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ADHS – eine oft nicht zutreffende Diagnose

Anfang März lese ich in der Tageszeitung: Viele Kinder im Grundschulalter erhalten die Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)“ und die entsprechenden Medikamente – in Wirklichkeit sind sie jedoch nur noch nicht reif für die Schule.

„Ein Hammer!“, denke ich. Wer aber behauptet das und auf welcher Grundlage? Wissenschaftler der University of British Columbia in Vancouver (Kanada) haben Ergebnisse einer breitangelegten Studie vorgelegt. Untersucht wurden fast 1 Million Kinder im Alter von 6-12 Jahren über einen Zeitraum von 11 Jahren. Als sehr auffällig erwies sich, dass besonders oft Kinder die Diagnose ADHS erhielten, die erst kurz vor dem Einschulungsstichtag geboren wurden. In ihren Klassen waren sie also die jüngsten Schüler – und zeigten überdurchschnittlich häufig ein „unangepasstes Verhalten“.

Unreifer als der Rest der Klasse bzw. noch nicht schulreif: Zu diesem Schluss kommen die Wissenschaftler. Und Lehrer, Ärzte und Eltern? – Sogenannten „Verhaltensauffälligkeiten“ wird immer öfter mit Pillen begegnet. Unter der Headline „Psychopillen statt Pausenbrot“ veröffentlichte der Spiegel im Jahr 2010 eine Grafik, aus der hervorgeht, dass deutsche Apotheken im Jahr 1993 insgesamt 34 kg des Wirkstoffes Methylphenidat (hauptsächlich unter dem Namen „Ritalin bekannt) erwarben; 2009 waren es bereits 1735 kg. – Wer Spaß daran hat, kann sich die Steigerungsrate ausrechnen … Mir reichen die nackten Zahlen, sie lassen mich gruseln!

 

Das Märchen vom ADHS-Kind? Vor zehn Jahren, also Anfang 2002, brachten wir bei Junfermann das Buch „Das Märchen vom ADHS-Kind“ von Thomas Armstrong heraus. Der Autor vertritt die provokante These: „ADHS gibt es nicht“. Er untersucht diverse Mythen im Zusammenhang mit der „Modediagnose“ ADHS und zeigt u.a., welches Interesse die Pharmaindustrie an ihr haben könnte. Gleichzeitig beleuchtet er die Phänomene Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität von einer ganz anderen Seite: Müssen wir sie zwangsläufig als Defizite ansehen? Könnte es sich nicht auch um Fähigkeiten handeln? Ergänzend zu diesem eher positiven Bild stellt Thomas Armstrong 50 nicht-medikamentöse Strategien vor, um auf ein als schwierig empfundenes kindliches Verhalten einzuwirken.

Ich beschäftigte mich seinerzeit etwas intensiver mit dem Thema und fand heraus, dass es damals (wie heute) keine wirklich gesicherte Form der ADHS-Diagnose gab. Gleichwohl wurde zunehmend ADHS – hauptsächlich bei Schulkindern – angenommen. Ich las über die vermeintliche „Volksseuche“ und stellte mit Erschrecken fest, wie leichtfertig anscheinend „Psychopillen“ verabreicht wurden. Gleichzeitig lernte ich aber auch die andere Seite kennen: betroffene Eltern, die alles andere als leichtfertig Medikamente verabreichten. Sie wussten häufig keinen anderen Ausweg, das Leben mit vollkommen überdreht wirkenden Kindern in den Griff zu bekommen und vor allem zu gewährleisten, dass die schulische Situation nicht völlig aus dem Ruder lief.

 

Was bewirkt die Diagnose ADHS? Wenn ich mir vorstelle, dass der oben erwähnten Studie zufolge unzählige Kinder grundlos mit Medikamenten vollgestopft wurden, dass ihnen – unberechtigterweise – der Stempel „ADHS“ verpasst wurde, dann kann etwas fundamental nicht in Ordnung sein. Nicht nur die zahlreichen Nebenwirkungen der verabreichten Medikamente sind bedenklich: Appetit-, Schlaf- und Wachstumsstörungen sowie ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Auch die Diagnose selbst wirkt sich negativ für die Betroffenen aus. Möglicherweise verhalten sich Lehrer, Eltern und Erzieher ihnen gegenüber anders, weshalb psychische Folgen, Ängste oder Probleme mit dem Selbstwertgefühl nicht auszuschließen sind.

„Ich bin der Auffassung, dass Kinder, die unter Aufmerksamkeits- und Verhaltensproblemen leiden, in ihrem Kern völlig normale und gesunde Menschen sind – dass sie nicht unter einer medizinischen Störung leiden. Ich bin nicht der Meinung, dass diesen Kindern durch eine medizinische Diagnose, ein entsprechendes Etikett und eine sorgsam ausgewählte medizinische Behandlung am besten geholfen werden kann, sondern indem man auf jene nährende, anregende und ermutigende Weise mit ihnen umgeht, die allen Kindern zugutekommt.“ – Dieses leidenschaftliche Plädoyer stammt von Thomas Armstrong. Und heute wie vor 10 Jahren empfinde ich diese Haltung als sympathisch.

Heike Carstensen

 

Einen Bericht über die Ergebnisse der kanadischen Studie kann man hier nachlesen.

Die Grafik über den Methylphenidat-Absatz findet sich hier.

Und hier gibt es Informationen zum Buch von Thomas Armstrong.