Von Fabienne Berg
Jede Medaille hat zwei Seiten. Auch ein Trauma. Natürlich gibt es massive Folgestörungen, unter denen Betroffene lange, manchmal ihr ganzes Leben zu leiden haben. Doch selbst die schrecklichsten Erfahrungen können positive Wendungen im Leben bewirken. Wie das möglich ist, möchte ich zunächst mithilfe einer Geschichte zeigen. Es würde mich freuen, wenn meine anschließenden Gedanken zur Idee des posttraumatischen Wachstums Sie anregen würden, sich mit mir darüber auszutauschen.
Peters Geschichte
Peter war bereits schwer krank, als ich zum ersten Mal bei ihm und seiner Familie zum Kaffee eingeladen war. Die Diagnose: Knochenkrebs im Endstadium. Ein Todesurteil. Trotzdem saß Peter aufrecht in seinem Krankenbett und sang fröhliche Lieder. Wir saßen um das Bett herum, aßen selbstgebackenen Kuchen und sangen mit. Einige Monate später erlag Peter im Alter von 86 Jahren seinem Leiden. Auf seiner Beerdigung sangen wir Peters Lieblingslieder. Das war sein Wunsch gewesen. Wir sollten nicht weinen, sondern ihn in glücklicher Erinnerung behalten.
Auch vor seiner schlimmen Erkrankung im hohen Alter war Peters Leben mehr als nur einmal von Grenzsituationen und Todesnähe geprägt gewesen. Wie so viele musste er als junger Mann in den Krieg ziehen und für Nazi-Deutschland kämpfen. Einen Krieg, gegen den Peter bereits in seinen politischen Anfängen einen tiefen Widerwillen verspürte. Sein damaliger Arbeitgeber, eine große staatliche Bank, drängte Peter mehrfach, der NSDAP beizutreten. Peter lehnte ab. Kurze Zeit darauf wurde er zum Wehrdienst eingezogen und nach nur vierwöchiger Ausbildung dem Pionier-Panzer-Bataillon 40 zugeordnet, das an Feldzügen in Holland, Belgien, Frankreich, Polen und an der Schlacht von Stalingrad beteiligt war. Seine Frau und seine kleine Tochter blieben zurück.
Stalingrad
Der im August 1942 begonnene Angriff auf Stalingrad führte auf beiden Seiten zu hohen Verlusten. In einer Gegenoffensive der Roten Armee im November 1942 wurden die 6. Armee und Teile der 4. Panzerarmee eingekesselt und weitgehend von jedweder Versorgung abgeschnitten. Hitler befahl mehrfach, Ausbruchsversuche zu unterlassen und die Stellung zu halten. Die meisten von Peters Kameraden, die nicht durch „Feindeshand“ ums Leben kamen, starben an Kälte, Mangelernährung und Krankheiten, die sich unter den Soldaten rasch verbreiteten. Ende Januar 1943 wurden Kapitulationsverhandlungen mit der Roten Armee aufgenommen und die wenigen Überlebenden des Panzer-Bataillons 40 wurden dem Zug der sowjetischen Kriegsgefangenen zugeführt, der Peter endlos erschien. Nahezu 100 000 deutsche Soldaten gingen bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Ungefähr 6000 überlebten diese; einer von ihnen war Peter.
Was Peter während des Krieges und in der daran anschließenden Gefangenschaft an Grausamkeiten und Unmenschlichkeit erleben und mit ansehen musste, lässt sich kaum in Worte fassen. Erst nach seiner Pensionierung war er in der Lage, vorsichtig und sehr allgemein darüber zu sprechen. Über den Krieg selbst, über die ständige Angst vor Gewalt und Tod und die Sorge und die Sehnsucht nach der Familie und dem Frieden.
Kriegsgefangenschaft
Eine Begebenheit, die sich während seiner Zeit in sowjetischer Gefangenschaft ereignete, war Peter jedoch in ganz besonderer Erinnerung geblieben.
Wie viele Kriegsgefangenen musste Peter im Steinbruch arbeiten. Die Arbeit war hart, die Versorgung vollkommen unzureichend. Auch hier sah er viele Menschen sterben. An Hunger, Erschöpfung, Selbstmord und Krankheiten. Auf die Frage, wie lange die Gefangenschaft andauern würde, wurde Peter und seinen Mitgefangenen lediglich mitgeteilt, dass sie „so lange gefangen bleiben müssten, bis sie alles wieder aufgebaut hätten, was die Faschisten zerstört hatten“.
Ab und zu eilten sowjetische Frauen am Steinbruch vorbei. Meist bepackt, mit gesenktem Blick und von eigenen Sorgen geplagt. An einem besonders kalten Tag blieb jedoch eine von ihnen am Steinbruch stehen. Sie hatte Mitleid mit den Zwangsarbeitern und steckte Peter und einem Mitgefangenen ein Stück Brot zu. Dabei sagte sie: „Morgen wird alles besser sein“ und eilte weiter. An diesen Satz klammerte sich Peter fortan jeden Tag. Fünf Jahre lang sprach er ihn mehrfach zu sich selbst und versuchte auch den anderen Mitgefangenen Hoffnung zu vermitteln, indem er versicherte, dass bald alles besser würde.
Irgendwann war tatsächlich „morgen“ und Peters Name wurde auf die Liste der Heimkehrer gesetzt.
Heimkehr
Als Peter 1948 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, war er schwer krank, vollkommen entkräftet. Und er fühlte sich fremd – seiner Frau gegenüber, seiner Tochter und seiner Heimatstadt, die zu großen Teilen zerstört war.
An großartige ärztliche Versorgung oder gar Psychotherapie war damals nicht zu denken. Nach nur sechs Monaten wurde Peter von einem Amtsarzt gesundgeschrieben und sollte sich bei seinem früheren Arbeitgeber zurückmelden: bei jener Bank, die ihn damals so sehr gedrängt hatte, der Partei beizutreten. In der Geschäftsleitung saßen noch dieselben Männer wie vor dem Krieg: einflussreiche Nazi-Bonzen in feinen Anzügen, die den Krieg nur vom Hörensagen kannten. Höhnisch erklärten sie Peter, dass die letzte freie Stelle an ein ehemaliges Parteimitglied vergeben worden und für ihn „leider“ kein Platz mehr frei sei.
Als Peter uns diese Erinnerung erzählte, fügte er hinzu: „Ich war schockiert und fassungslos. Gleichzeitig fiel es mir wie Schuppen von den Augen und mir wurde klar: So läuft das System. Ich war froh über diese Klarheit, denn so wusste ich, dass ich einen ganz anderen Weg gehen muss.“
Engagierter Pädagoge
Den ging er. Konsequent. Von einem Nachbarn hatte Peter gehört, dass händeringend Lehrer gesucht würden, da sehr viele im Krieg gefallen oder nicht mehr arbeitsfähig waren. So kam es, dass Peter sich als Hilfslehrer meldete und an verschiedenen Schulen in ganz unterschiedlichen Fächern eingesetzt wurde.
Das Zusammensein mit den Kindern bereitete ihm große Freude und Peter empfand seine Arbeit als ausgesprochen sinnvoll. Einige Zeit später nahm Peter neben dem Schuldienst ein Studium auf. Er wurde „richtiger“ Lehrer und bildete sich später zum Sonderschulpädagogen weiter. Die Verfolgung geistig und körperlich beeinträchtigter Menschen unter Hitler hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben und ihn lange Zeit nicht losgelassen. Also machte er sich auf, beeinträchtigte Kinder und Jugendliche aus ihrer Isolation heraus in die Schulen zu holen. 1963 wurde er Rektor einer Sonderschule und 1976 mit dem Verdienstorden der BRD für die besondere Förderung von Lernbehinderten ausgezeichnet. Für seine Schüler und deren Eltern war Peter während seiner gesamten Dienstzeit der „liebe Direktor“. Beim Schulamt aber war er „gefürchtet“, da er sich auch entgegen jedweder Sparpolitik hartnäckig stets für die Interessen der Schüler und seine Schulpolitik eingesetzt hatte.
Was bedeutet Peters Geschichte?
Ich kenne Peters Familie nun schon seit vielen Jahren. Ihn selbst habe ich nur kurz gekannt. Bei jeder Begegnung erlebte ich ihn als einen ausgesprochen offenen, herzlichen und toleranten Menschen, der immer ein nettes Wort und ein offenes Ohr für alle Menschen in seinem Umfeld hatte.
Seine Geschichte hatte mich beeindruckt und fasziniert, schon lange bevor ich mich mit dem Thema Resilienz auseinanderzusetzen begann. Dieser Mann hatte es nicht nur geschafft, den Krieg und die Gefangenschaft zu überstehen, sondern hatte, um mit Kästner zu sprechen, aus den Steinen, die ihm in den Weg gelegt worden, etwas Schönes gebaut.
Wie war ihm das gelungen? War Peter eine jener Ausnahmepersönlichkeiten, die über weitaus mehr Willensstärke und Durchhaltevermögen verfügen als die meisten von uns? Oder ist seine Geschichte im Kern vielleicht gar nicht so selten?
Posttraumatisches Wachstum
In der Psychologie gibt es einen Begriff für diese Art der positiven Traumafolge: posttraumatisches Wachstum. Häufig wird er als eine Art Gegenstück zu den posttraumatischen Belastungsstörungen „gehandelt“. Mit posttraumatischem Wachstum beschreibt man die Folgen eines möglichen positiven inneren Transformatiosprozesses, den traumatisierte Menschen im Zuge der Beschäftigung mit ihrem Trauma durchlaufen und aus dem sie am Ende als gestärkt und gereift hervorgehen. Eine schöne Vorstellung.
Trotzdem wird dem posttraumatischen Wachstum bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie den posttraumatischen Störungen. Ich habe mal stichprobenartig nachgefragt: Von 17 Traumabetroffenen, die ich angeschrieben hatte, kannten 17 den Begriff der Belastungsstörungen, aber nur eine wusste etwas mit posttraumatischem Wachstum anzufangen. Schade, wie ich finde.
Und ich frage mich: Wissen vielleicht andere Menschen, die ich nicht direkt befragen konnte, etwas über Wachstum als Traumafolge? Sind Sie mit dem Konzept vertraut? Was meinen Sie dazu?
Was mir geholfen hätte
Ich kann nur für mich sprechen, aber mir hätte es damals große Hoffnung und Mut gemacht, wenn mir jemand gesagt hätte, dass es nicht nur Belastungsstörungen, sondern vielleicht auch positive Folgen geben kann. Auch wenn ich darunter zu leiden hätte, nicht so belastbar wie andere Menschen meines Alters zu sein: Später könnte ich mir dennoch meiner Stärken und Prioritäten bewusst werden und würde vielleicht so einen Weg finden, trotz verringerter Belastbarkeit glücklich und berufstätig zu sein.
Bestimmt hätte ich mich auch sehr darüber gefreut, nicht nur etwas über sehr wahrscheinliche Schwierigkeiten zu hören, künftig Vertrauen aufzubauen. Es hätte mir geholfen, um die Möglichkeit zu wissen, langsamer an Beziehungen und Freundschaften heranzugehen und so auf behutsame Weise sehr enge und langjährige Verbindungen einzugehen.
Und ganz sicher wäre es mir im Gedächtnis geblieben, wenn ich gehört hätte, dass ich möglicherweise den kleinen Dingen im Leben und dem Leben selbst in mit einem ganz intensiven Gefühl der Dankbarkeit und Wertschätzung begegnen würde. Durch meine Heilung war mir schließlich das Leben zurückgegeben worden.
Was hätte Ihnen geholfen? Was hätten Sie sich an meiner Stelle gewünscht?
Beide Seiten der Medaille sehen
All diese Aspekte können Ausdruck posttraumatischen Wachstums sein. Und selbst wenn nicht alle Punkte auf jeden gleichermaßen zutreffen mögen und auch wenn es daneben Belastungsstörungen gib: Ich finde, es sollten beide Seiten der Medaille, beide Formen möglicher Traumafolgen Beachtung finden. Hoffnung ist ein kostbares Gut. Gerade in Situationen, die schwierig sind und in denen mit raschen positiven Ergebnissen nicht zu rechnen ist. Hätte Peter damals keine Hoffnung mehr in sich gespürt, so hätte er die schlimmste Zeit in seinem Leben nicht überlebt. Weder hätte er eine Sonderschule geleitet und Freude und Sinn darin gefunden, noch hätte er seine Tochter und seine Enkeltöchter aufwachsen sehen und nach 1948 ein ein glückliches Leben führen können.
Unsere Seele zu nähren und ihr Hoffnung zu schenken, gerade dann, wenn sie es am nötigsten braucht – nichts anderes ist Resilienz zu üben. Wir verleugnen das Dunkel nicht, aber wir glauben trotzdem an das Licht. Und auch wenn es uns manchmal sehr lange so vorkommt, dass die Dunkelheit größer ist als das Licht, so kann es uns helfen darauf zu vertrauen, dass mit jeder noch so kleinen positiven Entscheidung für unser Leben das Licht immer heller und größer wird und selbst aus der schwärzesten Nacht ein neuer Tag entsteht.
Ein neuer Tag – das ist morgen. Und morgen kann alles schon besser sein.
Ich würde mich sehr freuen, weitere Geschichten und Erfahrungen zu hören. Mögen Sie mir etwas mitteilen, vielleicht auch Gedanken zum Thema positive Traumafolgen?
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Fabienne Berg hat Sprach- und Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt außeruniversitäre Erwachsenenbildung studiert. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Traumabewältigung befasst sie sich vor allem mit den Auswirkungen seelischer Verletzungen sowie mit den Zusammenhängen von Heilung und Selbstfindung. Besonders liegt ihr am Herzen, andere Menschen für ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu sensibilisieren und sie auf ihrem Heilungsweg zu unterstützen und zu stärken.
Bei Junfermann sind ihre Bücher Mut, Kraft und Liebe wünsche ich dir (2012) und Übungsbuch Resilienz (2014) erschienen.