Die Psyche ist viel komplexer.

Viel relevanter ist die Frage, wie sich mit solch komplexen Situationen gut umgehen lässt. Hierfür sind zwei Ansatzpunkte zentral:

  1. Negative Faktoren, Symptome und Unzufriedenheit verringern. Hatten Sie schon mal Angst zu sterben – vielleicht auch nur ganz kurz, etwa weil sie bei einer Wanderung in den Bergen mit dem Fuß abgerutscht sind oder nur durch eine Vollbremsung mit dem Auto knapp einem Unfall entgehen konnten? Um dieses Angstgefühl geht es bei Sarah B. aus dem obigen Beispiel. Grundsätzlich kann man sagen, dass man angstauslösende Situationen nicht gänzlich vermeiden und ihnen dauerhaft einfach aus dem Weg gehen kann. Es gilt vielmehr, Strategien zu entwickeln, um mit der Angst umgehen und ihr mutig begegnen zu können. Es geht also darum, angstfähig zu werden. Es hilft aber langfristig nichts, wenn nur die negativen Faktoren reduziert werden.
  2. Positives stärken. Hinter der Symptomatik steckt auch etwas Positives: Bei Sarah B. ist es der Wunsch nach Zuneigung, nach positiven Beziehungen und nach Liebe. Ein menschliches Grundbedürfnis! Es geht also darum, Wege zu finden, dieses Bedürfnis zu erfüllen und eine gute Balance zwischen Beziehungen auf der einen Seite und Freiheit bzw. Selbstbestimmung auf der anderen Seite herzustellen. Die Lösung wird bei Frau B. nicht sein, das Studium abzubrechen und einfach wieder nach Hause zurückzukehren. Es wird darum gehen, neue Wege zu finden, um dieses Bedürfnis im Hier und Jetzt zu erfüllen.

 

Die Positive Psychologie

Genau hier kommt die positive Psychologie ins Spiel. Die Wissenschaft des gelingenden Lebens dreht sich konkret darum, das positive Erleben – also positive Gefühle und Zufriedenheit – zu erhöhen. Außerdem ist folgende Frage zentral: Welche Stärken und Werte zeichnen uns aus und fördern den Selbstwert unabhängig von Leistungen, Erfolgen oder Misserfolgen? Die Stärken stellen damit eine wichtige Basis für das Wohlbefinden dar.

Es geht aber nicht nur um die positiven Gefühle, sondern auch darum, mit all unseren Gefühlen achtsam umzugehen. Negative Gefühle haben grundsätzlich einen Sinn. Angst ist beispielsweise wie ein Wachhund, der uns vor Bedrohungen warnt. Die Gefahr kann unmittelbar sein oder in der Zukunft befürchtet werden (ein weiteres Nichtbestehen der Prüfung). Manchmal kann der Wachhund aber auch überreagieren und bellen, wenn nur ein kleiner Spatz aus dem Gebüsch fliegt.

 

Das Navigationssystem unserer Gefühle

Ein Bild, das die Funktion der Gefühle anschaulich beschreibt, ist das eines Navigationssystems. Es hilft uns bei der Orientierung, lenkt unsere Aufmerksamkeit und lässt uns wichtige Informationen zukommen. Es zeigt an, welche Straßen gesperrt sind, welche Wege wir besser umfahren sollten, wie lange wir noch bis zu unserem Ziel brauchen und welche Schwierigkeiten auf unserer Reise auftreten können. Und genauso funktionieren auch unsere Gefühle.

 

Positive Gefühle zeigen uns an, dass wir auf dem richtigen Weg sind, während negative Gefühle wie Angst, Wut, Trauer etc. uns darauf aufmerksam machen, dass gerade etwas nicht so gut läuft.

 

Alle Gefühle geben uns (lebens-)wichtige Hinweise auf unsere Bedürfnisse und haben somit einen wesentlichen Anteil an unserem Wohlbefinden.

Ob die Gefühle nun aber angemessen sind oder nicht, hängt stark von der individuellen Situation ab. Während ein heiteres Lachen während der Beerdigungszeremonie eher ungewöhnlich ist, passt es beim gemeinsamen Spieleabend sehr gut. Ebenso ist es mit den negativen Gefühlen.

Angenommen das Gefühl ist passend, dann spielt darüber hinaus die Intensität des erlebten Gefühls eine Rolle. Haben wir beispielsweise gesunden Respekt vor Höhe, ist das durchaus sinnvoll, da wir dadurch während der Bergtour achtsam bleiben und aufpassen, dass wir stets sicheren Tritt haben. Besteht jedoch panische Angst vor Höhen und vermeiden wir sogar in der Folge alle Situationen, die uns mit Höhe konfrontieren könnten, dann ist dies unserem Wohlbefinden nicht mehr dienlich. Im Gegenteil – es ist sogar einschränkend. Bleiben wir beim (Gefühls-)Navigationsbild, dann gibt es folgende Möglichkeiten:

  1. Die Information ist hilfreich und wir reagieren dementsprechend (z. B. schnellere Route wählen und Stau umfahren).
  2. Die Information weist zwar in die richtige Richtung, ist aber zu intensiv (z. B. wird immer wieder auf den Stau hingewiesen, in dem wir uns befinden, es gibt jedoch keine alternative Route).
  3. Die Information ist nicht hilfreich (z. B. wird auf eine gesperrte Straße hingewiesen, die inzwischen schon wieder frei befahrbar ist).

Während es wichtig ist, im Fall 1 dem Gefühl gemäß zu handeln, ist es bei den Fällen 2 und 3 notwendig, das Gefühl zu regulieren bzw. abzuschwächen – zum Beispiel mit den Methoden der Positiven Psychologie. Je nach Ausmaß und Häufigkeit kann darüber hinaus auch eine professionelle Unterstützung Sinn machen.

 

Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen?

Uns allen widerfahren hin und wieder Missgeschicke, Dinge laufen anders als erwartet oder wir machen schmerzhafte Erfahrungen. Das gehört zum Leben dazu. Interessant ist, wie wir mit derartigen Situationen umgehen. Studien haben gezeigt, dass glückliche Menschen bessere Strategien entwickeln, um mit kritischen Lebensereignissen umzugehen, als weniger glückliche (z. B. Tugade & Fredrickson, 2004). Sie verfügen über eine größere Widerstandskraft, die sie dazu befähigt, konstruktiv mit Krisen umzugehen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Die Rede ist von Resilienz.

Ich möchte diesen Umstand am Beispiel des Kängurus verdeutlichen: Kängurus können ganz wunderbar springen. Bei jedem Sprung federn ihre Hinterläufe vom Boden ab wie ein Gummiball. Je mehr sich der Kängurukörper komprimiert, je stärker also die Gelenke belastet und die Muskeln gedehnt werden, desto höher ist die Sprungkraft. Resilienz ist wie diese Sprungkraft. Sie befördert uns wieder nach oben, wenn das Schicksal uns einmal zu Boden geworfen hat. Auch wenn wir Schlimmes erleben, bedeutet das nicht automatisch, dass wir dadurch traumatisiert oder von nun an unglücklich sind. Vermutlich führen wir zwar ein anderes Leben, als wir es ohne dieses Erlebnis getan hätten. Ob dieses Leben jedoch glücklich ist oder nicht, hängt sehr viel mehr von unserer Bewertung, unseren Gefühlen und unserem Verhalten – kurz: unserer Resilienz – ab: Wie wir Dinge einschätzen und welche Konsequenzen wir daraus für unser Leben ziehen, liegt an uns.

Wir alle haben die Möglichkeit, Resilienz zu trainieren und uns auf dem Kontinuum ein Stück weiter in Richtung „widerstandsfähig“ zu bewegen. In diesem Zusammenhang konnte die Bedeutsamkeit positiver Gefühle für die Förderung von Resilienz nachgewiesen werden. Resiliente Menschen nutzen positive Gefühle zum einen dafür, sich schneller von Stress zu erholen, und zum anderen, um Sinn aus negativen Erlebnissen zu schöpfen (Tugade & Fredrickson, 2004). Außerdem nehmen sie bei Stressereignissen oder Problemen nicht ausschließlich die negativen Aspekte wahr, sondern auch positive Facetten, Entwicklungsmöglichkeiten oder Lernchancen. Dies ermöglicht es ihnen, gestärkt aus solchen Erfahrungen hervorzugehen und sogar an ihnen zu wachsen.

Wenn wir einmal hinfallen, ist es wichtig, erst einmal innezuhalten und herauszufinden, worüber wir gestolpert sind. Vor allem dann, wenn uns das regelmäßig passiert, macht es sehr viel mehr Sinn, sich mit dem Hindernis auseinanderzusetzen, als jeden Tag aufs Neue über die Türschwelle zu stolpern. Der nächste Schritt ist dann zweifelsohne, wieder aufzustehen und sich mit Mitgefühl zu begegnen, anstatt sich Vorwürfe zu machen. Ist dies geschehen, können Sie mutigen Schrittes weitergehen – und wie ein Känguru mit einem kraftvollen Sprung über künftige Hindernisse hinwegspringen. Denken Sie daran: Glückliche Kängurus springen höher!

  

Über die Autorin

Dr. Melanie Hausler, Klinische und Gesundheitspsychologin, Trainerin für Positive Psychologie, Promotion in Psychologie zum Thema „Wohlbefinden verstehen und fördern“. Sie ist Glücksforscherin an der Medizinischen Universität Innsbruck und in freier Praxis tätig. Ihr Buch Glückliche Kängurus springen höher: Impulse aus Glücksforschung und positiver Psychologie erscheint am 22. März 2019 im Junfermann Verlag. Weitere Informationen über Melanie Hausler erhalten Sie hier.

 

Quelle

Tugade, M. M. & Fredrickson, B. L. (2004): Resilient Individuals Use Positive Emotions to Bounce Back From Negative Emotional Experiences. Journal of Personality and Social Psychology, 86(2), 320–333. http://doi.org/10.1037/0022-3514.86.2.320.

„Es braucht häufig mehr als drei tiefe OMs oder ein paar positive Gedanken, um glücklich zu werden!“

„Immer mit der Ruhe! Wie Sie Ihr Gehirn zur Gelassenheit erziehen“ von Doris Iding und Nanni Glück ist ein Ratgeber und Rettungsanker in stürmischen Zeiten. Für Menschen, die spüren, dass sie sich in all dem Multitasking und To-do-Listen-Abhaken selbst verlieren; die Entschleunigung suchen und sich nach innerer Ausgeglichenheit sehnen.

Wir sprachen mit den Autorinnen über unsere „gestresste Gesellschaft“, Achtsamkeit und Selbstmitgefühl – und über das Glück …

   Interview Teil I – mit Autorin Doris Iding

Liebe Frau Iding, Sie bieten regelmäßig Yoga- und Achtsamkeitsretreats an. Die Teilnehmenden möchten lernen, wieder zur Ruhe zu kommen, und wünschen sich, Hektik und Stress einmal ganz hinter sich zu lassen. Welchen Eindruck haben Sie: Wie gestresst ist unsere Gesellschaft?

Doris Iding: Ich habe das Gefühl, dass die Menschen immer rast- und ruheloser werden. Stress gehört zum Lebensgefühl dazu. Sie fühlen sich von den steigenden Anforderungen im Privat- und Arbeitsleben häufig überfordert und sind dabei, auszubrennen, oder haben häufig auch schon ein Burn-out hinter sich.

 

In Ihrem aktuellen Buch „Immer mit der Ruhe!“ nennen Sie Achtsamkeit als den ersten Schlüssel zur Gelassenheit. Was genau verstehen Sie unter Achtsamkeit, und wie kann sie helfen, im Alltag besser mit Stress und Druck umzugehen?

Doris Iding: Achtsamkeit ist im herkömmlichen Sinne (basierend auf Buddha) eine Meditationspraxis, die uns darin unterstützt, unseren Geist zu erforschen und uns nicht mehr von den darin entstehenden Gedanken beherrschen zu lassen. So richtig salonfähig wurde Achtsamkeit aber erst durch Dr. Jon Kabat-Zinn, der die Achtsamkeit durch MBSR in Stresskliniken brachte und in den letzten zehn Jahren auch in die Gesellschaft. Durch die Achtsamkeit im Kontext von MBSR lernt man, die Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen kennenzulernen und sich nicht mehr mit ihnen zu identifizieren.

Achtsamkeit ist aber auch gleichzeitig eine Lebensweise. Sie soll uns darin unterstützen, dass wir erkennen, dass es keine äußeren Stressoren gibt, sondern dass wir es selbst sind, die uns den Stress machen.

Achtsamkeit ist auch ein Mittel, das uns darin unterstützt, den Autopiloten auszustellen, um das Leben wieder mit all unseren Sinnen zu erleben und zu genießen. Und zwar von Moment zu Moment.

 

Seit Ihrem 15. Lebensjahr beschäftigen Sie sich schon mit Meditation und Yoga und seit vielen Jahren leiten Sie entsprechende Seminare im Bereich Achtsamkeit und Entspannungstechniken. Wie viel Übung braucht jemand, der bisher noch keine Berührung damit hatte, um diese Techniken für sich nutzbar zu machen?

Doris Iding: Das ist schwer zu sagen, weil jeder Mensch ganz einzigartig ist und ich hier keine falschen Erwartungen wecken möchte. Es gibt Menschen, die lernen die Meditation kennen und genießen es bereits von Anfang an, 30 Minuten zu meditieren. Andere Menschen sind schon mit drei Minuten überfordert. Ich versuche, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, und ihnen auch die Zeit und den Raum zu geben, den sie brauchen. Durch die permanente Nutzung von Handys sind die meisten Nervensysteme allerdings heute immer weniger in der Lage, lange in der Stille zu verweilen. Gleichzeitig aber wächst das Bedürfnis nach Stille immer mehr.

Jeder, der anfängt zu praktizieren, sollte sich zuerst einmal überlegen, wie viel er realistisch in seinen Alltag integrieren kann, ohne sich noch zusätzlichen Stress zu machen.

 

Interessant ist, dass Sie Selbstmitgefühl als eine weitere Komponente zur Stressreduktion thematisieren. Was genau meinen Sie damit?

Doris Iding: Es ist mittlerweile erwiesen, dass es keine äußeren Stressoren gibt, sondern dass wir selbst es sind, die sich den Stress machen. Für den inneren Stress ist in erster Linie der „innere Antreiber“ verantwortlich, der auch gerne als „innerer Kritiker“ bezeichnet wird. Dieser Anteil ist nie zufrieden. Ich arbeite in meinen Kursen mit so vielen wundervollen Menschen zusammen und 99,9 Prozent haben einen solchen inneren Kritiker, der ihnen das Leben zur Hölle machen. Entwickeln wir aber Selbstmitgefühl mit uns und schließen wir Freundschaft mit diesem inneren Kritiker, dann wird das Leben leichter. Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir mit einem offenen Herzen auf uns selbst schauen und das wertschätzen, was wir alles leisten. Und das ist bei uns allen mehr als genug. Es bedeutet, dass wir mehr auf die eigenen Bedürfnisse eingehen und uns selbst mit genauso viel Liebe und Geduld begegnen wie den Menschen, die wir lieben – oder aber mit denen wir arbeiten.

Erfahrungsgemäß ist aber das Selbstmitgefühl das, was uns allen am schwersten fällt. Ich bin in meinem Leben schon so vielen spirituellen Lehrern, Meistern und Therapeuten begegnet. Sie alle hatten ein offenes Herz für ihre Patienten und Klienten. Aber sich selbst gegenüber waren die meisten sehr fordernd und sehr anspruchsvoll.

Prof. Dr. Luise Reddemann hat einmal gesagt, dass der innere Kritiker unkündbar ist und dass wir gut daran tun, uns mit ihm anzufreunden. Diese Aussage kann ich auch nur unterstreichen.

 

Das Besondere am Buch ist auch sein ganzheitlicher Ansatz. Es wird auf neurologische Grundlagen ebenso eingegangen wie auf spirituelle Wege. Für wie wichtig erachten Sie Spiritualität für ein gesundes Leben? Und wie kann sie helfen, besser mit den Höhen und Tiefen des Lebens zurechtzukommen?

Doris Iding: Spiritualität ist für mich die Basis eines gesunden Lebens. Nur dann, wenn wir uns mit unserem innersten Wesen verbinden, können wir ein vollkommen selbstbestimmtes Leben führen. Der Benediktinermönch Willigis Jäger hat einmal gesagt, dass es darum gehe, ganz Mensch zu werden. Dieser Aussage kann ich ebenfalls zustimmen. Spiritualität bedeutet für mich übrigens u. a., dass wir uns der Verbundenheit mit allem und der Vergänglichkeit von allem bewusstwerden. Wenn wir dies tun, dann müssen wir nicht mehr so gegen das Leben selbst ankämpfen. Dann wird vieles leichter. Spiritualität bedeutet für mich aber auch, dass wir uns mit etwas verbinden, das größer ist als wir selbst. Das heißt, dass wir uns nicht immer für den Mittelpunkt der Welt halten, sondern ein Teil davon sind. Das kann manchmal sehr erleichternd sein. Und gleichzeitig bedeutet es auch, dass wir uns mit dem Göttlichen (als dem, was Größer ist als wir selbst) verbinden UND gleichzeitig unsere Kontonummer nicht vergessen. Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh sagt dazu: Es geht (bei der Spiritualität) nicht darum, auf dem Wasser zu wandeln, sondern darum, Schritt für Schritt auf der Erde zu gehen. Diese Aussage unterstreiche ich gerne.

 

Angenommen, die Mitarbeiterin eines großen Unternehmens, deren Wochen voll durchgetaktet sind, oder eine dreifache Mutter, die „das erfolgreiche Familienunternehmen“ führt, bittet Sie um Tipps zur Stressreduktion. Was antworten Sie denen?

Doris Iding: Innehalten. Bewusst einatmen. Bewusst ausatmen. Und dann eins nach dem anderen erledigen. Es ist eben diese so einfache (!!) Kombination aus innehalten UND atmen, die uns maßgeblich dabei helfen kann, raus aus dem Kopf – dem Gedankenkarussell – und rein in den Körper zu kommen.

 

Sie litten selbst einmal an einer Angststörung. Was glauben Sie: Wie sehr haben Stress und (Leistungs-)Druck in Ihrem Leben dabei eine Rolle gespielt?

Doris Iding: Die Ursache für die Angsterkrankung lag in einer generalisierten Angsterkrankung, die wiederum ihre Wurzeln in meiner Kindheit hatte. Ich habe meine Angsterkrankung – und einen Umgang damit – in meinem Buch Die Angst, der Buddha und ich beschrieben. Darin habe ich postuliert, dass man meditieren kann UND psychisch erkranken kann, dass man Yoga machen kann UND unter Ängsten leiden kann. Noch heute bekomme ich Leserbriefe als Reaktion auf dieses Buch und viele Menschen sind froh, dass ich mit diesem Buch ein Tabu in der spirituellen Szene gebrochen habe. Leider wird hier nämlich der Irrglaube verbreitet, dass man sich glücklich denken und dehnen kann. Das ist allerdings nicht der Fall. Wir sind so multidimensional und komplex, dass es häufig mehr braucht als drei tiefe OMs oder nur ein paar positive Gedanken, um glücklich zu werden.

 

Finden Leser*innen in Ihrem Buch auch konkrete Präventionsmaßnahmen, um sich vor der Entstehung von Ängsten und Depressionen zu schützen? Inwiefern?

Doris Iding: Leider ist es häufig so, dass wir erst wach werden, wenn wir bereits unter Ängsten leiden oder Depressionen uns das Leben schwermachen. In dem Buch gibt es aber viele Übungen, die einen Menschen darin unterstützen, besser mit Ängsten und mit Depressionen umzugehen. Es sind wundervolle und sehr wirksame Übungen. Sie haben allerdings nur einen Haken: Man muss sie regelmäßig machen. Der Neuropsychologe Rick Hanson sagt: Wir können unser Gehirn und unseren Geist ändern. Aber nur wir selbst können dies tun. Dieser Aussage stimme ich zu. Wir können noch so viele Seminare besuchen und noch so viele kluge Bücher lesen. Wenn wir nicht wirklich regelmäßig üben, wird sich langfristig nicht viel ändern. Nehmen wir uns hingegen täglich die Zeit für eine Meditation, dann können wir inneren Frieden erlangen.

 

Welche Botschaft möchten Sie Menschen, die an einer Angststörung erkrankt sind, mit auf den Weg geben? Gibt es etwas, das Hoffnung macht, wenn man den Mut verloren hat?

Doris Iding: Wenn wir unseren Ängsten ins Gesicht schauen, ihnen einen Namen geben und sie liebevoll und mitfühlend in den Arm nehmen, dann können wir sie überwinden. Das weiß ich. Alles, was es braucht, ist etwas Geduld. Der Buddha hat gesagt: ‚Egal, wie schwer das gestern war, wir können heute neu anfangen.‘ Und eine weitere Aussage von ihm lauter: ‚JEDER Mensch kann inneren Frieden erfahren.‘ Für mich wurde besonders die zweite Aussage von Buddha zu einem Mantra, das ich mir während meiner eigenen Angsterkrankung täglich gesagt habe. Ich habe mir gesagt: Wenn Buddha also tatsächlich meint, dass JEDER es kann, dann kann ich es auch! Das war gut. Auch diese Aussagen kann ich unterstreichen und bestätigen. Aber auch hier gilt: Wir können unsere Ängste überwinden. Aber nur wir selbst können es!

 

Was tun Sie selbst, um in akuten Stresszeiten zur Ruhe zu kommen? Haben Sie einen Erste-Hilfe-Plan?

Doris Iding: Ich habe keinen ersten Hilfe-Plan, sondern einen Erste-Hilfe-Koffer. Je nach Gelegenheit nehme ich mir das passende Werkzeug. Meine Lieblingsmethode: Da ich für mein Leben gerne esse, praktiziere ich in solchen Momenten die Essmeditation. Ich verwöhne mich mit einem guten Essen und nutze es, um wirklich mit allen Sinnen bei der Sache zu sein. Ansonsten hilft es mir immer und überall, mich über die Atmung wieder zu erden. Ich atme ganz bewusst in die Füße langsam aus. Und wenn es ganz arg ist, dann lege ich noch eine Hand auf das Dekolleté und eine Hand auf den Bauchraum. Indem ich langsam ausatme, wird der Parasympathikus aktiviert, und wenn ich mich selbst berühre, wird Oxytocin ausgeschüttet. Das ist ein Hormon, dass uns Vertrauen vermittelt. Und dann gibt es natürlich noch viele andere kleine Übungen in dem Buch.

 

Haben Sie vielen Dank für das nette Gespräch, Frau Iding!

 

Über die Autorin

Doris Iding ist Meditations-, MBRS-, Achtsamkeits- und Yogalehrerin. Sie arbeitet als Seminarleiterin und gibt Achtsamkeitsseminare in Firmen und mit Privatpersonen. Sie ist auch Buchautorin sowie Redakteurin der Zeitschrift Yoga aktuell. Darüber hinaus bildet sie seit vielen Jahren angehende Yogalehrer im Bereich Achtsamkeit und Yoga-Philosophie aus. 18 ihrer Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt.

Ihr Buch „Immer mit der Ruhe! Wie Sie Ihr Gehirn zur Gelassenheit erziehen“, das sie mit Mitautorin Nanni Glück zusammen verfasst hat, erschien im Mai 2018 im Junfermann Verlag.

Weitere Informationen über die Autorin und ihre Angebote finden Sie unter www.glueckundachtsamkeit.de/ und www.vomglueckderkleinendinge.blogspot.de/