Beiträge

Damit Meetings nicht zum Zeitdieb werden

Mehr Zielorientierung und Motivation in Besprechungen

Von Stefanie Hecker

Endlosdiskussionen, die zu keinem Ergebnis führen, Entscheidungen, die wieder und wieder vertagt werden, Kollegen, die sich am liebsten selber reden hören … – Diese Aufzählung können Sie wahrscheinlich um eigene frustrierende Meeting-Erfahrungen ergänzen, oder?

Ich selbst habe am Anfang meines Berufslebens als Referentin Protokolle über diese Art von Sitzungen schreiben müssen. Als Berufsanfängerin der totale Horror. Und schon damals fragte ich mich, ob es nicht zielgerichteter zugehen könnte.

Eine Studie aus dem Jahr 2016 (nach Groll 2016) belegt, dass Mitarbeiter im Durchschnitt pro Woche (!) mindestens einen halben Tag in unproduktiven Meetings verbringen, Führungskräfte sogar einen ganzen Tag.

Nachdem mich Teilnehmende in meinen Zeitmanagement-Seminaren immer wieder auf genau dieses Problem ansprachen und um Lösungen baten, fasste ich den Entschluss, dem „Meeting-Problem“ systematisch auf die Schliche zu kommen, zu klären, warum Meetings eigentlich so unbeliebt geworden sind, und was man dagegen tun kann. Herausgekommen ist mein Buch Meetings und Besprechungen lebendig gestalten.

Eine meiner ernüchterndsten Erkenntnisse, die ich aufgrund meiner Recherchen für dieses Buch erwarb, war, dass sich in Meetings noch immer die Beteiligten durchsetzen, die die dominanteste Körpersprache haben, und nicht die mit den besten Argumenten. Kein Unternehmen, keine Institution kann so jemals besser werden!

 

 

 

 

 

Um es kurz zu machen: Es gibt Wege aus der Besprechungsfalle! Folgende vier Faktoren bilden den Kern einer lebendigen und effektiven Meetingkultur:

  1. Beteiligung,
  2. Ergebnisse,
  3. Dramaturgie und
  4. Abschluss.

Sie sind der Schlüssel zu fruchtbarem – das heißt: zielorientiertem – Austausch.

Die „Hauptrolle“ kommt dabei dem Faktor Beteiligung zu. Denn damit geht die Misere oft schon los: Wer sollte überhaupt anwesend sein? Braucht ein Meeting Zuhörer? Ich meine: Nein! Es sollten nur MitarbeiterInnen eingeladen werden, die auch einen Beitrag zum Thema und der Zielerreichung leisten können. Teilnehmende müssen sich aktiv am Geschehen beteiligen können. Wer nur stillschweigend dabeisitzt, weil sein oder ihr Fachgebiet nur gestreift wird, kann seine Zeit wirklich besser nutzen! Ein Protokoll im Anschluss der Sitzung reicht dann allemal.

Aber wie holt man die introvertierten KollegInnen geschickt ab, die aus dem Ring steigen, sobald die „Alphas“ ihren Auftritt haben? Für die Stillen unter uns gibt es nichts Schlimmeres, als unvorbereitet mit der Frage „Herr Müller, was sagen Sie denn dazu?“ überrumpelt zu werden.

Verschiedene Moderationstechniken wie etwa die Blitzlichtfrage können da Abhilfe schaffen: Es handelt sich beim Blitzlicht um eine allgemeine (offene) Frage, die die Besprechungsleitung zu Beginn, im Verlauf oder zum Ende eines Meetings allen Teilnehmenden stellt. Beispiele für solche Fragen sind etwa:

  • „Das heutige Meeting möchte ich mit einer Frage an Sie beginnen: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage bezüglich XY ein?“
  • „Welche Themen beschäftigen Sie im Moment?“
  • „Wie ist Ihre Meinung zum Thema XY?“

Gewartet wird, bis alle geantwortet haben. So werden auch die introvertierten MitarbeiterInnen einbezogen, und zwar ganz ohne „Vorführeffekt“. Und nebenbei werden die Wortführer in ihrer Raum einnehmenden Präsenz in Zaum gehalten.

Gerade darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht: Wie geht man eigentlich mit Alpha-Tieren im Meeting um? Es wäre unklug, sie vor versammelter Mannschaft in ihre Schranken zu weisen. Aber sie beständig wieder einzufangen, das ist – aus meiner Erfahrung – eine weitere notwendige Aufgabe der Besprechungsleitung. Manchmal hilft auch ein wertschätzendes, aber deutliches Vier-Augen-Gespräch, in dem ihre Energie kanalisiert wird. Glauben Sie mir: Ihre MeetingteilnehmerInnen werden es Ihnen danken!

Die primäre Aufgabe der Besprechungsleitung ist es also, dafür zu sorgen, dass alle Beteiligten ihre Expertise einbringen können, Ergebnisse erarbeiten und an einer gemeinsamen Zielerreichung mitwirken können und wollen. Denn im Kontext einer komplexer werdenden Arbeitswelt wird das Zulassen vielschichtiger Meinungen unverzichtbar und kann zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Auch steigt so die Motivation zur Beteiligung an einer Besprechung mühelos.

Doch nicht immer hat man das Geschehen in einer Besprechung selbst in der Hand, werden Sie einwenden. Als Eingeladener ist man manchmal ja der Besprechungsleitung ausgeliefert. Ist das wirklich so? Ich kann Ihnen versichern, es gibt immer eine Möglichkeit, aktiv mitzugestalten. In meinem Buch habe ich am Ende jedes Kapitels die wichtigsten Tipps und Vorgehensweisen aus beiden Perspektiven zusammengestellt:

  1. Was kann ich in der Rolle der Besprechungsleitung tun?
  2. Wie kann ich als betroffener Teilnehmer/betroffene Teilnehmerin eine ziellose Sitzung aktiv lenken?

Wenn Sie, hoffentlich inspiriert von den Tipps und Tricks aus dem Buch, Ihre Besprechungen auf den Prüfstand stellen, werden Sie feststellen, dass gut strukturierte Meetings, in denen alle TeilnehmerInnen eingebunden sind, schneller zu fundierten Resultaten führen. Der höhere Aufwand für die Vorbereitung zahlt sich doppelt aus: Langfristig werden Sie weniger Meetings haben, zu denen die Teilnehmenden motivierter erscheinen. Die vier von mir vorgestellten Erfolgsfaktoren dienen also einem höheren Zweck: Bessere Resultate – weniger Meetings! Mehr Zeit für die (noch) schöneren Dinge im Leben!

 

 

Über die Autorin:

Stefanie Hecker ist Diplom-Geographin und Personalentwicklerin. Zunächst war sie als Referentin in der internationalen Wirtschaftsförderung tätig, später erfolgte die akademische Weiterbildung zur Personalentwicklerin. Seit 2000 arbeitet sie als Trainerin für Kommunikation, Konfliktmanagement und Moderation von Besprechungen. Ihr Spezialgebiet sind Zeitmanagement und Selbstorganisation. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

 

Quelle:

Groll, T. (2016): „Meetings: Überflüssige Arbeitstreffen kosten einen halben Arbeitstag pro Woche“. Zeit online vom 21.12. Einzusehen unter https://www.zeit.de/karriere/2016-12/meetings-arbeitszeit-verlust-studie

Was bedeutet – für Sie persönlich – ein gelungenes Leben?

Raum für Neues

Alle Menschen wünschen sich ein Leben, das ihrer Persönlichkeit, ihren Bedürfnissen und Interessen entspricht. Ein gelungenes Leben also. Was „gelungen“ aber genau bedeutet, entscheidet jeder selbst. Und da beginnt die Herausforderung. Unsere Freiheit beglückt und verunsichert uns zugleich. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken. Unzufriedenheit erfüllt sie, obwohl sie doch scheinbar alles haben, um glücklich zu sein.

Das neue Buch von Andrea Landschof Das bin ich!? richtet sich an Menschen, die Lust auf Veränderung haben und ihre verborgenen Talente entdecken möchten. Es hilft dabei, Lebensgeschichten (und -lügen) zu überprüfen und den Blick zu weiten auf noch nicht genutzte Chancen und Potenziale. Mit Methoden der Transaktionsanalyse gelingt es, unsere Persönlichkeit und unsere Beziehungen zu uns selbst und anderen zu reflektieren, zu verstehen sowie Veränderungen zu initiieren.

 

Lust auf einen ersten (Lese-)Eindruck? Na, dann los …

***

Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser,

gehören auch Sie zu den Menschen, die ihren persönlichen und/oder beruflichen Weg aus den Augen verloren haben? Haben Sie das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken? Vielleicht sind Sie unzufrieden und drehen sich im Kreis; wissen nicht, ob Sie gehen oder bleiben sollen und ob die Entscheidung, zu der Sie tendieren, tatsächlich die richtige ist. Sie empfinden Leidensdruck aufgrund der aktuellen Situation und haben dennoch Angst vor einer Veränderung? Sie können nicht genau sagen, was Ihnen fehlt oder woher Ihre Unzufriedenheit rührt? Sie sind unsicher und wissen nicht, was Sie wollen – oder gar können – und wie Sie eine Veränderung initiieren sollen? – Dann begeben Sie sich mithilfe dieses Buches auf eine ganz persönliche Zeitreise und lassen Sie sich überraschen, was in Ihnen steckt!

Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, über welche Möglichkeiten sie verfügen. Unsere frühen Prägungen haben oftmals unsere Potenziale untergraben. Sie wurden verdrängt oder abgespalten, weil sie nicht gefragt, nicht erlaubt oder nicht erwünscht waren. „Kinder mit einem Willen kriegen was auf die Brillen!“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ oder „Sei sittsam und bescheiden, das ist die schönste Zier, dann kann dich jeder leiden, und dieses wünsch ich dir“ sind möglicherweise früh übernommene Glaubenssätze, die uns noch heute beeinflussen und boykottieren können. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen, weil wir den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und Impulsen verloren haben. Wir zeigen keine Gefühle, weil diese uns selbst fremd geworden sind, und verhalten uns anspruchslos und angepasst. So bewegen wir uns jedoch mit angezogener Handbremse durchs Leben. Unsere in uns schlummernden Talente liegen brach. Dabei geht es im Leben doch darum, Veränderungen kraftvoll und selbstbestimmt zu gestalten, gute Entscheidungen zu treffen und neue Pfade zu gehen, zu sich zu stehen, mit Rückschlägen konstruktiv umzugehen, mit unliebsamen Gewohnheiten zu brechen oder gesetzte Ziele zu verfolgen.

Es muss also etwas anders werden, damit sich die Unzufriedenheit in Zufriedenheit und innere Ruhe verwandelt.

Seit über drei Jahrzehnten beschäftige ich mich mit persönlicher und beruflicher Entwicklung. In meiner Arbeit als Beraterin und Ausbilderin begegnen mir viele Menschen, die in Sackgassen feststecken und wieder Vertrauen in ihre eigene Selbstwirksamkeit gewinnen möchten, die sich fragen: „Wer bin ich eigentlich?“ und „Wohin möchte ich mich verändern?“. Sie wünschen sich Gewissheit, all ihre Potenziale und Talente im Leben auszuschöpfen.

Talent meint im Volksmund in der Regel eine besondere Begabung mit hervorstechenden Merkmalen, die nicht selten geldwerte Vorteile bringt. Es herrscht dabei heute noch der Mythos eines begnadeten Genies vor, dem alles ohne Mühen zufliegt. Wenn ich in diesem Buch von Talenten spreche, verbinde ich damit allerdings keine außerordentliche Begabung oder besondere Leistungsvoraussetzung einer Person auf einem bestimmten Gebiet. Es geht nicht um Talente, die sich mit genetischer und sozialisationsbedingter Unterstützung als überdurchschnittliche Fähigkeiten zeigen, die dann durch Übung weiter gefördert werden. So möchte ich Talente an dieser Stelle nicht verstanden wissen, sondern vielmehr als generelle Anlage und die Befähigung eines Menschen, sein Leben mit all seinen Herausforderungen zu meistern und dabei seine Fähigkeit zu denken, zu fühlen und zu handeln zu nutzen, um stimmige Lösungen zu kreieren.

Ich gehe davon aus, dass in jedem von uns von Geburt an ein unverwechselbares Wesensmuster angelegt ist. Wir reifen heran zu dem, was den Kern unserer Identität ausmacht, sofern uns die Gelegenheiten dazu gegeben sind und wir die Chancen nutzen, die uns das Leben bietet. Wir sind nicht nur ein von außen determiniertes Wesen, und wir sind nicht nur abhängig von Genetik und soziokulturellen Faktoren. Wir haben die Wahl, den Spuren unseres Wesens und unserer Talente zu folgen. Dabei muss unsere Talententwicklung nicht zu etwas Spektakulärem führen, wie etwa zu bahnbrechenden physikalischen Erkenntnissen im Ausmaß der Relativitätstheorie oder zu grandiosen Kompositionen wie die von Mozart. Talente auszuleben und sich zu etwas berufen zu fühlen kann auch bedeuten, dass Sie Ihren kreativen oder mathematischen Begabungen nachgeben, dass Sie verantwortungsvoll für Ihre Großmutter sorgen oder eine Familie gründen. Vielleicht entspricht es Ihrem Wesensmuster, eine bestimmte Lebensart zu pflegen oder einem bestimmten Hobby nachzugehen. Um seelisch und körperlich gesund zu bleiben, gilt es, unser Wesen zu respektieren und mit uns in Einklang zu bringen. Manche Prägungen drängen uns jedoch von diesem Kurs ab. Und damit geraten auch unsere Talente aus dem Fokus. Und werden zu sogenannten latenten Talenten. Unter latenten Talenten verstehe ich verdeckte, verhüllte, schlummernde, unbewusste, ungenutzte und im Verborgenen liegende Befähigungen, Anlagen und Potenziale des Denkens, Fühlens und Handelns. Um unsere Authentizität zu wahren, gilt es, unsere in uns schlummernden Talente zu entdecken, zu entwickeln und auszuschöpfen.

Die meisten Menschen tragen eine Sehnsucht in sich, ihr Leben so zu verändern, dass sie das Gefühl haben, „heil“ zu sein, wie es einmal eine Klientin ausdrückte. Dieses Buch ist ein Leitfaden und Arbeitsbuch für Menschen, die ihre eingefahrenen Sackgassen überprüfen und die ihre Blicke auf (nicht genutzte) Chancen und (nicht gelebte) Potenziale richten möchten; Menschen, die Lust auf Veränderung haben; die ihr Leben wieder in Passung mit ihrem Wesenskern bringen und es in Verbindung mit ihren äußeren Umständen gestalten wollen.

Sie werden zu einer persönlichen Zeitreise eingeladen, Ihr Leben im Heute zu reflektieren, mit Erfahrungen von gestern umzugehen und Visionen für morgen zu entwickeln. Und dabei soll die Wahrnehmung des bereits Gelungenen nicht außer Acht gelassen werden. Entdecken Sie Ihre verborgenen Talente, um mit deren Hilfe gute Entscheidungen zu treffen, Ihre persönlichen und beruflichen Herausforderungen zu meistern und stimmige und aktuelle Lösungen für unterschiedliche Problemlagen zu kreieren. Dazu spüren Sie aktuelle Störfaktoren auf und prüfen, was für Sie und Ihre Veränderungsprozesse jeglicher Art hilfreich sein könnte: die Komfortzone verlassen, sich von alten Sehnsüchten verabschieden und unsere Potenziale in den Erinnerungen entdecken. Sie entdecken den roten Faden in Ihrem Leben, der sich als Grundmuster Ihrer Persönlichkeit durch Ihre Biografie zieht und der nicht mehr passende und einschränkende Glaubenssätze zum Vorschein bringt. Sie entlarven Ihre Selbstsabotageaktionen. Das heißt, Sie werfen einen Blick auf Ihre unbewusst und selbst entwickelten „Stolpersteine“, mit denen Sie sich bisher in unterschiedlichen Lebenslagen ein Bein gestellt haben, zum Beispiel, indem Sie immer wieder an den „falschen“ Partner oder in den „falschen“ Job geraten sind. Und Sie erhalten Ideen zur Auflösung dieser Glaubenssätze. Mithilfe dieses Buches finden Sie heraus, warum Sie in bestimmten Situationen immer gleich reagieren, obwohl Sie es eigentlich anders wollen, und welche psychologischen Spiele Sie dabei immer wieder unbewusst spielen. Sie entkräften die Antreiber, die Sie im Alltag stressen, und lernen, was Sie brauchen, um stimmige persönliche und berufliche Entscheidungen treffen zu können. Zum Abschluss erfahren Sie, wie Sie sicher durch Zeiten des Umbruchs und der Veränderung kommen. Für die Übergangsphase werde ich Ihnen zur Unterstützung sechs konkrete Handlungsschritte zur inneren und äußeren Neuentscheidung zur Verfügung stellen, die Sie individuell für Ihren Prozess gestalten können.

Sie werden in diesem Buch immer wieder Ausführungen zur Transaktionsanalyse (TA) finden:

Die TA wurde von dem US-amerikanischen Psychiater und Psychotherapeuten Eric Berne (1919–1970) auf der Basis tiefenpsychologischer und verhaltenstheoretischer Ansätze entwickelt. Die TA fördert die Wahrnehmung des eigenen Erlebens, Denkens und der Emotionen und lädt zur Realitätsüberprüfung ein: Stammt mein Fühlen, Denken und Handeln aus dem Gestern oder ist es stimmig mit mir als Person und mit meiner heutigen Lebenswelt? In einfachen Worten umschrieben, bietet die TA Erklärungen für komplexe Sachverhalte in Ihrem Leben. Sie schärft den Blick für das Wesentliche.

Wenn Transaktionsanalytiker auf soziale Interaktionen oder einzelne Personen schauen, leitet sie die Überzeugung, dass Menschen von ihrem Wesen her in Ordnung sind und jeder die Fähigkeit hat zu denken. Transaktionsanalytiker gehen davon aus, dass es jedem Menschen möglich ist, durch das Nutzen seiner ihm innewohnenden Ressourcen autonome Entscheidungen für sich und andere zu fällen und die Verantwortung für diese Entscheidungen zu tragen. Damit verbunden, leitet sich die Lern- und Veränderungsfähigkeit eines jeden Menschen ab. Die Transaktionsanalyse hat das Ziel, Menschen darin zu unterstützen, ein selbst gestaltetes, selbst verantwortetes und autonomes Leben in Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt zu führen. Dazu benutzen wir unsere Fähigkeit zur Bewusstmachung der momentanen Gegebenheiten und unsere Fähigkeit, aus einer Bandbreite verschiedener energetischer Zustände auszuwählen. Diese als Spontaneität bezeichnete Fähigkeit beinhaltet eine Flexibilität, mit der wir in der Lage sind, Alternativen im Fühlen, Denken und Verhalten zu kreieren und im Hier und Jetzt zu handeln. Wir können frei auswählen und entsprechende unterschiedliche Reaktionsmuster einsetzen, ohne auf festgefahrene Erlebens- und Verhaltensmuster zurückzugreifen. Dabei sind wir bereit, uns auf einen echten emotionalen Kontakt mit anderen Menschen einzulassen. Diese Form von Intimität erlaubt es uns, Beziehungen und Begegnungen mit anderen zu gestalten, die frei von Spielen und Manipulationen sind. Wir können Nähe und Zuwendung geben und annehmen. Autonomie wird als „bezogene Autonomie“, die den Menschen in seiner Verantwortung als Teil der Welt darstellt, angesehen. Die TA bietet Instrumente zur Analyse und stellt Strategien zur Veränderung von inneren und äußeren Prozessen zur Verfügung.

Im Folgenden werden Sie die grundlegenden Konzepte der TA kennenlernen sowie Fallbeispiele, Erfolgsgeschichten, Tests und Anregungen zur Selbstreflexion erhalten, mit deren Hilfe Sie Ihre Verhaltensmuster untersuchen, verstehen und verändern können.

Ebenso kann dieses Buch auch von Beratern und Coaches in der Beratungspraxis eingesetzt und zum Thema persönliche und berufliche (Neu-)Orientierung und Entwicklung genutzt werden.

Je nachdem, an welchem Punkt Sie sich gerade befinden, können Sie das Buch chronologisch oder auch abschnittsweise lesen.

Aus Gründen der Lesefreundlichkeit verwende ich die männliche Form, wenn männliche wie weibliche Personen gemeint sind.

Zum persönlichen Schutz der Klienten sind alle Namen von Personen und Daten, die in diesem Buch als Anwendungsbeispiele verwendet werden, von mir geändert worden.

 

1. Alter Trott oder neue Wege? Wie Veränderung gelingt

 

1.1 Die Komfortzone verlassen

Denken Sie gerade intensiv über Ihre aktuelle private und berufliche Lebenssituation nach? Haben Sie Lust, die Ziele, die Sie verfolgen, zu überprüfen? Glauben Sie, dass in Ihnen noch verdeckt liegende Potenziale schlummern, und möchten Sie Ihren latenten Talenten auf die Spur kommen? Dann sind Sie in guter Gesellschaft! Das Bedürfnis nach Sinnerfüllung in Beruf und Privatleben entspricht inzwischen dem Zeitgeist. Das an sich ist völlig legitim und nachvollziehbar. Im Zeitalter des „Anything goes“ haben wir jedoch fast unendlich viele Wahlmöglichkeiten und stehen vor ganz individuellen Entscheidungen, wie wir unser privates und berufliches Leben gestalten wollen. In unserer mobilen Gesellschaft sind die unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitsformen erlaubt. Lebensläufe sind nicht mehr vorgegeben, und entscheidende Veränderungen sind in jedem Lebensalter möglich. Identitäten können frei gewählt werden und laden Menschen zu stetigen Anpassungsleistungen ein. Was ein gelungenes Leben bedeutet, steht jedem frei, selbst zu entscheiden.

In meiner Arbeit erlebe ich die Freude vieler Frauen und Männer über ihre unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten und gleichzeitig ihre damit verbundene Verunsicherung. Die große Auswahl an Lebensentwürfen bietet uns eine bisweilen verwirrende Vielfalt. Viele scheinen erschöpft zu sein ob des stetigen Entscheidungsdrucks und des empfundenen Zwangs, dauerhaft ihr Wohlgefühl zu maximieren.

Um der Dynamik um uns herum gewachsen zu sein und ihr standzuhalten, ist es hilfreich, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und das Leben so zu gestalten, dass wir im Einklang mit uns selbst und der Umwelt leben. Trotz oder gerade wegen der rasanten Veränderungen im Außen ist es wichtig, eine innere Stabilität zu wahren. Sonst werden wir zum Spielball der äußeren Verhältnisse. Psychische Widerstandsfähigkeit, die sogenannte Resilienz, erlangen wir unter anderem, indem wir uns mit der eigenen Biografie aussöhnen und unsere Potenziale ausschöpfen.

(…)

Das klingt zunächst recht simpel. Wie oft haben Sie schon gehört, dass Sie „einfach nur“ Sie selbst sein sollen und auf sich hören müssen, um ein authentisches Leben führen zu können? Aber so einfach ist es für viele Menschen eben nicht, da ihnen das Entscheidende fehlt: Die Erkenntnis, wer sie sind. Sie kennen ihre Potenziale nicht, und auch ihre inneren Motive sind ihnen fremd.

Um das subjektiv „Beste“ in uns zu entdecken, lohnt es sich, unsere Komfortzonen zu verlassen. Und es lohnt sich, unsere Persönlichkeit infrage zu stellen und lieb gewonnene Gewohnheiten abzulegen. Um Platz machen zu können für das Neue in uns.

Wir können auch als Erwachsene unsere Resilienzfaktoren fördern, wenn wir sie als Kind nicht erworben haben. Beispielsweise können Sie in diesem Buch herausfinden, wie die Muster, mit denen Sie die Welt erfassen, Ihre Reaktionen auf Stress- und Entscheidungssituationen prägen. Ganz im Sinne von Aaron Antonovsky (1997), einem israelisch-amerikanische Medizinsoziologen, geht es darum, Ihr Kohärenzgefühl zu stärken. Das Kohärenzgefühl ist eine Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß Sie ein Gefühl des Vertrauens darauf haben, dass Ereignisse und Dinge, die sich im Lauf Ihres Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit), Ihnen Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen dieser Ereignisse und Dinge zu begegnen (Bewältigbarkeit), und dass diese Anforderungen allesamt Herausforderungen sind, die Ihre Anstrengung und Ihr Engagement wert sind (Sinnhaftigkeit).

Im Zusammenhang mit Persönlichkeits- und Potenzialentwicklung ist auch die Frage interessant, ob unsere Persönlichkeit eigentlich festgelegt ist – oder in welchen Bereichen und in welchem Ausmaß wir uns oder unsere Charaktereigenschaften verändern können. Damit verbunden sehe ich auch die Frage, auf welche Weise wir Menschen an unsere Potenziale herankommen. Können wir überhaupt etwas entwickeln, das nicht da ist? Und wenn es vorhanden ist – als im Verborgenen liegende Ressource angelegt –, wie kommen wir dann an die Potenziale heran und können sie „ent-wickeln“?

Unterschiedliche Erklärungsansätze gehen heutzutage davon aus, dass unsere Persönlichkeit teilweise genetisch verwurzelt und teilweise durch Sozialisation geprägt ist. Ruhen Sie sich bitte nicht darauf aus, dass Sie dieses oder jenes vererbt bekommen haben oder dass Sie unwiderruflich durch Ihre Familie geprägt wurden. Diese Sichtweise würde uns jeglicher Freiheit berauben und uns zu Sklaven unserer Gene und Sozialisation machen. Unsere Persönlichkeit und damit auch unsere Lebensweise wären in diesem Fall durch innere (genetische) und äußere (sozialisierte) Vorgaben (vor-)bestimmt und eingeschränkt. Manche Persönlichkeitsanteile werden sicherlich immer unverändert bleiben. Sie werden als leiser Mensch nicht von heute auf morgen zu einem lauten Menschen werden. Aus einem extravertierten Menschen wird kein introvertierter Mensch. Wir haben aber die Gabe, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften flexibel und zeitlich begrenzt einzusetzen, auch wenn sie unserer Natur wiedersprechen. So mussten Sie vielleicht auch schon einmal vor einer größeren Ansammlung von Menschen eine Rede halten, obwohl Sie solche Auftritte nicht sonderlich mögen. Mir geht es jedoch nicht um solche strategisch konstruierten und zeitlich begrenzten Aktionen, die wider unsere Natur sind. Es geht darum, dass Sie sich Ihren bisherigen Prägungen entgegenstellen und diese hinterfragen. Es ist möglich, über die beiden Einflussfaktoren Gene und Umwelt hinaus unsere individuellen Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu verändern und die darin liegenden Potenziale ans Tageslicht zu bringen.

Lassen Sie uns mit einer Übung zur Potenzialentwicklung beginnen, und spüren Sie nach, ob Ihre Komfortzone dadurch berührt wird.

Bei der folgenden und allen anderen praktischen Übungen in diesem Buch sind Sie eingeladen, in Ihrem eigenen Tempo zu arbeiten und diesem entsprechend Pausen einzulegen, bevor Sie weiterlesen. Manche Fragestellungen und Anregungen benötigen vielleicht ein wenig mehr Zeit, damit das Gelesene und von Ihnen Geschriebene „sacken“ kann. Unterbrechen Sie dann gern die Aufgaben, gehen Sie spazieren oder unterhalten Sie sich mit einem lieben Menschen über Ihre Gedanken. Die Antworten auf die Fragen zur Selbstreflexion und zum Selbstanalysebogen werden Sie zu einer sehr persönlichen Zeitreise einladen. Sie identifizieren Ihre Schwachstellen und neuralgischen Punkte als auch Ihre Stärken und Ressourcen. Gehen Sie bitte nachsichtig und milde mit sich um. Alles, was Sie bisher entwickelt haben, hatte seinen Sinn und Zweck und seine Berechtigung zu seiner Zeit. Ich finde, es verdient eine Würdigung, dass Sie Ihr Leben auf Ihre eigene Art und Weise bis hierhin und heute gestaltet haben.

Die erste Anregung zur Selbstreflexion finde ich sehr wirksam, wenn es darum geht, unsere persönlichen Komfortzonen zu verlassen. Hinterfragen Sie Dinge, von denen Sie glauben, sie nicht zu können, oder von denen Sie glauben, sie tun zu müssen.

 

Anregung zur Selbstreflexion 1:  „Ich kann nicht“ und „Ich muss“

Schauen Sie auf Ihre derzeitige Lebenssituation und auf all das, was Sie meinen, nicht zu können. Typische Antworten wären zum Beispiel: „Ich kann diese Ungerechtigkeiten von X nicht mehr ertragen“ oder „Ich kann nicht Klavier spielen“. Lassen Sie sich Zeit und schreiben Sie so viele Sätze, wie Sie mögen, zu diesem Satzanfang auf.

Ich kann nicht …

Denken Sie nun an Dinge, von denen Sie glauben, dass Sie sie tun müssen. Zum Beispiel: „Ich muss jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen und zur Arbeit gehen“ oder „Ich muss nachgiebiger werden“. Schreiben Sie einfach alles das auf, was Ihnen spontan aus Ihrem privaten und beruflichen Bereich einfällt:

Ich muss …

 

„Ich will nicht“

Wiederholen Sie nun bitte Ihre Ich-kann-nicht-Sätze und ändern Sie sie um in Ich-will-nicht-Sätze (z. B. „Ich will diese Ungerechtigkeiten von X nicht mehr ertragen“).

„Ich entscheide mich“

Wiederholen Sie nun Ihre Ich-muss-Sätze und ändern Sie sie um in Ich-entscheide-mich-Sätze (z. B. „Ich endscheide mich, jeden Morgen um sechs Uhr aufzustehen“).

Welche Auswirkungen hat das Ersetzen der Formulierung „Ich muss …“ durch „Ich entscheide mich …“ für Sie? Was verändert sich dadurch für Sie? Warum ergeben die Änderungen für Sie einen Sinn und warum nicht?

Haben Sie gemerkt, welchen Unterscheid der Austausch von „Ich kann nicht“ durch „Ich will nicht“ macht?

Einige Sätze bleiben natürlich in ihrer Wirkung bestehen und lassen sich durch die neuen Satzanfänge kaum umwandeln (zum Beispiel: „Wir müssen alle sterben“). In meinen Seminaren kommt daher zu Recht immer wieder die Frage auf, ob es nicht auch Muss-Sätze gibt, die bleiben, weil wir keine Wahl haben. Es gibt tatsächlich einige Sätze, bei denen ein „Ich entscheide mich“ infrage zu stellen wäre. So wie in dem angegebenen Beispiel. Doch wir haben trotz aller Bedingtheit immer die Wahl. Auch in größter Eingeschränktheit können wir bis zuletzt entscheiden, wie wir den jeweiligen Situationen begegnen. Beim Thema Sterben wäre es interessant, darüber nachzudenken, wie viel leichter wir „gehen“ könnten, wenn wir uns bewusst dazu entscheiden würden.

Als ich die obige Übung vor vielen Jahren in einem Seminar das erste Mal anbot, formulierte eine Teilnehmerin, die selbst als Trainerin arbeitete, den Satz: „Ich kann nicht vor großen Menschenmengen reden.“ Daraus wurde dann: „Ich will nicht vor großen Menschenmengen reden.“ Ihr fiel ein Stein vom Herzen, weil sie damit eine bewusste Willensäußerung machte, dann eine Entscheidung traf und es somit nicht mehr um ein Defizit ging: Ich will nicht und ich entscheide mich, nicht vor großen Massen von Menschen zu reden, weil es nicht meinem Wesen entspricht. (Eine alternative Formulierung könnte lauten: Ich entscheide mich, wann, wie häufig und wo ich es tue, weil es zu meinem Beruf gehört.)

Ende der 90er-Jahre begannen viele Trainerinnen eine Ausbildung zum „Speaker“ und stürmten auf die großen Bühnen. Dadurch entstand bei vielen Kolleginnen und Kollegen ein großer Erfolgsdruck, es ihnen gleichzutun. So auch bei meiner Teilnehmerin. Wie eine innere Erlaubnis, es auf ihre eigene Art zu tun oder zu lassen, wurde daher die Aussage „Ich will nicht“ empfunden. Sie macht selbstbestimmter. Dieses selbstbestimmte „Ich will nicht“ lag zuvor im Verborgenen und war ein latentes Talent, bevor es zum Vorschein und zum Einsatz kam und dadurch sichtbar wurde. Eine Fähigkeit also, die bis dahin nicht genutzt wurde.

Durch die vorausgegangene Übung wird unsere Komfortzone „irritiert“, und wir werden auf die Macht der Worte aufmerksam gemacht. Durch den Austausch von nur einem Verb können Sie Haltung und Gefühl zu einer Situation oder einer Begebenheit verändern! Und damit auch Ihr Verhalten. Sie bringen sich in Kontakt mit Ihren Potenzialen. In den Sätzen, die mit „Ich will nicht“ und „Ich entscheide mich“ beginnen, zeigt sich Ihre Fähigkeit, bewusst und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Etwas nicht zu wollen entspringt einer anderen Haltung, als etwas nicht zu können. Etwas tun zu müssen beinhaltet eine andere Haltung, als sich für etwas zu entscheiden. Haben Sie bemerkt, dass die Verantwortung und die Entscheidung dafür bei Ihnen liegen? Natürlich ziehen Entscheidungen immer Folgen und Konsequenzen nach sich. Damit dürfen wir umgehen und daraus lernen. Und darum geht es!

(…)

***

Das Buch ist ab dem 21. September im Handel erhältlich.

 

Über die Autorin

Andrea Landschof ist Transaktionsanalytikerin, Lehrsupervisorin und Lehrcoach. Als Inhaberin des Beraterwerkes Hamburg, einem Institut für Fort- und Weiterbildung von Berater*innen und Transaktionsanalytiker*innen, begleitet sie seit über 25 Jahren Menschen bei der beruflichen Orientierung.

Entdecke die Möglichkeitsräume, die in dir angelegt sind

So tun, als ob: Über die Chance der Flexibilität

Von: Sabine Claus

Viele Menschen erleben die heutige Arbeitswelt voller Widersprüche und Paradoxien. Einerseits wird uns ständig suggeriert, dass wir völlig freie, selbstbestimmte Individuen seien: Als Mitarbeiter stehen wir im Mittelpunkt, sind das wichtigste Potenzial, dürfen unsere Jahresarbeitszeit flexibel einsetzen, unsere Kreativität zur Entfaltung bringen und unser persönliches Entwicklungsziel definieren. Als Führungskraft stehen wir im Mittelpunkt, denn wir gestalten die Zukunft unserer Organisation.

Andererseits wird zugleich ein enormer Leistungsdruck erzeugt, indem uns die Medien, unser Umfeld und die Erfolgskennzahlen, an denen wir gemessen werden, vormachen, wir seien erst dann wirklich genügend wert, wenn wir die perfekte Zielerreichung, die perfekte Leistung, die perfekte Kundenzufriedenheit, ein perfektes Netzwerk und eine perfekte Opportunity-Pipeline vorweisen – und dies stets dynamisch und gut gelaunt, aber neuerdings auch demütig und achtsam.

Angesichts dieser Ambivalenz ist es kein Wunder, dass sich bei vielen Menschen ein chronisches Gefühl von Unzulänglichkeit entwickelt und damit verbundene stetige Selbstzweifel, innere Unruhe und Erschöpfung. Man nimmt sich als Spielball äußerer Kräfte wahr, ständig bemüht, seine vermeintliche Freiheit zu nutzen, zugleich immer neue, vorgegebene Ziele zu erreichen und obendrauf erfolgreicher Selbstmanager zu sein.

Klarheit erlangen: Was möchte ich erleben?

In unserer beschleunigten und unsteter werdenden Arbeitswelt, in der heute getroffene Entscheidungen morgen schon wieder korrigiert werden, in der vor lauter Optimierung und Zwang zu zeitraubendem Reporting kaum noch Raum zum gründlichen Nachdenken bleibt, kann es für den Einzelnen hilfreich sein, wieder bewusster mit sich selbst in Kontakt zu treten. Um nicht zwischen die Mühlsteine multipler und sich widersprechender äußerer Erwartungen zu geraten, bietet es sich an, sich von Zeit zu Zeit folgende Frage zu stellen: „Welches wäre in einer bestimmten Situation mein gewünschtes Erleben?“ Die Frage mutet auf den ersten Blick vielleicht ungewohnt an. Sie birgt aber die Chance in sich, auch in vordergründig fremdbestimmten Situationen, die Möglichkeitsräume, die in uns angelegt sind, dergestalt zu nutzen, dass wir mit unserem Dasein und Handeln wirksam sein können.

Ein Beispiel: Der Vertriebsmitarbeiter einer internationalen Medizintechnikfirma, der von seinen Kollegen und Kunden als angenehm, verträglich und zurückhaltend beschrieben wird, muss jeden Montagabend zum Rapport antreten, um die erneute Nicht-Erreichung seiner realitätsfremden Ziele zu rechtfertigen. Sein Vorgesetzter, der Stunden zuvor dasselbe Ritual mit seinem Chef-Chef absolviert hat, zeigt ein autoritäres, cholerisches Verhalten. Das übliche Verhaltensmuster, das sich jeden Montagabend wiederholt, besteht aus einem Druck ausübendem Vorgesetzten und einem eingeschüchterten Vertriebsmitarbeiter, der sich entweder mit dünnen Argumenten rechtfertigt oder schuldbewusst resigniert. Würde sich der Vertriebsmitarbeiter die Frage stellen „Welches wäre in dieser Situation mein gewünschtes Erleben?“, würde er vielleicht antworten: „Ich möchte mich gerne weniger in die Ecke gedrängt und klein gemacht erleben.“ Positiv formuliert: „Ich möchte mich handlungsfähig, durch meinen Vorgesetzten respektiert und dadurch aufrecht erleben.“

Der Vertriebsmitarbeiter kann im Moment weder seine zu hoch angesetzten Ziele korrigieren, noch seinen unbeherrschten Vorgesetzten austauschen, zugleich will er seinen Arbeitsplatz behalten. Mit Hilfe der Frage „Was wäre mein gewünschtes Erleben?“ gelangt er zu einem erstrebenswerten Ziel: „Ich möchte mich handlungsfähig, respektiert und aufrecht erleben.“ Wenn er nun denken würde: „Ich bin halt so, wie ich bin“, und statisch in seiner zurückhaltenden Persönlichkeit verharren würde, würde sein Stresslevel jeden Montagabend aufs Neue über die Maßen beansprucht werden. Auch sein Vorgesetzter würde sein cholerisches Verhalten beibehalten, denn auch er „ist halt so“. Ein eingespieltes Muster.

Die restlichen neun Zehntel der Persönlichkeit

Wäre es nicht besser, wenn der angepasste Vertriebsmitarbeiter mehr aus sich herausginge und sich behauptete? Psychologen bestätigen, dass es in speziellen Situationen von Vorteil sein kann, wenn man sich ganz bewusst anders verhält, als es die eigene Persönlichkeit vorgeben würde. Manchmal ist es einen Versuch wert, etwas zu tun, was einem gerade nicht im Blut liegt. In seinem Buch Flex: Do Something Different (2011) benutzt der Arbeits- und Gesundheitspsychologe Ben Fletcher das Verb to flex, was sich mit dehnen oder biegen übersetzen lässt. Er betont, dass es zuweilen besser sei, etwas zu tun, was gegen seine natürlichen Tendenzen geht. Fletcher ist überzeugt, dass jede Person über die Fähigkeit verfügt, unterschiedliche Personen zu verkörpern. Wenn man ihm glaubt, ist nicht nur offensiveres, selbstbehauptendes Verhalten erlernbar, sondern jedes andere. Mit Hilfe seines Trainingsprogramms lassen sich „die anderen neun Zehntel“ der eigenen Persönlichkeit entwickeln. Hierbei setzt er aufs Tun. „Mann kann einem Menschen nicht einfach sagen, er solle sich verändern. Ein Mensch muss etwas anderes tun, um Veränderung möglich zu machen.“

Hier setzt die So-tun-als-ob-Idee an. Man tut so, als ob der gewünschte Erlebenszustand bereits Realität wäre. Der Vertriebsmitarbeiter tut so, als ob er sich als handlungsfähig, motiviert und aufrecht erleben würde. Diese Idee mutet vielleicht simpel an. Doch sie kann Wirkung erzielen, sowohl für denjenigen, der sie anwendet, als auch für die Interaktionspartner, in unserem Beispiel also für den Vorgesetzten.

Die moderne Neurobiologie belegt, dass Erleben nie konstant ist und in jeder Sekunde neu gestaltet wird – durch Fokussierung von Aufmerksamkeit und durch Bildung bzw. Reaktivierung von Netzwerken von Erlebniselementen: Wir geraten also zu jeder Zeit durch neue Ereignisse in neue Erlebenszustände. Der Vertriebsmitarbeiter könnte mit Hilfe der So-tun-als-ob-Idee ausprobieren, ob er erstens in seinem eigenen Erleben einen Unterschied erzeugen und zweitens durch sein verändertes Erleben sein Verhalten verändern und damit auch ein verändertes Verhalten beim Vorgesetzen auslösen könnte. Denn jeder Gedanke eines Menschen löst eigene Haltungen und Handlungen aus, auf die andere reagieren – und uns wiederum in dem bestätigen, was wir zu sein glauben. Der zurückhaltende Vertriebsmitarbeiter provoziert die ungebremsten Vorwürfe und Schuldzuweisungen seines Chefs, weil sein Verhalten von der Selbsteinschätzung geprägt ist: „Diese Ziele kann ich eh nie schaffen.“ Und wer derart resigniert, hat bereits verloren.

Die Möglichkeiten, sich selbst seinem gewünschten Erleben näher zu bringen, sind deshalb größer, als viele meinen. Jeder kann zumindest zeitweise über sich hinauswachsen, die Grenzen des eigenen Ichs sprengen. „Ich bin nun einmal so, wie ich bin, und kann nicht anders!“ Dieser Satz gerät damit zur bequemen Ausrede. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass die Welt sich immer schneller wandelt. Daraus resultiert der Zwang, ständig dranzubleiben und sich weiterzuentwickeln. Aber das Unfertige in uns muss kein Mangel sein, sondern eine Chance. Es steckt immer eine Möglichkeit darin.

Welche Möglichkeiten das sein können, ist vielfach aufgezeigt worden, unter anderem durch eine 1979 durchgeführte Studie der Harvard-Psychologin Ellen Langer. Sie schickte eine Gruppe von Männern um die 80 für eine Woche auf eine Art Zeitreise in ein abgeschiedenes Wohnhaus. Alles war eingerichtet wie 20 Jahre zuvor, es gab sogar Musik wie vor 20 Jahren, und ebenso waren Zeitungen, das Fernsehprogramm und die Kleidung entsprechend angepasst. Vor allem aber durften die Männer nicht in der Vergangenheitsform über sich sprechen und nichts erwähnen, was nach 1959 stattgefunden hatte. Ihre Aufgabe war es, so zu tun, als ob sie im Jahr 1959 lebten. Die Verwandlung war absolut verblüffend: Die zu Beginn hilfsbedürftigen Männer kamen plötzlich wieder allein zurecht. Ihr Gehör, ihr Gedächtnis und ihre geistige Flexibilität verbesserten sich, der Blutdruck sank. Messungen an den Handwurzelknochen ergaben, dass diese stärker geworden waren. Nur so zu tun, als wären sie jünger, war für die Probanden ein wahrhafter Jungbrunnen.

In Fachkreisen werden die Studien von Ellen Langer in ihrer Methodik und Validität zum Teil heftig kritisiert. Zugleich ist es unbestritten, dass sich die So-tun-als-ob-Idee positiv auf das subjektive Erleben der Studienteilnehmer ausgewirkt hat, egal, ob deren Gesundheit tatsächlich nachhaltig verbessert wurde. Auch andere Wissenschaftler kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die So-tun-als-ob-Idee öffnet neue Möglichkeitsräume im eigenen Erleben und Handeln und wirkt unmittelbar auf das System ein, in dem wir uns gerade befinden.

„So tun, als ob“ eröffnet neue Handlungsräume

Die So-tun-als-ob-Idee funktioniert in vielen Situationen. Sie kann bei der Realisierung des gewünschten Erlebens und der Gestaltung von Interaktionen gute Dienste leisten. Die nachfolgenden Beispiele werden von der kritischen Leserschaft vielleicht als nicht authentisch, weil gespielt, oder gar als heuchlerisch abgetan. Jedoch hat die Entdeckung der Spiegelneurone im menschlichen Gehirn unter anderem gezeigt, dass auch gespielte Gefühle beim anderen dieselben Resonanzreaktionen auslösen können wie tatsächliche Emotionsregungen. Solange das Einnehmen einer bestimmten Rolle sinnvolle Seiten hat, darf es als Ausdruck sozial-emotionaler Intelligenz betrachtet werden.

Deshalb lohnt es sich, einmal damit zu experimentieren und das Vorher und Nachher miteinander zu vergleichen: Wer glücklicher werden will, sollte sich benehmen, als wäre er schon froh, und sollte möglichst viel lächeln, das hebt die Stimmung. Wer selbstbewusster werden möchte, kann sich zum Beispiel lässig im Stuhl zurücklehnen und die Hände hinter dem Kopf falten. Wer sich weniger in die Ecke gedrängt fühlen möchte, könnte einen Platz im Zentrum des Tisches wählen und direkten Augenkontakt suchen. Wer respektiert werden möchte, nimmt eine bewusst aufrechte Körperhaltung ein. Wer möchte, dass man ihm zuhört, tut so, als ob er die wichtigste Botschaft vertreten würde, die heute geäußert wird – und wählt ganz unwillkürlich eine starke Sprache. Wer befördert werden möchte, könnte sich als ersten Schritt entsprechend kleiden. Wer ernst genommen werden möchte, ist ernst, lehnt sich nach vorne und verschafft sich Gehör.

Aber: So tun, als ob, das ist auch anstrengend. Um Überforderung vorzubeugen, ist es wichtig, sich bewusst Erholungsnischen zu schaffen. Das können Situationen oder Orte sein, in denen man so sein kann, wie man von Natur aus am ehesten ist. Eine weitere Voraussetzung dafür, dass das Aus-der-Rolle-Fallen nicht enorm anstrengend wird, ist, dass es dazu dient, einem echten, tiefen Erlebenswusch näherzukommen. Etwas, was uns von innen heraus bewegt. Das Streben nach dem Zustand dieser inneren Stimmigkeit gilt als einer der stärksten Antreiber im Leben.

Der Vertriebsmitarbeiter, den ich aus einer Beratung kenne, hat mit der So-tun-als-ob-Methode übrigens sein Selbstwertgefühl punktuell gesteigert und seinen cholerischen Chef, wenigstens zeitweise, zu einem konstruktiveren Dialog bewegen können. Inzwischen wurde der Vorgesetzte entlassen.

Wenn Sie die So-tun-als-ob-Methode selbst ausprobieren möchten, können Sie folgendes tun:

  1. Vergegenwärtigen Sie sich Ihren Erlebenswusch. Stellen Sie sich dann in allen Einzelheiten vor, wie es wäre, wenn dieser Wunsch erfüllt wäre:
  • Was würden Sie genau tun?
  • Wie würden Sie sich bewegen?
  • Wie wäre Ihre Körperhaltung?
  • Was würden Sie anziehen?
  • Über was würden Sie sprechen und in welchem Tonfall?
  • Wie würden Sie sich fühlen?
  • Welche Musik würden Sie hören?
  1. Tun Sie dann in einer bestimmten Situation so, als ob sich Ihr Erlebenswunsch bereits erfüllt hätte.
  1. Vergleichen Sie anschließend die Unterschiede zwischen vorher und nachher. Was hat Sie Ihrem gewünschten Erleben näher gebracht? Was hat Ihnen gut getan? Wo konnten Sie neue Dimensionen bei sich selbst entdecken?

In Kurzform heißt das: Erlebenswunsch bewusst machen und so tun, als ob dieser schon erfüllt sei. Neue Handlungsräume zeigen sich. Und das gibt neuen Schwung.

 

Weiterführende Informationen und Quellen

 

Claus_Sabine_NEU-2015   Über die Autorin

Sabine Claus ist Betriebswirtschaftlerin und Master of Advanced Studies in Coaching & Organisationsberatung. Sie hilft Unternehmen in Veränderungsprozessen und begleitet Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung sowie in den Bereichen Selbst- und Mitarbeiterführung, Team und Konflikt, Karriere und Auftrittskompetenz.