Abgrenzung – ein „Ja“ zu sich selbst
von Ulrike Hensel
Die Frage „Wie kann ich mich besser abgrenzen?“ ist regelmäßig ganz vorne mit dabei, wenn in den Workshops, die ich für hochsensible Menschen (abgekürzt HSP) gebe, Themen gesammelt werden und wenn Coachees ihre Anliegen formulieren.
Diejenigen, für die Grenzen-Setzen ein Thema ist – und das sind beileibe nicht nur HSP –, möchten mehr als bisher für sich persönliche Freiräume schaffen, eigenen Wertvorstellungen und Prinzipien treu bleiben, ihre Integrität wahren. Sie möchten selbstverständlicher und selbstsicherer die eigenen Interessen vertreten, ihren eigenen Weg gehen. Nicht länger Nett-Sein vor Echt-Sein stellen, nicht länger den Erwartungen anderer Vorrang geben vor eigenen Bestrebungen.
Wie ich es sehe, geht es für sie darum, bewusst mehr Selbstfürsorge walten zu lassen und Strategien für selbstbestimmtes Handeln zu entwickeln – ohne dabei anderen jegliches Entgegenkommen zu verwehren und ohne den Gemeinschaftssinn zu verlieren.
Für andere da zu sein, ist ein wichtiges Bedürfnis
Wenn mir jemand sagt, dass er eigene Bedürfnisse ignorieren würde und nur für andere da sei, dann weise ich gerne darauf hin, dass schließlich auch das Für-andere-da-Sein ein wesentliches Bedürfnis ist, und werbe für Nachsicht und Verständnis sich selbst gegenüber. Laut Marshall Rosenberg, dem Begründer der „Gewaltfreien Kommunikation“, ist das Bedürfnis, zum Wohlergehen anderer beizutragen, ein zutiefst menschliches, also wahrlich nichts, wofür man sich kritisieren müsste. Wie so oft, geht es lediglich um das rechte Maß und die Ausgewogenheit, denn es gibt ja noch andere Bedürfnisse und Wünsche, die nicht ins Hintertreffen geraten dürfen.
Ich plädiere sicher nicht für rüde, unsoziale Rücksichtslosigkeit, die die Mitmenschen außer Acht lässt, sondern für einen „gesunden Egoismus“, der eine angemessene Rücksicht auf andere einschließt. Thomas Gordon hat es in seinem Beziehungscredo, das ich in seinem Buch Gute Beziehungen gefunden habe, wie folgt formuliert:
„Wenn wir Konflikte haben, wollen wir versuchen, alle beizulegen, ohne dass einer versucht, sie auf Kosten des anderen zu lösen. Das Recht auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse gestehe ich dir ebenso zu wie mir. Deshalb wollen wir immer nach Lösungen suchen, die für uns beide akzeptabel sind. Keiner wird verlieren, sondern beide werden wir gewinnen.“ (32014, S. 153)
Abgrenzung – pro und contra
Was für Abgrenzung spricht: Wollen wir unsere persönlichen Projekte voranbringen und unsere ureigenen Ziele verfolgen, ist es nötig, unsere Aufmerksamkeit und unsere Energien einigermaßen darauf zu fokussieren. Erst recht als HSP, weil man da noch begrenzter belastbar ist als andere. Hier hilft der Gedanke, dass das Nein anderen gegenüber ein Ja zu sich selbst ist. Wenn wir wissen, wozu genau wir Ja sagen, stärkt das unsere Entschiedenheit.
Ein weiteres zugkräftiges Argument für die Abgrenzung: Ein rechtzeitiges offenes Vertreten des eigenen Standpunkts beugt einem inneren Groll vor, der sich sonst irgendwann in einem destruktiven Gefühlsausbruch entladen könnte oder im Untergrund beziehungszersetzend wirken würde. Menschen, die sich scheuen, offen und klar Grenzen zu setzen, schützen sich unbewusst auf andere Weise, indem sie innerlich auf Distanz gehen, sich verschließen, unterschwellig aggressiv sind.
„Ein Nein aus tiefster Überzeugung ist besser und größer als ein Ja, das nur gesagt wird, um zu gefallen oder um Schwierigkeiten zu vermeiden.“ (Mahatma Gandhi)
Was gegen (zu viel) Abgrenzung spricht: Menschen sind soziale Wesen, Zugehörigkeit ist ihr Lebenselixier. Dementsprechend bedeutet es ihnen sehr viel, gute Beziehungen zu den Menschen in ihrem Umfeld zu haben. Und dafür sind sie verständlicherweise bereit, einiges zu tun. Des Weiteren: Die Stimmungen anderer beeinflussen die eigene Stimmung (besonders bei HSP!). Es ist schön, wenn die Zufriedenheit des Gegenübers auf einen zurückwirkt. Schon deshalb das Bemühen, zu dessen Wohlsein beizutragen. Und: Hilfsbereitschaft ist für viele ein wichtiger Wert, der entsprechend im Handeln seinen Niederschlag finden soll. In den Zusammenhang passt folgendes Goethe-Zitat: „Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich.“
Abgrenzung gepaart mit Hilfsbereitschaft
Wie können nun die beiden Qualitäten Abgrenzung und Hilfsbereitschaft in eine gute Verbindung gebracht werden? Einen sehr praxistauglichen Ansatz finde ich in dem Modell des Werte- und Entwicklungsquadrats von Friedemann Schulz von Thun. Der wesentliche Gedanke dabei ist, dass jede „Tugend“ in der Übertreibung und ohne die ausgleichende Wirkung einer sogenannten „Schwestertugend“ leicht in eine „Untugend“ abrutschen kann; das wäre dann sozusagen „des Guten zu viel“. Schulz von Thun sagt im Buch Kommunikation als Lebenskunst: „Jede Tugend, jedes Ideal, jede menschliche Qualität, eben jeder Wert kann nur dann für das Leben konstruktiv werden, wenn er sich in einer Balance zu einer komplementären ‚Schwestertugend‘ befindet“ (2014, S. 118).
Abbildung: Wertequadrat zu Abgrenzung und Hilfsbereitschaft (nach Friedemann Schulz von Thun)
Abgrenzung und Hilfsbereitschaft können somit als Schwestertugenden gesehen werden. In der Übertreibung würde selbstfürsorgliche Abgrenzung zur hartherzigen Ignoranz, einem egoistischen Verhalten, die andere außen vor lässt und über kurz oder lang sozial isoliert. Auf der anderen Seite würde zu viel der einfühlsamen Hilfsbereitschaft zur selbstschädigenden Aufopferung, zur Selbstaufgabe. Die Qualität „selbstfürsorgliche Abgrenzung“ erfährt also einen günstigen Ausgleich durch die Qualität „einfühlsame Hilfsbereitschaft“. In der Integration der beiden Qualitäten finden das Ich und das Du Beachtung, was ein beziehungsförderliches Wir ermöglicht. Das Ideal ist das flexible Gleichgewicht zwischen den beiden positiven Qualitäten im Sinne eines Sowohl-als-auch.
Jede Verhaltensänderung ist mit Unsicherheit verbunden
Häufig fehlt einfach die Erfahrung mit Verhaltensweisen, die Grenzen aufzeigen und andere nötigenfalls in ihre Schranken verweisen. Wer als Heranwachsender Grenzverletzungen erfahren hat und dagegen nichts auszurichten vermochte, muss als Erwachsener erst ein Gefühl dafür entwickeln, dass er ein Recht auf Grenzen hat. Den persönlichen Raum auszufüllen und zu behaupten, muss erst erlernt werden, allen Befürchtungen, die womöglich damit einhergehen, zum Trotz: Befürchtungen, andere zu kränken, zu verletzen oder zu enttäuschen; Angst, selbst abgelehnt und zurückgewiesen zu werden, in unangenehme Konflikte mit anderen zu geraten; Angst, die Anerkennung zu verlieren, Freunde zu verlieren, allein dazustehen.
Es braucht daher eine gehörige Portion Entschlossenheit, Mut und Experimentierfreude, um trotz Ängsten und Zweifeln Verhaltensänderungen anzugehen. Der Antrieb erwächst aus der zuversichtlichen Annahme, dass mit dem neuen Verhalten letztlich eine deutliche Verbesserung im Leben zu erreichen ist. In einem Zitat von Ambrose Redmoon ist es treffend ausgedrückt: „Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Einschätzung, dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst.“ Erste positive Erfahrungen können in der Folge die Motivation liefern, dran zu bleiben und neue Gewohnheiten zu etablieren. Manch einer wird erstaunt sein, wie problemlos eine überzeugte und überzeugende Abgrenzung aufgenommen wird und wie dadurch das eigene Ansehen sogar steigt.
Ein klares Nein, wenn man Nein meint
Es geht nicht darum, bei beliebigen Gelegenheiten häufiger Nein zu sagen, sondern vielmehr immer eigenverantwortlicher und konsequenter Nein statt Ja zu sagen, wenn man ein Nein empfindet. Es geht um Ehrlichkeit, Authentizität und Echtheit. Doch bevor diese Werte zum Tragen kommen, müssen wir uns erst einmal darüber klar werden, was genau für uns stimmig ist, was wir wirklich wollen und was nicht. Wir können nur die Grenzen aufzeigen und gegebenenfalls verteidigen, von deren Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit wir selbst überzeugt sind. Dazu Schulz von Thun: „Selbstklärung ist die Grundlage für eine klare, kraftvolle Kommunikation“ (S. 98).
Haben wir uns entschieden, einer Erwartung nicht zu entsprechen bzw. ein Ansinnen abzulehnen, tun wir das am besten klar und deutlich und geben dafür eine knappe Begründung, ohne uns allzu wortreich zu erklären und zu rechtfertigen (wozu viele HSP neigen), ohne uns zu entschuldigen oder gar Ausreden zu erfinden. Ein schlichtes „Nein, das passt für mich nicht“ oder „Nein, das will ich nicht“ wird meist am besten akzeptiert, selbst dann, wenn es dem anderen nicht gefällt.
Eine Körpersprache, die nicht mit der verbalen Aussage übereinstimmt, entlarvt ein wackliges Nein. Eine leise Stimme, ein entschuldigendes Lächeln, ein ausweichender Blick schwächen das Nein ab und machen es unglaubwürdig. Ein Kopfschütteln, eine feste Stimme, ein ernster Gesichtsausdruck, ein direkter Blickkontakt hingegen unterstreichen das Nein.
Gefragt ist Kommunikationskompetenz
Vielleicht passt ja auch ein eingeschränktes Nein: „Nein, nicht jetzt/heute/dieses Mal“ oder „Nein, nicht so“ mit anschließenden Gegenvorschlägen, was man anbieten kann – dies allerdings wirklich nur, wenn man dahintersteht und sie aus freien Stücken macht.
Schroff und unfreundlich geäußert oder gekoppelt mit einem Vorwurf „Wie kannst du das nur von mir erwarten?“ wird das Nein eine verärgerte und abweisende Reaktion hervorrufen. Ruhig und vorwurfsfrei vorgetragen, als Ich-Botschaft formuliert, stehen die Chancen für eine moderate und verständnisvolle Reaktion gut. Garantiert ist sie jedoch nicht. Unter Umständen sind wir gefordert, die Enttäuschung unseres Gegenübers da sein zu lassen und die (vorübergehend) entstehende Distanz auszuhalten. Keinesfalls sollte man dem anderen seine Gefühle absprechen.
Zum Abschluss noch ein Gedanke: Eine umfassende Auseinandersetzung mit Abgrenzung hat zwei Seiten. Die Grenzen, die man selbst setzt, und die Grenzen, die einem gesetzt werden. Hand aufs Herz: Wie gut können wir die Grenzen anderer akzeptieren und wahren? Respektieren wir vorbehaltlos den Gestaltungsraum anderer? Verzichten wir darauf, uns über die Wünsche Ihrer Mitmenschen einfach hinwegzusetzen? Das respektvolle Achten der Grenzen anderer ist in meinen Augen eine viel zu wenig beachtete Voraussetzung dafür, dass die eigenen Grenzen respektiert und geachtet werden.
Wenn Sie dieses Thema interessiert, werfen Sie doch mal einen Blick in folgende Bücher:
- Mein Buch-Tipp Nr. 1: „Sei nicht nett, sei echt“ von Kelly Bryson
- Mein Buchtipp Nr. 2: „Gewaltfreie Kommunikation – eine Sprache des Lebens“ von Marshall B. Rosenberg
- Mein Buch-Tipp Nr. 3: „Gute Beziehungen: Wie sie entstehen und stärker werden“ von Thomas Gordon
- Mein Buchtipp Nr. 4: „Kommunikation als Lebenskunst: Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens“ von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun
Kennen Sie das Problem, sich nicht ausreichend abgrenzen zu können? Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Thema? Schreiben Sie uns! Wir freuen uns über Ihre Fragen, Kommentare und Anregungen.
Über die Autorin
Ulrike Hensel ist Coach für hochsensible Menschen, Autorin von „Mit viel Feingefühl – Hochsensibilität verstehen und wertschätzen“ (Junfermann, 2013) und „Hochsensible Menschen im Coaching – Was sie ausmacht, was sie brauchen und was sie bewegt“ (Junfermann, Oktober 2015).
Weitere Informationen zur Autorin und ihrem Coaching erhalten Sie hier.