Das „depressive Gehirn“ verstehen lernen

Warum ist es so schwer, sich bei einer Depression der Gefühle von Unzulänglichkeit und der sich im Kreis drehenden negativen Gedanken zu erwehren? Unsere Autorin Margaret Wehrenberg schreibt über die Themen Angst und Depression regelmäßig in ihrem Blog. Hier hat sie uns einen Artikel zur Verfügung gestellt, in dem sie an einem scheinbar banalen Beispiel die Mechanismen des depressiven Denkens deutlich macht.

 

Erst handeln, dann Ziele bestimmen?!

Von Dr. Margaret Wehrenberg

Es war mal wieder so weit: Jess weinte, weil sie nicht die Anerkennung erhielt, die sie für ihren Artikel in der Hochschulzeitschrift erwartet hatte. Sie fragte: „Warum schicken mir meine Freunde keine Nachricht, wie gut mein Artikel ist? Warum gratuliert mir der Herausgeber nicht? Warum schreibe ich überhaupt, wenn mir niemand die Rückmeldung gibt, dass meine Arbeit gelungen ist?“

„Das ist die richtige Frage“, sagte ich, „Warum hast du den Artikel denn geschrieben?“ Jess war ein wenig verwundert, dass ich keine Diskussion mit ihr darüber begann, dass sie natürlich eine gute Schreiberin sei. Sie wollte in ihrem Kummer schwelgen und über die Motive des Herausgebers und ihrer Freunde spekulieren – was sie, wie ich wusste, bereits zusammen mit ihrem besten Freund getan hatte. Aber weder sie noch ich konnten wirklich wissen, was die wahren Motive der anderen waren. Zu spekulieren war also reine Zeitverschwendung. Als ich diese unnötige Diskussion daher abkürzte und sie bat, einmal in sich hineinzuhören, veränderte sich ihre Stimmung schlagartig.

„Ich liebe es zu schreiben!“, erklärte sie. „Ich schreibe über Dinge, die mich interessieren. Das hilft mir, meine Ideen und Meinungen klar zusammenzufassen.“ Sie redete weiter über das Recherchieren und Schreiben und darüber, dass es einfach purer Spaß für sie sei. Also formulierte ich meine Frage neu: „Warum beschäftigt es dich dann, was andere über deine Arbeit denken?“ Sie runzelte die Stirn.

„Ich will doch wissen, dass ich gut darin bin.“ Einfach aus Spaß zu schreiben schien ihr nicht genug zu sein. Sie brauchte einen Motivationsschub. Und aus ihrer Perspektive würde Lob von anderen ihre Motivation erheblich steigern. Zudem hatte sie Schwierigkeiten damit, selbst an ihr Talent zu glauben, wenn Bestätigungen von anderen ausblieben.

Jess fühlte sich immer schlechter, je mehr sie darüber nachdachte, wie sehr der Herausgeber sie im Stich gelassen hatte. Sie begann an ihren Fähigkeiten zu zweifeln und meinte, niemand würde ihr sagen, dass sie besser aufhören sollte zu schreiben – obwohl die anderen sich vielleicht sogar insgeheim wünschten, dass sie selbst ihre Unfähigkeit erkennen und ihre Mitarbeit bei der Zeitung beenden würde.

Am Beispiel dieses Prozesses, in den Jess hineingeriet, können wir die Probleme eines Menschen mit Depressionen gut nachvollziehen: Zu handeln, bevor man sich selbst im Klaren darüber ist, warum man so handelt und was man eigentlich erreichen will – das macht es schwer, sich über die eigenen Leistungen zu freuen.

  1. Bei einem depressiven Gehirn findet zu wenig Aktivität im Belohnungszentrum statt. Entweder es wird gar keine Freude wahrgenommen oder zumindest nicht in dem Maße, dass es Motivation erzeugt. Das zu tun, was einem liegt, ist für die meisten Menschen eine echte Quelle der Freude. Jess‘ Freude wurde hingegen dadurch getrübt, dass sie sich in ihrem Tun nicht gut genug fühlte.
  2. Das depressive Gehirn tut sich schwer damit, das Positive zu sehen. Der Teil des Gehirns, der verantwortlich ist für die Wahrnehmung von Bedrohung und für möglichen Ärger, ist so stark aktiv, dass negative Gedanken die positiven weit überwiegen. Das führt dazu, dass die Betroffenen letztendlich alles als ein Problem ansehen.
  3. Der Selbstwert wird durch solche depressiven Gedanken in Frage gestellt. Die Gedanken drehen sich nur noch um die eigene Wertlosigkeit und Unfähigkeit. Wenn die Betroffenen auch nur an die Möglichkeit eines Erfolges denken, taucht gleich der hässliche Gedanke „Vielleicht bin ich aber nicht gut genug“ auf. Das ist Bestandteil des Teufelskreises der Depression, der für die geringe Selbstachtung verantwortlich ist und diese auch aufrechterhält. Jess zeigte dieses Problem in höchstem Maße.
  4. Gegen diese Negativität anzugehen erscheint den Betroffenen unmöglich. Für Abwägen und kritisches Hinterfragen bleibt zu wenig Energie, wenn man von einer Depression betroffen ist. Man tut sich schwer damit, positive Ansichten zu erzeugen, wie etwa: „Das geht vorbei“, „Es könnte schlimmer sein“, „Du kommst damit zurecht“, „Trotz der Fehler gibt es auch richtige/gute Aspekte“.

Verstehen, wie das Gehirn funktioniert, um Denkstrukturen positiv zu verändern

Zuallererst ist eine bewusste Entscheidung, die depressiven Gedanken ändern zu wollen, hilfreich. Sie richten sich damit an den Teil Ihres Gehirns, der Emotionen und Gedanken in Richtung positive Erwartung lenkt. Das macht es wahrscheinlicher, dass Sie das Positive auch wirklich sehen. Wenn Ihnen dafür aufgrund der Depression die Kraft fehlt, können Sie dieses Denken stärken, indem Sie sich Energie von anderen vertrauenswürdigen Menschen „borgen“: Indem Jess mit ihrem besten Freund über ihre Eindrücke sprach, konnte sie langsam die negative Einstellung relativieren. In einer Therapie würde sie vielleicht weitere Ermutigung erhalten.

Ein solches Vorgehen hilft bis zu einem bestimmten Grad. Trotzdem fühlte Jess sich immer noch traurig. Durch unsere Gespräche wurde ihr eines endgültig klar: Wenn sie aus ihrer Depression ausbrechen wollte, musste sie begreifen, wie das negative Denken funktioniert, und sich darauf vorbereiten, diese Denkmuster zu stoppen, bevor sie überhaupt einsetzen.

Im Folgenden finden Sie einige Ideen, die wir zu diesem Zweck in der Therapie erarbeitet haben:

  1. Bevor Sie irgendetwas beginnen, machen Sie sich klar, warum sie es tun. Das bezieht sich auf alles, was Sie unternehmen, so unterschiedlich die jeweiligen Aktivitäten auch sein mögen: sich politisch oder für irgendeine Organisation engagieren, einen Blog schreiben, sich für einen neuen Job bewerben oder für einen Studiengang einschreiben. Sich im Vorfeld auszumalen, was Sie erreichen wollen, erhöht die Chance, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Jess wusste, ihr wichtigster Grund zum Schreiben würde immer sein: „Weil ich das Schreiben liebe.“ Das würde ihre positive Erwartung unterstützen.
  2. Entscheiden Sie, bevor Sie loslegen, welches Ergebnis Sie zufriedenstellt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich selbst als kompetent zu erleben, weil Sie genau wissen, ab wann das Ergebnis für Sie ein gutes Ergebnis darstellt. Das ist eine wichtige Herausforderung, weil Sie natürlich die Ergebnisse vorher nicht kennen. Sie können nur den Einsatz gewährleisten, den Sie in die jeweilige Aufgabe investieren. Also seien Sie vorsichtig bei der Wahl Ihrer Beweggründe. Nehmen wir an, Sie wollen eine Wahl gewinnen – das Wahlergebnis können Sie niemals garantieren. Aber: Können Sie stolz darauf sein, wie Sie den Wahlkampf geführt haben? Glauben Sie daran, dass Sie Ihre Ideen bestmöglich präsentiert haben? Können Sie es als Erfahrungswert verbuchen? Wenn Sie nur dann zufrieden sind, wenn Sie als Gewinner aus der Wahl hervorgehen, dann sollten Sie verdammt sicher sein, dass Ihnen der Sieg gewiss ist. In Bezug auf ihre Schreibprojekte muss Jess sich daran erinnern, dass sie zufrieden sein wird, sobald sie ihre Gedanken zu einem Thema erläutert hat.

Darüber hinaus wollte sie aber auch daran glauben können, dass sie ihre Sache gut macht. Also betrachtete sie den nächsten Punkt:

  1. Entscheiden Sie, wie und wann Sie das Ergebnis bewerten. Sie wollen beispielsweise Biologie studieren, um später in der Forschung arbeiten zu können. Wenn Sie erst nach dem Abschluss und einer entsprechenden Anstellung überprüfen, ob Ihre Studienwahl zufriedenstellend war, dann müssen Sie eine lange Wartezeit in Kauf nehmen. Bei welchen Meilensteinen könnten Sie Ihr Handeln reflektieren und sich selbst sagen, dass Sie eine gute Wahl getroffen haben? Könnten Sie das zum Beispiel am Ende jedes Semesters überprüfen und sich fragen, ob Sie die Seminare gemocht und erfolgreich besucht haben? Wie sieht es nach einem Praktikum aus? Jess wollte wissen, dass Sie gut war im Schreiben, aber sie geriet unter Druck, weil sich ihre eigene Bewertung auf dem Lob ihrer Freunde gründete. Besser wäre es, wenn der Herausgeber sie um einen weiteren Beitrag bitten würde und sie dies als Indikator für die Qualität ihrer Arbeit ansehen könnte. Wenn sie dann zusätzlich von anderer Seite Lob erhalten würde, könnte sie das zur Kenntnis nehmen und wertschätzen.
  2. Halten Sie Ihre Ziele, Motivatoren und größten Hoffnungen schriftlich fest. Dann platzieren Sie sie dort, wo Sie sie während des Prozesses gut einsehen können. Das Konzentrieren darauf wird Ihren Fokus auf die anstehenden Belohnungen aufrechterhalten.

Finden Sie jemanden, dem Sie vertrauen und der mit Ihnen den Prozess überprüft, während Sie an Ihren Zielen arbeiten:

Jess verstand, dass ihr die obigen Schritte dabei helfen würden, mehr zu schreiben und selbst zu beurteilen, ob es das Schreiben wert war. Lob würde ihren Erfolg noch steigern und sich einfach gut anfühlen. Trotzdem ist es weiterhin nicht einfach für sie zu spüren, wann sie ihre Ziele erreicht hat, denn wie eingangs erwähnt tut sich ein depressives Gehirn schwer damit, Positives zu registrieren oder Freude zu empfinden. Wenn Sie die Möglichkeit haben, holen Sie sich Unterstützung bei einem Freund oder Familienmitglied, um die vier oben genannten Punkte in Ihrem Leben zu integrieren und zu prüfen, wie Ihnen das Umsetzen gelingt. Auf diese Weise helfen andere Ihrem Gehirn dabei, sich bald selbst zu helfen.

Sich vorbereiten, Ziele setzen und erst dann handeln, das macht es einfacher, die Depression zu bekämpfen, bevor sie richtig einsetzt. Sie und Ihre Umwelt werden davon profitieren. Familienmitglieder oder Freunde werden sich ebenfalls besser fühlen, sobald sie in der glücklichen Lage sind, Sie beim Erreichen Ihrer Ziele zu unterstützen.

(Übersetzung: Katharina Arnold)

  Über die Autorin:

Dr. Margaret Wehrenberg ist Expertin für die Behandlung von Ängsten und Depressionen, wobei ihr besonderes Interesse der Neurobiologie psychischer Störungen gilt. Als Psychotherapeutin arbeitet sie in eigener Praxis. Ihre Fachvorträge im Rahmen von Weiterbildungsveranstaltungen erfreuen sich großer Beliebtheit. Weitere Informationen erhalten Sie unter: www.margaretwehrenberg.com

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