Beiträge

Spüren, was ist

Kriegen Sie sich mit?

Von Tilman Niemeyer

Oder anders gefragt: Wie kriegen Sie sich mit? Wie bekommen wir mit, welche Emotionen uns bewegen? Wie können wir daran etwas verändern – und falls wir das können: Warum sollten wir das tun?

Um Antworten auf diese Fragen soll es hier gehen, und ich knüpfe gerne an die letzte Frage an: Sich besser mitzubekommen und genauer mitzubekommen, was uns bewegt, hilft uns dabei, befriedigendere Beziehungen zu anderen Menschen zu leben.

Sich mitbekommen hilft, befriedigende Beziehungen zu leben

Spontan würde vielleicht mancher sagen: „Ja aber ich kriege doch mit, wenn ich eine Wut habe!? Und wenn mich der andere wütend macht, dann reagiere ich eben wütend …“ Und doch: genau an dieser Stelle kann es nützlich sein, zu verlangsamen, genauer hinzuschauen, denn: Jede Reaktion ist begründet. Aber nicht jede Reaktion ist auch angemessen.

Im Alltag sind wir gewissermaßen geleitet von Automatismen: Wir „laufen auf Automatik“ und reagieren, wie wir immer reagieren. Das hat seinen Grund darin, dass wir vor allem aufgrund unserer Erfahrung reagieren. Die gesamte Erfahrung unseres bisherigen Lebens ist „gespeichert“ in unserem impliziten Gedächtnis (auch: Körpergedächtnis). Auf diese Weise steht sie uns allzeit zur Verfügung; in jeder Situation, in der wir uns entscheiden müssen (z. B.: „Wie reagiere ich darauf?“) hilft uns unsere Erfahrung, eine für uns sinnvolle Entscheidung zu treffen.

Alles in allem ist das eine phantastische Art und Weise, Entscheidungen zu treffen, schließlich reagiert das Erfahrungswissen enorm schnell (schneller als es das Bewusstsein könnte) und präsentiert uns eine Emotion, die uns eine Hilfestellung gibt, uns zu entscheiden: Mag ich das oder mag ich das nicht? Reagiere ich mit Annäherung oder mit Abgrenzung?

Ein Detail am Rande: Dieses implizite Gedächtnis funktioniert vollkommen unabhängig von unserem biographischen Gedächtnis. Es kann also sein, dass wir aufgrund einer Erfahrung reagieren, die uns nicht bewusst ist und an die wir keine bewusste Erinnerung haben; das ist sogar meistens der Fall.

Die angemessene Reaktion bezieht sich auf das Hier und Jetzt

So weit so gut. Problematisch daran ist ja auch nur, dass wir nicht immer nur angenehme Erfahrungen gemacht haben, sondern auch unangenehme – manchmal sogar sehr unangenehme, „die kein Mensch braucht“. Aber auch, ja gerade in solchen Fällen präsentieren sich unsere Entscheidungshelfer, die Emotionen, so rasch, dass wir, ohne nachzudenken, ja ohne uns mitzubekommen, schnell aufgrund einer alten Erfahrung auf eine neue Situation reagiert haben.

Dann ist die Auseinandersetzung gewissermaßen vorprogrammiert, denn eine solche Reaktion ist selten „angemessen“. – Wie sollte sie das auch sein, bezieht sich die Reaktion doch auf eine in der Vergangenheit liegende Situation (oder: viele solcher Situationen), und nicht auf unser Gegenüber.

Sicher ist es wichtig, in einer wirklich gefährlichen Situation schnell Entscheidungen treffen zu können; und es ist ja auch sinnvoll, wenn wir uns angesichts einer unangenehmen Begegnung darauf beziehen, dass wir dieses „Unangenehme“ vielleicht schon einmal erlebt haben und nicht wieder erleben wollen.

Oft bietet dieser Automatismus aber eben auch Fallstricke, in denen wir uns verheddern können: Je enger die Bindung ist und je näher uns der andere steht, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir in „alte Muster“ verfallen und dadurch dazu beitragen, eine Erfahrung zu kreieren, die wir doch schon kennen.

Wie also können wir daran etwas ändern? Wie können wir uns besser mitbekommen? Und wie können wir lernen, zu differenzieren und zu unterscheiden, ob es jetzt gerade tatsächlich angemessen ist, z. B. mit entschiedener Abgrenzung zu reagieren – oder ob es nicht vielleicht etwas Altes war, das diese Gefühle wachgerufen (getriggert) hat.

Verlangsamen, innehalten, wahrnehmen

Um nicht nur automatisch und „wie immer“ zu reagieren, ist es unumgänglich, zuerst einmal zu verlangsamen, innezuhalten und zu spüren, was ist. – Letztlich reden wir hier von Achtsamkeit. Wobei der Begriff unterschiedlich verwendet, und noch unterschiedlicher verstanden wird.

Häufig wird unter Achtsamkeit ein behutsames, vorsichtiges Vorgehen verstanden. Wenn man sie aber als Technik und vor dem Hintergrund ihrer buddhistischen Herkunft versteht, geht Achtsamkeit darüber weit hinaus. Achtsamkeit meint dann einen Bewusstseinszustand, in dem wir körperliche oder gedankliche Regungen an uns wahrnehmen, ohne darüber zu urteilen und ohne deswegen gleich eine Handlung auszuführen. Wir sind emotional beteiligt, aber mit den auftauchenden Gefühlen nicht identifiziert (Innerer Beobachter), wie es sich z. B. im Unterschied zwischen den Feststellungen „Ich bin wütend“ (identifiziert) und „Ich habe eine Wut“ (beobachtend) ausdrückt.

Aber bevor es uns gelingt, selbst in Stresssituationen „auf die Bremse zu gehen“ und innezuhalten, ist es womöglich zuerst einmal leichter, gezielt im Alltag den Raum zu finden, an dem eine fünf- oder zehnminütige Auszeit möglich ist.

Für den Anfang: Suchen Sie sich einen Platz, an dem Sie vorübergehend ungestört sind. Nehmen Sie eine aufrechte aber bequeme Körperhaltung ein … und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Atem. Nehmen Sie wahr, wie und in welchem Rhythmus Sie ganz von selbst ein- und ausatmen. Allein das, die auftauchenden Gedanken immer wieder sein lassen zu können und zum Atem zurückzukehren, fällt anfangs sicher nicht leicht und ist aber eine schöne Übung, die Aufmerksamkeit zu führen und die Wahrnehmung zu fokussieren.

Vielleicht tauchen ja Gedanken oder Körperempfindungen auf, die zwar vorher auch schon da gewesen sein mögen, die wir aber im Getriebe des Alltags allzu leicht überhören. Und womöglich mag der eine oder die andere die Aufmerksamkeit dann auch gezielt dorthin lenken – dann achten Sie lediglich weiterhin auf die innere Haltung, mit der Sie das tun: Nehmen Sie wahr, was ist; Sie brauchen keine Schlüsse daraus zu ziehen; vermeiden Sie, das, was sich zeigt, zu (ver-)urteilen (wie etwa: „Ich sollte solche Gedanken nicht haben“); versuchen Sie, sich mitzubekommen („Ah, eigentlich bin ich gar nicht … sondern wütend/traurig/ängstlich!?“), ohne aber sich in dem jeweiligen Gefühl (Wut/Trauer/Angst) zu verlieren.

Bewusstseinsarbeit ist eine fortdauernde Übung

Die eigenen Emotionen wahrzunehmen, ohne mit ihnen identifiziert zu sein, auch unangenehme Gefühle aushalten zu können und sie nicht „wegmachen“ zu müssen (z. B. weil sie mit der Angst einhergehen, von ihnen überwältig zu werden, oder weil wir „so nicht sein wollen“), das bietet uns die Chance, nicht automatisch sondern bewusst zu reagieren. Auf diese Weise (und vielleicht nur auf diese Weise) kann es gelingen, immer häufiger die Wahl zu haben und aus unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen, wie wir in einer bestimmten Situation handeln wollen – und dadurch ja womöglich angemessener auf das zu reagieren, was uns jetzt gerade begegnet.

Sich besser mitzubekommen, ist nichts, was man einmal erreicht hat, es ist eine ständige Übung. Mit zunehmender Übung kann es aber leichter gelingen, aus der Automatik immer mal wieder auszusteigen, und gleichzeitig auch, die Wahrnehmung immer mehr zu verfeinern. Falls Sie sich auf den Weg machen wollen, mehr über sich selbst zu erfahren, wünsche ich Ihnen spannende Entdeckungen und: gutes Gelingen!


   Über den Autor

Tilman Niemeyer ist Heilpraktiker für Psychotherapie, Hakomi-Körperpsychotherapeut und lebt und arbeitet in der Nähe von Wien. Sein Buch „Kleiner Psychotherapieführer. Grundlagen und Methoden. Praktischer Wegweiser zur geeigneten Therapie“ ist 2014 bei Junfermann erschienen.

Mehr Informationen unter: www.niemeyer-psychotherapie.at