Leben mit oder nach der Diagnose Krebs
Von Tag zu Tag
Von Sigrun Kurz
Die Diagnose einer schweren Erkrankung wie Krebs bedeutet fast immer eine schwere Erschütterung im Leben eines Menschen. Nichts ist mehr so, wie es gestern noch war: eben noch gesund, jetzt lebensbedrohlich erkrankt. Wie soll man damit leben? Mit der Bedrohung? Mit so viel Angst? Mit der Verzweiflung? Mit der Unsicherheit?
Lebensfragen
Krebs beinhaltet Fragen an das Leben schlechthin. Zu Beginn der Erkrankung kreist erst einmal alles darum, überhaupt zu überleben. Die moderne Medizin mit all ihren Möglichkeiten ist gefragt. Wir können sie unterstützen, indem wir unsere Selbstheilungskräfte stärken und Hoffnung und Vertrauen in unsere Lebenskraft entwickeln. Da ist es manchmal schon hilfreich, wenn wir uns bewusst machen, was wir – auch körperlich – schon alles bewältigt und geleistet haben. Wenn all das gelungen ist, gelingt es jetzt vielleicht auch.
Wenn von Krebs die Rede ist, denken viele Menschen sofort an Tod und Sterben, seltener an Leben und Überleben. Genau das aber ist die wichtigere Frage. Wie kann ich mit Krebs gut leben und gut überleben?
Gute Überlebenschancen
Wenn wir die internationalen Forschungsdaten ansehen, ist das die alltägliche Frage, um die es Tag für Tag für die meisten Betroffenen tatsächlich geht. Denn auch mit einer Krebserkrankung leben heute immer mehr Menschen, und das oft sehr viele Jahre. Natürlich variiert diese Prognose je nach Tumorart und Diagnosezeitpunkt, aber die Zahlen des Robert-Koch-Instituts belegen es eindeutig: Die Fünf-Jahres-Überlebensraten von Krebspatienten steigen immer weiter. Und die Ergebnisse einer europaweiten Studie liefern eine eindrückliche Bestätigung. Danach überlebten 2007 in Deutschland beispielsweise etwa 84 Prozent der Frauen mit Brustkrebs und ungefähr 89 Prozent der Männer mit Prostatakrebs die Fünf-Jahres-Grenze. Und viele davon leben natürlich auch noch lange darüber hinaus. Wenn man von ungefähr 500.000 Krebs-Neuerkrankungen jährlich in Deutschland ausgeht, wird deutlich, dass es inzwischen Hunderttausende von Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die tagtäglich genau das leisten: Leben mit oder nach Krebs.
Diese Zahlen sind natürlich sehr beeindruckend und ermutigend. Aber sie machen die Problematik für jede einzelne erkrankte Person nur bedingt kleiner. Schließlich weiß niemand, ob er oder sie – auch bei allerbesten Wahrscheinlichkeitsvorhersagen – zu der großen Mehrheit derer gehört, die es schaffen oder nicht. Statistiken erlauben nur eine Aussage für das gesamte Kollektiv; sie geben Wahrscheinlichkeiten. Sie sagen aber letztlich nichts über den tatsächlichen individuellen Verlauf. Diese Unsicherheit bleibt jeder einzelnen betroffenen Person und muss über lange Zeit immer wieder neu bewältigt werden – eine erhebliche psychische Belastung. Sie kommt hinzu zu all den Beschwernissen der Erkrankung selbst und den Behandlungen wie Operation, Chemotherapie, Bestrahlung, medikamentöse Therapien und den Behandlungsfolgen. Dieses Gesamtpaket von Belastungen ist eine große Aufgabe, die es zu meistern gilt.
Erinnerung an die Endlichkeit
Die Krebserkrankung macht uns damit etwas bewusst, was wir im Alltag zwar alle wissen, aber gerne beiseiteschieben und am liebsten vergessen: Das Leben ist verletzlich und begrenzt. Wir wissen alle, dass wir irgendwann von dieser Welt gehen müssen, aber niemand weiß, wann der Zeitpunkt ist. Das gilt für alle Menschen: Kranke und Gesunde. Insofern stellt uns die Krebserkrankung nicht tatsächlich vor neue Fragen; sie macht uns die Kernfragen des Lebens nur messerscharf bewusst und präsent: Wie gestalte ich mein Leben? Wie gelingt es mir, gut zu leben? Was ist mir wichtig und was nicht? Was ist mein Weg in diesem Leben?
Mit der Krankheit leben lernen
So ist Krebs immer auch eine Frage an das Wie in unserem Leben. Schon bald geht es nicht mehr nur darum, ob wir überleben, sondern darum, möglichst gut zu überleben. Das ist die Frage nach der Lebensqualität. Jetzt beginnt die große Aufgabe, die Krebserkrankung in das alltägliche heutige Leben zu integrieren. Es nutzt nichts, damit zu hadern, dass ich die Erkrankung habe oder hatte. Ich muss mich entscheiden: Will ich lernen mit ihr und den Auswirkungen und vielleicht auch Einschränkungen zu leben und das möglichst gut? Oder will ich zulassen, dass ich mir mit Grübeln und düsteren Gedanken das Heute schwermache – schwerer als es ist. Dann würde ich mir selbst ein Stückchen von dem Leben, was möglich wäre, nehmen.
Krebs ist eine Lebenskerbe, so wie es so einige Kerben und Einschnitte in jedem Leben gibt. Das Entscheidende ist die Art, wie wir damit umgehen. Wir können die Einschnitte und Verletzungen beklagen, bejammern, begrübeln. Oder wir können lernen, sie neu zu füllen mit guten Inhalten. Und dazu gehören die Fragen: Was gibt meinem Leben Sinn? Was erfüllt mich? Wofür kann ich mich begeistern? Was bewegt mich? Was ist mir wirklich wichtig?
Der Einfluss der Gedanken
Ein entscheidender Faktor für diese Bewältigungsaufgabe sind unsere Gedanken und unsere Bewertungen. Sie entscheiden ganz wesentlich mit darüber, wie wir uns fühlen. Wenn ich mich ständig in einem gedanklichen „oh wie schrecklich“ bewege, werde ich mich auch schrecklich fühlen, bedrückt, deprimiert. Und dieses miserable Gefühl wird einhergehen mit entsprechend schlechter körperlicher Befindlichkeit. Wenn ich hingegen Platz einräume für Gedanken wie „Was geht trotzdem?“ oder „Ich will das Heute auskosten, so gut es geht“, kann ich gegensteuern; die Gefühle stabilisieren sich und auch dem Körper geht es besser. Unsere Gedankenwelt hat einen großen Einfluss auf unser Befinden. Diese stärkende Sichtweise ist nicht selbstverständlich. Wir müssen sie üben – aber unser Gehirn lernt schnell. Je öfter wir diese freundlichen Gedanken benutzen, umso mehr werden sie neuronal vernetzt und damit gefestigt, und unser Gehirn bevorzugt die gut trainierten Gedankengänge. Wir müssen nur die richtigen Bahnen legen.
Selbstfürsorge
Eine weitere Stärkung für das Leben mit der Krankheit ist die Art und Weise, wie ich mit mir selbst umgehe. Wenn ich achtsam, fürsorglich und liebevoll mit mir bin und meine Aufmerksamkeit auf kleine angenehme, wohltuende Aspekte des Heute lenke, werde ich mich besser fühlen. Dann bin ich gut versorgt und (von mir selbst) geliebt. Wenn ich bewusst für die Gegenwart lebe, erfahre ich ein erfülltes Heute. Das gibt mir morgen gute Erinnerungen. Und gute Erinnerungen an das Gestern sind Stärkung für jetzt und heute. Daraus ziehen wir Kraft und Zuversicht für morgen und die Zukunft. Also lohnt es sich, zu überlegen, was mir heute gut tut, was mir Kraft gibt (ohne mich zu verausgaben), und es auch umzusetzen.
Leben mit dem Sonnenblumenprinzip
Niemand weiß, was morgen kommt, die Zukunft ist uns allen letztlich unbekannt, aber das Jetzt und Heute – das erleben wir gerade. Und das gestalten wir selber mit. Also: Gestalten wir es doch so gut und erfüllt wie irgend möglich. Genau dies besagt das Sonnenblumenprinzip. Genau wie diese großen und kraftvollen Blumen, die sich im Tagesverlauf immer dem Licht zuwenden und ihm folgen, so haben auch wir die Möglichkeit, für Stärkung und vielleicht sogar Aufblühen zu sorgen. Wir müssen es nur genauso machen: dem Licht zuwenden, dem was uns Wärme gibt und uns kräftigt. Und das sind oft ganz kleine Dinge: ein Lächeln, eine freundliche Geste, eine angenehme Melodie, der Duft einer Blüte, ein Streicheln, ein Foto, vielleicht sogar nur eine Farbe, das Sonnenlicht oder auch ein Regentropfen im Gesicht. All das sagt mir: Ich lebe! Und das ist wunderbar.
Auch wenn unser Körper vielleicht eingeschränkt oder reduziert ist, die Welt unserer Vorstellungskraft steht uns voll zur Verfügung. So ist es für viele Menschen gerade bei Krankheit, Schmerz und schlechter körperlicher Verfassung eine Möglichkeit, mit der Hypnose in die Welt der Phantasie zu reisen. Dort können wir uns trösten und stärken, uns aufbauen oder einfach auch nur erholen. So können wir uns selbst in Eigenregie immer wieder Sonnenstrahlen in die Tage und Nächte holen.
Ein guter Start in den Tag
Es hat sich für viele Betroffene sehr bewährt, jeden Tag mit einer Mini-Trance zu beginnen: ein innerer kleiner Ausflug an einen guten stärkenden Ort, vielleicht an den Lieblingsstrand oder in einen wunderschönen Garten, vielleicht zum Regenbogen oder ein erfrischendes Bad im See. Und dazu ein kleines vollständiges Lächeln um Mund und Augen auf das Gesicht legen – manchmal kommt es schon von ganz allein bei der stärkenden schönen Phantasie. Und diese angenehme Vorstellung wird dann verbunden mit einem Leitsatz, einem Motto, wie „Ich sorge für mich“ oder „Ich mach was aus heute“ oder „Mir geht es gut“.
Prinzip der kleinen Schritte
Entscheidend ist es, sich für jeden Tag ganz bewusst kleine positive Dinge vorzunehmen. Das können winzig kleine Aktivitäten sein, aber solche, die mich mit Freude erfüllen. So sind es viele kleine Schritte, die uns stärken. Und kleine Schritte gelingen leichter als große. Der Alltag besteht schließlich auch im Wesentlichen nur aus vielen Kleinigkeiten. Es geht darum, sie wahrzunehmen und zu würdigen und die angenehmen und schönen Momente zu vermehren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dabei ist: Nicht nur das, was ich bekomme, sondern auch das, was ich gebe, kann mich stärken. Wenn ich etwas zu geben habe, macht mich das für irgendjemand anderen wichtig und wertvoll, und das wiederum erfüllt mich selbst und stärkt mich.
Grundlagen für jedes Leben
All diese Strategien sind natürlich nicht nur für Menschen mit oder nach einer Erkrankung hilfreich. Sie sind universell gültig, auch für Gesunde. Nur jetzt werden sie besonders gebraucht und müssen ganz bewusst eingesetzt werden. Aber sie sind Grundlagen für ein zufriedenes Leben überhaupt. Erkrankungen machen uns die Notwendigkeit nur deutlicher.
Das klingt alles so einfach, aber natürlich ist es manchmal auch ziemlich schwer. Es ist klug, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, beispielsweise in einer psychoonkologischen Beratung oder Behandlung. Denn es sind mitunter tiefgreifende Veränderungen unseres Umgangs mit uns selbst notwendig. Es geht darum, wie es der berühmte Psychoonkologe LeShan ausdrückte, die Melodie des eigenen Lebens zu finden. Und jeder Tag stellt uns wieder neu vor dieselbe Aufgabe, und so können wir sie auch nur erfüllen: Tag für Tag, immer wieder neu.
Dr. phil. Sigrun Kurz, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, arbeitet in eigener Praxis in Bremen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit schweren körperlichen oder chronischen Erkrankungen, psychosomatischen Störungen und Unfallfolgen.
Im Junfermann Verlag ist von ihr das Buch Verborgene Kräfte wecken. Stärkende Selbsthypnose bei Krebs erschienen.
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