„Es braucht häufig mehr als drei tiefe OMs oder ein paar positive Gedanken, um glücklich zu werden!“
„Immer mit der Ruhe! Wie Sie Ihr Gehirn zur Gelassenheit erziehen“ von Doris Iding und Nanni Glück ist ein Ratgeber und Rettungsanker in stürmischen Zeiten. Für Menschen, die spüren, dass sie sich in all dem Multitasking und To-do-Listen-Abhaken selbst verlieren; die Entschleunigung suchen und sich nach innerer Ausgeglichenheit sehnen.
Wir sprachen mit den Autorinnen über unsere „gestresste Gesellschaft“, Achtsamkeit und Selbstmitgefühl – und über das Glück …
Interview Teil I – mit Autorin Doris Iding
Liebe Frau Iding, Sie bieten regelmäßig Yoga- und Achtsamkeitsretreats an. Die Teilnehmenden möchten lernen, wieder zur Ruhe zu kommen, und wünschen sich, Hektik und Stress einmal ganz hinter sich zu lassen. Welchen Eindruck haben Sie: Wie gestresst ist unsere Gesellschaft?
Doris Iding: Ich habe das Gefühl, dass die Menschen immer rast- und ruheloser werden. Stress gehört zum Lebensgefühl dazu. Sie fühlen sich von den steigenden Anforderungen im Privat- und Arbeitsleben häufig überfordert und sind dabei, auszubrennen, oder haben häufig auch schon ein Burn-out hinter sich.
In Ihrem aktuellen Buch „Immer mit der Ruhe!“ nennen Sie Achtsamkeit als den ersten Schlüssel zur Gelassenheit. Was genau verstehen Sie unter Achtsamkeit, und wie kann sie helfen, im Alltag besser mit Stress und Druck umzugehen?
Doris Iding: Achtsamkeit ist im herkömmlichen Sinne (basierend auf Buddha) eine Meditationspraxis, die uns darin unterstützt, unseren Geist zu erforschen und uns nicht mehr von den darin entstehenden Gedanken beherrschen zu lassen. So richtig salonfähig wurde Achtsamkeit aber erst durch Dr. Jon Kabat-Zinn, der die Achtsamkeit durch MBSR in Stresskliniken brachte und in den letzten zehn Jahren auch in die Gesellschaft. Durch die Achtsamkeit im Kontext von MBSR lernt man, die Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen kennenzulernen und sich nicht mehr mit ihnen zu identifizieren.
Achtsamkeit ist aber auch gleichzeitig eine Lebensweise. Sie soll uns darin unterstützen, dass wir erkennen, dass es keine äußeren Stressoren gibt, sondern dass wir es selbst sind, die uns den Stress machen.
Achtsamkeit ist auch ein Mittel, das uns darin unterstützt, den Autopiloten auszustellen, um das Leben wieder mit all unseren Sinnen zu erleben und zu genießen. Und zwar von Moment zu Moment.
Seit Ihrem 15. Lebensjahr beschäftigen Sie sich schon mit Meditation und Yoga und seit vielen Jahren leiten Sie entsprechende Seminare im Bereich Achtsamkeit und Entspannungstechniken. Wie viel Übung braucht jemand, der bisher noch keine Berührung damit hatte, um diese Techniken für sich nutzbar zu machen?
Doris Iding: Das ist schwer zu sagen, weil jeder Mensch ganz einzigartig ist und ich hier keine falschen Erwartungen wecken möchte. Es gibt Menschen, die lernen die Meditation kennen und genießen es bereits von Anfang an, 30 Minuten zu meditieren. Andere Menschen sind schon mit drei Minuten überfordert. Ich versuche, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, und ihnen auch die Zeit und den Raum zu geben, den sie brauchen. Durch die permanente Nutzung von Handys sind die meisten Nervensysteme allerdings heute immer weniger in der Lage, lange in der Stille zu verweilen. Gleichzeitig aber wächst das Bedürfnis nach Stille immer mehr.
Jeder, der anfängt zu praktizieren, sollte sich zuerst einmal überlegen, wie viel er realistisch in seinen Alltag integrieren kann, ohne sich noch zusätzlichen Stress zu machen.
Interessant ist, dass Sie Selbstmitgefühl als eine weitere Komponente zur Stressreduktion thematisieren. Was genau meinen Sie damit?
Doris Iding: Es ist mittlerweile erwiesen, dass es keine äußeren Stressoren gibt, sondern dass wir selbst es sind, die sich den Stress machen. Für den inneren Stress ist in erster Linie der „innere Antreiber“ verantwortlich, der auch gerne als „innerer Kritiker“ bezeichnet wird. Dieser Anteil ist nie zufrieden. Ich arbeite in meinen Kursen mit so vielen wundervollen Menschen zusammen und 99,9 Prozent haben einen solchen inneren Kritiker, der ihnen das Leben zur Hölle machen. Entwickeln wir aber Selbstmitgefühl mit uns und schließen wir Freundschaft mit diesem inneren Kritiker, dann wird das Leben leichter. Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir mit einem offenen Herzen auf uns selbst schauen und das wertschätzen, was wir alles leisten. Und das ist bei uns allen mehr als genug. Es bedeutet, dass wir mehr auf die eigenen Bedürfnisse eingehen und uns selbst mit genauso viel Liebe und Geduld begegnen wie den Menschen, die wir lieben – oder aber mit denen wir arbeiten.
Erfahrungsgemäß ist aber das Selbstmitgefühl das, was uns allen am schwersten fällt. Ich bin in meinem Leben schon so vielen spirituellen Lehrern, Meistern und Therapeuten begegnet. Sie alle hatten ein offenes Herz für ihre Patienten und Klienten. Aber sich selbst gegenüber waren die meisten sehr fordernd und sehr anspruchsvoll.
Prof. Dr. Luise Reddemann hat einmal gesagt, dass der innere Kritiker unkündbar ist und dass wir gut daran tun, uns mit ihm anzufreunden. Diese Aussage kann ich auch nur unterstreichen.
Das Besondere am Buch ist auch sein ganzheitlicher Ansatz. Es wird auf neurologische Grundlagen ebenso eingegangen wie auf spirituelle Wege. Für wie wichtig erachten Sie Spiritualität für ein gesundes Leben? Und wie kann sie helfen, besser mit den Höhen und Tiefen des Lebens zurechtzukommen?
Doris Iding: Spiritualität ist für mich die Basis eines gesunden Lebens. Nur dann, wenn wir uns mit unserem innersten Wesen verbinden, können wir ein vollkommen selbstbestimmtes Leben führen. Der Benediktinermönch Willigis Jäger hat einmal gesagt, dass es darum gehe, ganz Mensch zu werden. Dieser Aussage kann ich ebenfalls zustimmen. Spiritualität bedeutet für mich übrigens u. a., dass wir uns der Verbundenheit mit allem und der Vergänglichkeit von allem bewusstwerden. Wenn wir dies tun, dann müssen wir nicht mehr so gegen das Leben selbst ankämpfen. Dann wird vieles leichter. Spiritualität bedeutet für mich aber auch, dass wir uns mit etwas verbinden, das größer ist als wir selbst. Das heißt, dass wir uns nicht immer für den Mittelpunkt der Welt halten, sondern ein Teil davon sind. Das kann manchmal sehr erleichternd sein. Und gleichzeitig bedeutet es auch, dass wir uns mit dem Göttlichen (als dem, was Größer ist als wir selbst) verbinden UND gleichzeitig unsere Kontonummer nicht vergessen. Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh sagt dazu: Es geht (bei der Spiritualität) nicht darum, auf dem Wasser zu wandeln, sondern darum, Schritt für Schritt auf der Erde zu gehen. Diese Aussage unterstreiche ich gerne.
Angenommen, die Mitarbeiterin eines großen Unternehmens, deren Wochen voll durchgetaktet sind, oder eine dreifache Mutter, die „das erfolgreiche Familienunternehmen“ führt, bittet Sie um Tipps zur Stressreduktion. Was antworten Sie denen?
Doris Iding: Innehalten. Bewusst einatmen. Bewusst ausatmen. Und dann eins nach dem anderen erledigen. Es ist eben diese so einfache (!!) Kombination aus innehalten UND atmen, die uns maßgeblich dabei helfen kann, raus aus dem Kopf – dem Gedankenkarussell – und rein in den Körper zu kommen.
Sie litten selbst einmal an einer Angststörung. Was glauben Sie: Wie sehr haben Stress und (Leistungs-)Druck in Ihrem Leben dabei eine Rolle gespielt?
Doris Iding: Die Ursache für die Angsterkrankung lag in einer generalisierten Angsterkrankung, die wiederum ihre Wurzeln in meiner Kindheit hatte. Ich habe meine Angsterkrankung – und einen Umgang damit – in meinem Buch Die Angst, der Buddha und ich beschrieben. Darin habe ich postuliert, dass man meditieren kann UND psychisch erkranken kann, dass man Yoga machen kann UND unter Ängsten leiden kann. Noch heute bekomme ich Leserbriefe als Reaktion auf dieses Buch und viele Menschen sind froh, dass ich mit diesem Buch ein Tabu in der spirituellen Szene gebrochen habe. Leider wird hier nämlich der Irrglaube verbreitet, dass man sich glücklich denken und dehnen kann. Das ist allerdings nicht der Fall. Wir sind so multidimensional und komplex, dass es häufig mehr braucht als drei tiefe OMs oder nur ein paar positive Gedanken, um glücklich zu werden.
Finden Leser*innen in Ihrem Buch auch konkrete Präventionsmaßnahmen, um sich vor der Entstehung von Ängsten und Depressionen zu schützen? Inwiefern?
Doris Iding: Leider ist es häufig so, dass wir erst wach werden, wenn wir bereits unter Ängsten leiden oder Depressionen uns das Leben schwermachen. In dem Buch gibt es aber viele Übungen, die einen Menschen darin unterstützen, besser mit Ängsten und mit Depressionen umzugehen. Es sind wundervolle und sehr wirksame Übungen. Sie haben allerdings nur einen Haken: Man muss sie regelmäßig machen. Der Neuropsychologe Rick Hanson sagt: Wir können unser Gehirn und unseren Geist ändern. Aber nur wir selbst können dies tun. Dieser Aussage stimme ich zu. Wir können noch so viele Seminare besuchen und noch so viele kluge Bücher lesen. Wenn wir nicht wirklich regelmäßig üben, wird sich langfristig nicht viel ändern. Nehmen wir uns hingegen täglich die Zeit für eine Meditation, dann können wir inneren Frieden erlangen.
Welche Botschaft möchten Sie Menschen, die an einer Angststörung erkrankt sind, mit auf den Weg geben? Gibt es etwas, das Hoffnung macht, wenn man den Mut verloren hat?
Doris Iding: Wenn wir unseren Ängsten ins Gesicht schauen, ihnen einen Namen geben und sie liebevoll und mitfühlend in den Arm nehmen, dann können wir sie überwinden. Das weiß ich. Alles, was es braucht, ist etwas Geduld. Der Buddha hat gesagt: ‚Egal, wie schwer das gestern war, wir können heute neu anfangen.‘ Und eine weitere Aussage von ihm lauter: ‚JEDER Mensch kann inneren Frieden erfahren.‘ Für mich wurde besonders die zweite Aussage von Buddha zu einem Mantra, das ich mir während meiner eigenen Angsterkrankung täglich gesagt habe. Ich habe mir gesagt: Wenn Buddha also tatsächlich meint, dass JEDER es kann, dann kann ich es auch! Das war gut. Auch diese Aussagen kann ich unterstreichen und bestätigen. Aber auch hier gilt: Wir können unsere Ängste überwinden. Aber nur wir selbst können es!
Was tun Sie selbst, um in akuten Stresszeiten zur Ruhe zu kommen? Haben Sie einen Erste-Hilfe-Plan?
Doris Iding: Ich habe keinen ersten Hilfe-Plan, sondern einen Erste-Hilfe-Koffer. Je nach Gelegenheit nehme ich mir das passende Werkzeug. Meine Lieblingsmethode: Da ich für mein Leben gerne esse, praktiziere ich in solchen Momenten die Essmeditation. Ich verwöhne mich mit einem guten Essen und nutze es, um wirklich mit allen Sinnen bei der Sache zu sein. Ansonsten hilft es mir immer und überall, mich über die Atmung wieder zu erden. Ich atme ganz bewusst in die Füße langsam aus. Und wenn es ganz arg ist, dann lege ich noch eine Hand auf das Dekolleté und eine Hand auf den Bauchraum. Indem ich langsam ausatme, wird der Parasympathikus aktiviert, und wenn ich mich selbst berühre, wird Oxytocin ausgeschüttet. Das ist ein Hormon, dass uns Vertrauen vermittelt. Und dann gibt es natürlich noch viele andere kleine Übungen in dem Buch.
Haben Sie vielen Dank für das nette Gespräch, Frau Iding!
Doris Iding ist Meditations-, MBRS-, Achtsamkeits- und Yogalehrerin. Sie arbeitet als Seminarleiterin und gibt Achtsamkeitsseminare in Firmen und mit Privatpersonen. Sie ist auch Buchautorin sowie Redakteurin der Zeitschrift Yoga aktuell. Darüber hinaus bildet sie seit vielen Jahren angehende Yogalehrer im Bereich Achtsamkeit und Yoga-Philosophie aus. 18 ihrer Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt.
Ihr Buch „Immer mit der Ruhe! Wie Sie Ihr Gehirn zur Gelassenheit erziehen“, das sie mit Mitautorin Nanni Glück zusammen verfasst hat, erschien im Mai 2018 im Junfermann Verlag.
Weitere Informationen über die Autorin und ihre Angebote finden Sie unter www.glueckundachtsamkeit.de/ und www.vomglueckderkleinendinge.blogspot.de/