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Ausgangspunkt Selbstfürsorge

Nur wer gut für sich sorgt, der kann auch gut für andere sorgen …

Die Arbeit mit Menschen ist meist schlecht bezahlt und eng getaktet, die Gefahr der Überlastung und des Burnouts ist hoch. Wie kann die Freude an der Arbeit und am Leben erhalten werden angesichts äußerer Zwänge und emotionaler wie körperlicher Herausforderungen?

In ihrem neuen Buch Ausgangspunkt Selbstfürsorge: Strategien und Übungen für den psychosozialen Alltag zeigen Lydia Hantke und Hans-Joachim Görges, wie Psychohygiene während der Arbeit gelingen, wie ein spielerischer und kreativer Umgang mit Stress und Überforderung aussehen kann.

 

Liebe Frau Hantke, lieber Herr Görges, worum genau geht es in Ihrem Buch?

Lydia Hantke: Ganz einfach: Es geht darum, das hektische, überladene, hoch anforderungsreiche und allzu oft miserabel personell ausgestattete Leben im psychosozialen Alltag unbeschadet zu überstehen. Es geht um die Befähigung, Burnout zu vermeiden und sich jeden Tag neu zu entscheiden, wie man*frau wieder zu Kräften kommen will. Damit die Arbeit (weiter/wieder/endlich) Spaß macht – oder man eine bessere Entscheidungsgrundlage hat, den Job zu wechseln.

 

Für wen wird dieses Buch interessant sein?

Hans-Joachim Görges: Zielgruppe für unser neues Buch sind all jene, die mit anderen Menschen arbeiten, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich, sporadisch oder 60 Stunden in der Woche – Letztere aber vielleicht ganz besonders. Es kann auch die Fachverkäufer*in für Herrenmode oder eine Frisör*in von unserem Buch profitieren, es richtet sich an Menschen im Kontakt mit Menschen. Oft findet der im psychosozialen Bereich statt. Dadurch ist der Titel motiviert und die Beispiele zeigen Menschen, deren Arbeitsalltag wir besser kennen: Menschen, die als Erzieher*in oder Leitungskraft im Jugendamt, Psychotherapeut*in oder Heilpädagog*in, Hebamme oder Sozialarbeiter*in oder in der Lehre … arbeiten.

Was enthält das Buch?

Lydia Hantke: Wer das Handbuch Traumakompetenz kennt, weiß, dass wir gerne grundsätzlich werden, ohne viel Theorie aufzufahren: Es geht um die Frage, warum es gerade im psychosozialen Bereich so wichtig und gleichzeitig so schwierig ist, auf sich zu achten. Es geht um Strukturen und die Entscheidung, etwas für sich zu tun, auch wenn man*frau dadurch noch belastungsfähiger zu werden droht. Und es geht um jede Menge Übungen, die man ohne viel Aufwand mal nebenher durchführen kann. Außerdem eignet sich das Buch hervorragend als Abstellplatz für Kaffeetassen, um auch die Kolleg*innen ganz subtil darauf hinzuweisen, dass Selbstfürsorge der Ausgangspunkt in ihrer Arbeit sein sollte.

Wie ist das Buch aufgebaut?

Hans-Joachim Görges: Zu Anfang gibt es ein paar kurze, ernst gemeinte, aber auch launige Kapitel zu den Themen Ausbeutung in der psychosozialen Arbeit, Work-Life-Balance und „Werkzeugkunde“, womit wir eine Einführung in die Verarbeitung von Belastungen meinen. Aus der Traumaverarbeitung haben wir gelernt, wie Dynamiken sich im Stress wiederholen – aber auch, wie man sie anders angehen kann. Zentraler Ansatzpunkt ist dann, wie wir die Spannung, die sich in uns aufbaut, wieder loswerden, sie regulieren können. Oder ein angemessenes Aktionsniveau erst aufbauen. Das untersuchen wir an den verschiedenen Abschnitten im Arbeitssetting: auf dem Weg, während und nach der Arbeit. Und wir erläutern an Beispielen und mit sehr vielen eingestreuten Übungen und Checklisten, wie man*frau es sich besser gehen lassen kann. Aber auch die inneren Schweinehunde und andere Hindernisse bei der Selbstfürsorge kommen zu Wort. Im Abschlusskapitel „Seele putzen und Körperpflege“ steht, dass weniger oft mehr ist und eigentlich alles mit dem Atmen anfängt – und das Buch hier aufhört. Ach nein, es gibt dann noch eine kleine, aber feine, rein subjektiv kommentierte Literaturliste.

Worauf ist zu achten?

Lydia Hantke: Wir haben ein Buch geschrieben, in dem es um die Selbstfürsorge während der Arbeit geht. Das klingt ein wenig widersprüchlich, und ist auch so gemeint. Es könnte durchaus auch unbequem werden, unsere Argumentationen nachzuvollziehen. Denn wir gehen davon aus, dass vieles nicht stimmt mit Personalschlüssel, Bezahlung und Verantwortungsstrukturen innerhalb der beschriebenen Arbeitsfelder. Aber wir sind auch der Ansicht, dass es effektiver ist, es sich auch unter solchen Umständen erst einmal besser gehen zu lassen. Und dann auf einer stabileren Grundlage zu entscheiden, ob man sich nicht vielleicht doch einen anderen Job suchen sollte. Wir verfechten hier also eine akzeptierende Form des Widerstands: Erst wenn wir Menschen dort stärken, wo sie sind, haben sie die Kraft, Struktur und System zu verändern – wenn sie sich denn dafür entscheiden. Das gilt für unser Klientel, aber eben auch für uns selbst.

Ihre Botschaft, die Sie den Leser*innen mit auf den Weg geben möchten

Hans-Joachim Görges: Wir im psychosozialen Bereich, aber auch alle, die an anderer Stelle mit Menschen arbeiten (im Callcenter, in der Bank, in der Mitarbeiter*innenführung …), haben nur uns selbst als „Arbeitsmittel“.

Lydia Hantke: Damit Körper und Geist uns auch nach der Arbeit noch zur Verfügung stehen, sollten wir sie in angemessener Weise nutzen und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Bereichen fördern. Dann geht selbst die Arbeit angenehmer von der Hand.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Über die Autorin

Lydia Hantke, Dipl.-Psych., ist systemische und Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin, Supervisorin. 2002 gründete sie das institut berlin. Sie entwickelte die Curricula Traumazentrierte Fachberatung/Traumapädagogik und Strukturierte Traumaintegration stib.

Über den Autor

Hans-Joachim Görges, Dipl.-Psych., ist systemischer und Hypnotherapeut, Traumatherapeut, Lehrtherapeut (SG) für systemische Therapie und Beratung. Seit 2005 arbeitet er freiberuflich im institut berlin.

 

Der Kraftraum mit der Doppelnull

Wortmann-LetzteZuflucht_Cover.inddLetzte Zuflucht Firmenklo – unter diesem Titel bot uns Konstanze Wortmann vor einiger Zeit ein neues Manuskript an. „Das ist nicht Ihr Ernst! So einen Titel kann man dem Buch doch nicht geben!“ entfuhr es mir. Was zunächst so kurios daherkam, erwies sich aber bei näherer Betrachtung als ein ganz ernsthaftes Thema. Viele Menschen arbeiten in Großraumbüros, in Industriehallen oder an anderen Orten, an denen es turbulent zugeht und wo auch immer viele andere Menschen sind.

Doch genau in diesem menschlichen Getümmel kann es leicht mal krachen und es kann einem alles zu viel werden. Wo ist dann die nächste Tür, die man hinter sich zuziehen kann, um einmal ganz alleine zu sein und sich wieder „einzukriegen“?

 

Wo ist die nächste Tür, die man hinter sich zuziehen kann?
Vielleicht gibt es eine Kantine? Aber da ist man meistens nicht allein. Vielleicht kann man kurz mal rausgehen, auf den Parkplatz oder eine andere Stelle auf dem Betriebsgelände? Doch die Wahrscheinlichkeit, hier niemanden anzutreffen, ist auch eher gering. Außerdem könnten andere aus dem Fenster schauen und sich fragen: „Was macht der da?“ Oder: „Warum arbeitet sie nicht?“

Es gibt keine Krisenräume. Also wohin dann? Ein Ort hat tatsächlich eine Tür, die man hinter sich abschließen kann: das Firmenklo. Und genau dahin, so Konstanze Wortmann, flüchten sich viele Beschäftigte. In ihrem Buch finden sich zahlreiche Übungen, die helfen, die Balance zurückzugewinnen. Und sie funktionieren teilweise sehr diskret und benötigen nicht viel Raum. Zur Not könnte man sie also auch im „Kraftraum mit der Doppelnull‘“ ausführen – auf der Firmentoilette.

Schreiben Sie uns Ihre Geschichten!
Sie habe von Seminarteilnehmern absolut positive Rückmeldungen erhalten, berichtete mir Konstanze Wortmann. Und ganz spontan hätten Menschen ihre Firmenklo-Geschichten erzählt. Nun ist sicher nicht alles für die Öffentlichkeit bestimmt, was auf einer als Krisenrückzugsort genutzten Toilette passiert. Aber es wird sicher ganz witzige, erzählenswerte und auch Mut machende Geschichten geben. Und wir würden uns freuen, wenn Sie diese mit uns teilen möchten.

Es gibt auch etwas zu gewinnen: Am 16. Juli verlosen wir unter allen, die mitgemacht haben, insgesamt drei Junfermann-Bücher. Den Titel dürfen sich die Gewinnerinnen und Gewinner aussuchen. Vielleicht fällt Ihre Wahl ja auf Letzte Zuflucht Firmenklo?

Ich habe mich mehr auf zu Hause gefreut als das vorzeitige Aussteigen zu bedauern

Die einen sind mit religiösem Eifer dabei, die anderen reizt die sportliche Leistung oder die Herausforderung, mit dem Wenigsten auszukommen und einmal ganz mit sich allein zu sein. Keine Frage: Pilgern entwickelt sich zum Trend. Unser Autor Horst Lempart, ein passionierter Wanderer, hat das Pilgern ebenfalls für sich entdeckt. Das dachte er zumindest. Nach einigen hundert Kilometern stellte er dann aber fest: Einfach nur durchhalten wollen, einfach nur ankommen wollen – das kann es nicht sein! Die Erkenntnis wuchs: Wer A sagt, muss nicht unbedingt auch B sagen. Er kann stattdessen erkennen, dass A falsch war.

Manchmal braucht es eben einen langen (unbequemen) Weg, bis man versteht, was zu einem passt und was einem guttut. Eine kleine Rückschau:

 

Vom Jakobsweg auf den Holzweg und zurück

Warum ich Wandern dem Pilgern vorziehe

Von Horst Lempart

Ja, ich bin gepilgert. Und nein, ich bin nicht bis Santiago des Compostela gelaufen. Meine Erkenntnisse stellten sich schon früher ein, sodass ich nach etwa 300 Kilometern meinen Fußweg beendet habe.

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Von Bilbao bis kurz vor Gijon hat es gedauert, bis ich wusste: Pilgern ist nichts für mich. Vielleicht hätte ich mich leichter getan, ich hätte von Anfang an von Wandern gesprochen statt von Pilgern. Dann hätte es für mich möglicherweise eine andere emotionale Aufladung gegeben. So aber: Ich fühlte mich unbeteiligt, irgendwie nicht so richtig zu den anderen Pilgern dazugehörig. Über spirituelle Erfahrungen hätte ich mich gefreut, ich habe mir sie sogar gewünscht. Aber das Einzige, was meinen Geist wirklich regelmäßig beschäftigte, war die Frage nach dem Ankommen. Dabei soll auf dem Jakobsweg doch der Weg das Ziel sein.

 

Ich wandere gern und viel. Beim Wandern dosiere ich den Umfang allerdings so, dass das Ende der Wegstrecke rechtzeitig vor der Unlust erreicht ist. Das fiel mir beim Pilgern schwer. Wer in einem festgelegten Zeitrahmen 800 Kilometer zu Fuß schaffen und Santiago erreichen möchte, der geht auch weiter, wenn es keinen Spaß mehr macht. Aber ich hatte Urlaub, und meine Absicht war, Spaß zu haben!

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Ich hatte spannende Begegnungen mit tollen Menschen. Jeder hatte unterschiedliche Motive für seinen Pilgerweg, der mit viel Energie und teilweise auch Leid verbunden war: Ein Mädel hatte derart aufgescheuerte Hacken, dass sie die Fersen mit Kortison behandeln musste. Drei Tage Auszeit, nichts ging mehr. Andere Pilger freuten sich auf die Wettervorhersage: In zwei Tagen wird der Regen wärmer. Macht nichts, da muss man als Pilger eben durch.

Nein, sagte ich mir, ich will da nicht durch. Auch wenn ich wind- und wetterfeste Kleidung trage, ich finde Pilgern im strömenden Regen einfach scheiße. Außerdem will ich in meinem Urlaub einfach nicht „müssen“, sondern Dinge tun, die mir Spaß machen:

  • Gefühlte 200 Kilometer auf Asphalt laufen machte mir keinen Spaß.
  • In Mehrbett-Zimmern das Furzen und Schnarchen anderer miefender Pilger zu ertragen machte mir ebenfalls keinen Spaß.
  • Zwei Wochen aus dem Rucksack zu leben und dabei mit ganzen zwei Wandershirts, zwei Unterhosen und zwei Paar Socken auszukommen machte mir bald auch keinen Spaß mehr.
  • Morgens um sechs Uhr aufstehen zu müssen, damit man die Tagesetappe frühzeitig schafft, um einen Herbergsplatz zu ergattern, empfand ich auch nicht als die reine Erholung.

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Ich bin die Nordroute gegangen, den „Camino del Norte“ an der spanischen Atlantikküste entlang. Die Landschaft ist einfach klasse: Herrliche Strände, beeindruckende Steilküste, zarte Hügellandschaften und malerische Dörfer. Eine Reise dorthin, wo Spanien am grünsten ist, lohnt sich auf jeden Fall. Ich werde die Gegend in einem weiteren Anlauf aufs Neue für mich entdecken. Nicht in diesem Jahr, und auch nicht im nächsten. Denn ich bin auch Pinchos-satt. Kleine Appetit-Häppchen auf dem immer gleichen Weißbrot konnte ich nach acht Tagen nicht mehr sehen. Ich liebe die deutsche Brotvielfalt und einen reich gedeckten Frühstückstisch. In den Herbergen gab es morgens Toastbrot, Marmelade und Hartkekse.

 

Nach zehn Tagen des Unterwegsseins hatte ich für mich entschieden, die Rückreise anzutreten. Von dem Moment an habe ich mich mehr auf zu Hause gefreut als das vorzeitige Aussteigen zu bedauern. Rückblickend war es für mich auch kein Abbruch, sondern ein frühzeitiges Ankommen. Ich habe für mich selbst gut gesorgt, und das ist für mich eine der wesentlichen Fähigkeiten auf dem Weg der persönlichen Entfaltung.

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Über den Autor

Horst Lempart, Jahrgang 1968, ist Business-Coach in eigener Praxis in Koblenz. In der Rolle des „Persönlichkeitsstörers“ beunruhigt er Systeme und macht dadurch Entwicklung möglich. Im letzten Jahr erschien sein Buch „Ich habe es doch nur gut gemeint – Die narzisstische Kränkung“. In Kürze ist sein neues Buch Das habe ich alles schon probiert. Warum wir uns mit Veränderung so schwertun. 7 Chains to Change im Handel erhältlich.

 

Weitere Informationen zum Autor und seiner Tätigkeit erhalten Sie hier.

Ein Nein aus tiefster Überzeugung…

Abgrenzung – ein „Ja“ zu sich selbst

von Ulrike Hensel

Die Frage „Wie kann ich mich besser abgrenzen?“ ist regelmäßig ganz vorne mit dabei, wenn in den Workshops, die ich für hochsensible Menschen (abgekürzt HSP) gebe, Themen gesammelt werden und wenn Coachees ihre Anliegen formulieren.

Diejenigen, für die Grenzen-Setzen ein Thema ist – und das sind beileibe nicht nur HSP –, möchten mehr als bisher für sich persönliche Freiräume schaffen, eigenen Wertvorstellungen und Prinzipien treu bleiben, ihre Integrität wahren. Sie möchten selbstverständlicher und selbstsicherer die eigenen Interessen vertreten, ihren eigenen Weg gehen. Nicht länger Nett-Sein vor Echt-Sein stellen, nicht länger den Erwartungen anderer Vorrang geben vor eigenen Bestrebungen.

Wie ich es sehe, geht es für sie darum, bewusst mehr Selbstfürsorge walten zu lassen und Strategien für selbstbestimmtes Handeln zu entwickeln – ohne dabei anderen jegliches Entgegenkommen zu verwehren und ohne den Gemeinschaftssinn zu verlieren.

Für andere da zu sein, ist ein wichtiges Bedürfnis

Wenn mir jemand sagt, dass er eigene Bedürfnisse ignorieren würde und nur für andere da sei, dann weise ich gerne darauf hin, dass schließlich auch das Für-andere-da-Sein ein wesentliches Bedürfnis ist, und werbe für Nachsicht und Verständnis sich selbst gegenüber. Laut Marshall Rosenberg, dem Begründer der „Gewaltfreien Kommunikation“, ist das Bedürfnis, zum Wohlergehen anderer beizutragen, ein zutiefst menschliches, also wahrlich nichts, wofür man sich kritisieren müsste. Wie so oft, geht es lediglich um das rechte Maß und die Ausgewogenheit, denn es gibt ja noch andere Bedürfnisse und Wünsche, die nicht ins Hintertreffen geraten dürfen.

Ich plädiere sicher nicht für rüde, unsoziale Rücksichtslosigkeit, die die Mitmenschen außer Acht lässt, sondern für einen „gesunden Egoismus“, der eine angemessene Rücksicht auf andere einschließt. Thomas Gordon hat es in seinem Beziehungscredo, das ich in seinem Buch Gute Beziehungen gefunden habe, wie folgt formuliert:

„Wenn wir Konflikte haben, wollen wir versuchen, alle beizulegen, ohne dass einer versucht, sie auf Kosten des anderen zu lösen. Das Recht auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse gestehe ich dir ebenso zu wie mir. Deshalb wollen wir immer nach Lösungen suchen, die für uns beide akzeptabel sind. Keiner wird verlieren, sondern beide werden wir gewinnen.“ (32014, S. 153)

Abgrenzung – pro und contra

Was für Abgrenzung spricht: Wollen wir unsere persönlichen Projekte voranbringen und unsere ureigenen Ziele verfolgen, ist es nötig, unsere Aufmerksamkeit und unsere Energien einigermaßen darauf zu fokussieren. Erst recht als HSP, weil man da noch begrenzter belastbar ist als andere. Hier hilft der Gedanke, dass das Nein anderen gegenüber ein Ja zu sich selbst ist. Wenn wir wissen, wozu genau wir Ja sagen, stärkt das unsere Entschiedenheit.

Ein weiteres zugkräftiges Argument für die Abgrenzung: Ein rechtzeitiges offenes Vertreten des eigenen Standpunkts beugt einem inneren Groll vor, der sich sonst irgendwann in einem destruktiven Gefühlsausbruch entladen könnte oder im Untergrund beziehungszersetzend wirken würde. Menschen, die sich scheuen, offen und klar Grenzen zu setzen, schützen sich unbewusst auf andere Weise, indem sie innerlich auf Distanz gehen, sich verschließen, unterschwellig aggressiv sind.

„Ein Nein aus tiefster Überzeugung ist besser und größer als ein Ja, das nur gesagt wird, um zu gefallen oder um Schwierigkeiten zu vermeiden.“ (Mahatma Gandhi)

Was gegen (zu viel) Abgrenzung spricht: Menschen sind soziale Wesen, Zugehörigkeit ist ihr Lebenselixier. Dementsprechend bedeutet es ihnen sehr viel, gute Beziehungen zu den Menschen in ihrem Umfeld zu haben. Und dafür sind sie verständlicherweise bereit, einiges zu tun. Des Weiteren: Die Stimmungen anderer beeinflussen die eigene Stimmung (besonders bei HSP!). Es ist schön, wenn die Zufriedenheit des Gegenübers auf einen zurückwirkt. Schon deshalb das Bemühen, zu dessen Wohlsein beizutragen. Und: Hilfsbereitschaft ist für viele ein wichtiger Wert, der entsprechend im Handeln seinen Niederschlag finden soll. In den Zusammenhang passt folgendes Goethe-Zitat: „Wer nichts für andere tut, tut nichts für sich.“

Abgrenzung gepaart mit Hilfsbereitschaft

Wie können nun die beiden Qualitäten Abgrenzung und Hilfsbereitschaft in eine gute Verbindung gebracht werden? Einen sehr praxistauglichen Ansatz finde ich in dem Modell des Werte- und Entwicklungsquadrats von Friedemann Schulz von Thun. Der wesentliche Gedanke dabei ist, dass jede „Tugend“ in der Übertreibung und ohne die ausgleichende Wirkung einer sogenannten „Schwestertugend“ leicht in eine „Untugend“ abrutschen kann; das wäre dann sozusagen „des Guten zu viel“. Schulz von Thun sagt im Buch Kommunikation als Lebenskunst: „Jede Tugend, jedes Ideal, jede menschliche Qualität, eben jeder Wert kann nur dann für das Leben konstruktiv werden, wenn er sich in einer Balance zu einer komplementären ‚Schwestertugend‘ befindet“ (2014, S. 118).

 

Abbildung: Wertequadrat zu Abgrenzung und Hilfsbereitschaft (nach Friedemann Schulz von Thun)

 

Abgrenzung und Hilfsbereitschaft können somit als Schwestertugenden gesehen werden. In der Übertreibung würde selbstfürsorgliche Abgrenzung zur hartherzigen Ignoranz, einem egoistischen Verhalten, die andere außen vor lässt und über kurz oder lang sozial isoliert. Auf der anderen Seite würde zu viel der einfühlsamen Hilfsbereitschaft zur selbstschädigenden Aufopferung, zur Selbstaufgabe. Die Qualität „selbstfürsorgliche Abgrenzung“ erfährt also einen günstigen Ausgleich durch die Qualität „einfühlsame Hilfsbereitschaft“. In der Integration der beiden Qualitäten finden das Ich und das Du Beachtung, was ein beziehungsförderliches Wir ermöglicht. Das Ideal ist das flexible Gleichgewicht zwischen den beiden positiven Qualitäten im Sinne eines Sowohl-als-auch.

Jede Verhaltensänderung ist mit Unsicherheit verbunden

Häufig fehlt einfach die Erfahrung mit Verhaltensweisen, die Grenzen aufzeigen und andere nötigenfalls in ihre Schranken verweisen. Wer als Heranwachsender Grenzverletzungen erfahren hat und dagegen nichts auszurichten vermochte, muss als Erwachsener erst ein Gefühl dafür entwickeln, dass er ein Recht auf Grenzen hat. Den persönlichen Raum auszufüllen und zu behaupten, muss erst erlernt werden, allen Befürchtungen, die womöglich damit einhergehen, zum Trotz: Befürchtungen, andere zu kränken, zu verletzen oder zu enttäuschen; Angst, selbst abgelehnt und zurückgewiesen zu werden, in unangenehme Konflikte mit anderen zu geraten; Angst, die Anerkennung zu verlieren, Freunde zu verlieren, allein dazustehen.

Es braucht daher eine gehörige Portion Entschlossenheit, Mut und Experimentierfreude, um trotz Ängsten und Zweifeln Verhaltensänderungen anzugehen. Der Antrieb erwächst aus der zuversichtlichen Annahme, dass mit dem neuen Verhalten letztlich eine deutliche Verbesserung im Leben zu erreichen ist. In einem Zitat von Ambrose Redmoon ist es treffend ausgedrückt: „Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Einschätzung, dass etwas anderes wichtiger ist als die Angst.“ Erste positive Erfahrungen können in der Folge die Motivation liefern, dran zu bleiben und neue Gewohnheiten zu etablieren. Manch einer wird erstaunt sein, wie problemlos eine überzeugte und überzeugende Abgrenzung aufgenommen wird und wie dadurch das eigene Ansehen sogar steigt.

Ein klares Nein, wenn man Nein meint

Es geht nicht darum, bei beliebigen Gelegenheiten häufiger Nein zu sagen, sondern vielmehr immer eigenverantwortlicher und konsequenter Nein statt Ja zu sagen, wenn man ein Nein empfindet. Es geht um Ehrlichkeit, Authentizität und Echtheit. Doch bevor diese Werte zum Tragen kommen, müssen wir uns erst einmal darüber klar werden, was genau für uns stimmig ist, was wir wirklich wollen und was nicht. Wir können nur die Grenzen aufzeigen und gegebenenfalls verteidigen, von deren Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit wir selbst überzeugt sind. Dazu Schulz von Thun: „Selbstklärung ist die Grundlage für eine klare, kraftvolle Kommunikation“ (S. 98).

Haben wir uns entschieden, einer Erwartung nicht zu entsprechen bzw. ein Ansinnen abzulehnen, tun wir das am besten klar und deutlich und geben dafür eine knappe Begründung, ohne uns allzu wortreich zu erklären und zu rechtfertigen (wozu viele HSP neigen), ohne uns zu entschuldigen oder gar Ausreden zu erfinden. Ein schlichtes „Nein, das passt für mich nicht“ oder „Nein, das will ich nicht“ wird meist am besten akzeptiert, selbst dann, wenn es dem anderen nicht gefällt.

Eine Körpersprache, die nicht mit der verbalen Aussage übereinstimmt, entlarvt ein wackliges Nein. Eine leise Stimme, ein entschuldigendes Lächeln, ein ausweichender Blick schwächen das Nein ab und machen es unglaubwürdig. Ein Kopfschütteln, eine feste Stimme, ein ernster Gesichtsausdruck, ein direkter Blickkontakt hingegen unterstreichen das Nein.

Gefragt ist Kommunikationskompetenz

Vielleicht passt ja auch ein eingeschränktes Nein: „Nein, nicht jetzt/heute/dieses Mal“ oder „Nein, nicht so“ mit anschließenden Gegenvorschlägen, was man anbieten kann – dies allerdings wirklich nur, wenn man dahintersteht und sie aus freien Stücken macht.

Schroff und unfreundlich geäußert oder gekoppelt mit einem Vorwurf „Wie kannst du das nur von mir erwarten?“ wird das Nein eine verärgerte und abweisende Reaktion hervorrufen. Ruhig und vorwurfsfrei vorgetragen, als Ich-Botschaft formuliert, stehen die Chancen für eine moderate und verständnisvolle Reaktion gut. Garantiert ist sie jedoch nicht. Unter Umständen sind wir gefordert, die Enttäuschung unseres Gegenübers da sein zu lassen und die (vorübergehend) entstehende Distanz auszuhalten. Keinesfalls sollte man dem anderen seine Gefühle absprechen.

Zum Abschluss noch ein Gedanke: Eine umfassende Auseinandersetzung mit Abgrenzung hat zwei Seiten. Die Grenzen, die man selbst setzt, und die Grenzen, die einem gesetzt werden. Hand aufs Herz: Wie gut können wir die Grenzen anderer akzeptieren und wahren? Respektieren wir vorbehaltlos den Gestaltungsraum anderer? Verzichten wir darauf, uns über die Wünsche Ihrer Mitmenschen einfach hinwegzusetzen? Das respektvolle Achten der Grenzen anderer ist in meinen Augen eine viel zu wenig beachtete Voraussetzung dafür, dass die eigenen Grenzen respektiert und geachtet werden.

Wenn Sie dieses Thema interessiert, werfen Sie doch mal einen Blick in folgende Bücher:

  • Mein Buch-Tipp Nr. 1: „Sei nicht nett, sei echt“ von Kelly Bryson
  • Mein Buchtipp Nr. 2: „Gewaltfreie Kommunikation – eine Sprache des Lebens“ von Marshall B. Rosenberg
  • Mein Buch-Tipp Nr. 3: „Gute Beziehungen: Wie sie entstehen und stärker werden“ von Thomas Gordon
  • Mein Buchtipp Nr. 4: „Kommunikation als Lebenskunst: Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens“ von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun

Kennen Sie das Problem, sich nicht ausreichend abgrenzen zu können? Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Thema? Schreiben Sie uns! Wir freuen uns über Ihre Fragen, Kommentare und Anregungen.

 


  Über die Autorin

Ulrike Hensel ist Coach für hochsensible Menschen, Autorin von „Mit viel Feingefühl – Hochsensibilität verstehen und wertschätzen“ (Junfermann, 2013) und „Hochsensible Menschen im Coaching – Was sie ausmacht, was sie brauchen und was sie bewegt“ (Junfermann, Oktober 2015).

Weitere Informationen zur Autorin und ihrem Coaching erhalten Sie hier.

 

 

„Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade daraus!“ – Das Interview mit Sigrun Kurz

In der kommenden Woche (ab dem 21.07.2014) erscheint bei uns ein Buch über Selbsthypnose für krebskranke Menschen: „Verborgene Kräfte wecken“. Die Autorin, Dr. Sigrun Kurz, hat dieses Buch nicht nur als Psychotherapeutin, sondern auch als Betroffene geschrieben. Im Interview berichtet sie uns von ihren Erfahrungen mit Hypnose und darüber, wie eine Krankheit den Blick auf die Welt verändert.

Liebe Frau Kurz, Sie sind Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis. Zu Ihrem Arbeitsschwerpunkt gehört die Behandlung von Menschen mit schweren körperlichen oder chronischen Erkrankungen. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Kontext mit dem Einsatz von Hypnose gemacht?

Bei körperlichen oder chronischen Erkrankungen können wir auf sehr gute Weise von der Hypnose profitieren, denn diese Heilmethode wirkt nicht nur auf der seelischen Ebene sondern unterstützt stets auch den Körper. Eine Hypnose stärkt immer das Immunsystem und senkt die Stresshormone, also eine Förderung der Gesundheit. Hinzu kommt, dass eine Hypnosebehandlung für die Betroffenen sehr angenehm ist und als hilfreiche und fürsorgliche Zuwendung erlebt wird.

In Ihrem Buch „Verborgene Kräfte wecken“ richten Sie sich speziell an krebskranke Menschen, die mit Selbsthypnose den Heilungsverlauf unterstützen wollen. Was das Buch besonders persönlich macht, ist, dass Sie nicht nur als Psychologin, sondern auch als ehemals selbst Betroffene – gewissermaßen auf einer Augenhöhe – an Ihre Leser schreiben. Hat Ihre Erkrankung den Anstoß zu diesem Buch gegeben?

Ja, das war schon lange ein Wunsch von mir: all das hilfreiche Wissen und meine Erfahrungen weiterzugeben. Als dann Patientinnen mich um Hypnosetexte zur Anleitung baten, wurde dieser Wunsch konkret und ich begann, das Buch zu schreiben.

In einem Gespräch erwähnten Sie einmal, dass die Hypnoseanleitungen aus dem Buch letztendlich für jeden Menschen, auch für gesunde, eine Kraftquelle darstellen können. Welche Rolle spielt Hypnose für Sie persönlich heute, nach Ihrer Genesung, in Ihrem Alltag?

Eine ganze Reihe der Hypnosetexte aus meinem Buch kann tatsächlich für jeden Menschen hilfreich sein – auch für Gesunde. Stärkung der Lebenskraft, Ermutigung und Zuversicht können wir alle immer wieder gebrauchen. Ich selbst benutze Hypnose im Alltag sehr oft, manchmal für kleine oder größere Unpässlichkeiten, manchmal für die Erholung und oft einfach zur Stärkung.

Wenn Sie Ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen zusammennehmen: Was verändert sich durch eine Krebserkrankung?

Eine Krebserkrankung erinnert uns immer an die Begrenztheit unseres Lebens und unserer Möglichkeiten. Dadurch relativiert sich in unseren Werten so einiges. Die Bedeutungen verschieben sich. Was ist wirklich wichtig für mich, für mein Leben? Wir lernen, den Wert des Alltags und des Lebens selbst mehr zu schätzen. Durch eine schwere Erkrankung wie Krebs ist das vorher Selbstverständliche plötzlich wertvoll.

Im Buch gehen Sie absolut ehrlich, realistisch, aber auch Mut machend mit dem Thema Krebs um. Was sollen Ihre Leser vor allem mitnehmen? Was ist Ihnen wichtig zum Ausdruck zu bringen?

Das Wichtigste ist meiner Erfahrung nach zu lernen, auch mit schweren Dingen umzugehen, das Leben zu leben mit seinen Einschränkungen, aber auch all seinen Möglichkeiten. Auch wenn wir nicht wissen, was kommen wird. Aber: Wer weiß das schon? So wird der Augenblick, das Jetzt, das Heute, wichtiger. Erkrankungen sind oft mit einer Fixierung im Negativen verbunden. Mit meinem Buch möchte ich Wege zeigen, um aus dieser Problemtrance herauszukommen. Und es tut einfach gut, wenn wir merken, dass wir selbst mithilfe unserer Vorstellungskraft und unserer Phantasie etwas verändern können.

Krebs ist natürlich ein sehr persönliches und sicher auch Angst besetztes Thema, mit dem jeder anders umgeht. Aber was würden Sie sich für die öffentliche Diskussion/den öffentlichen Umgang damit wünschen?

Ich wünsche mir, dass das Thema Krebs in der Öffentlichkeit noch viel selbstverständlicher vorkommen dürfte, ohne Panik und ohne Sensationslust. Es wäre gut, wenn es noch weniger Tabus zu dieser Krankheit gäbe, einer Krankheit, die so viele Menschen bekommen. Dann würden sich viele Betroffene weniger einsam fühlen müssen.

Ich habe Sie während der Arbeit an diesem Buch als eine sehr selbstbewusste, energiegeladene und auch humorvolle Frau kennengelernt. Verraten Sie uns, wie Sie – einmal abgesehen von Hypnose – Ihre Batterien wieder auftanken und Zuversicht bewahren? Haben Sie eine Art Wohlfühlrezept?

Ich bemühe mich um eine möglichst ausgewogene Balance von Aktivität und Entspannung, passend zu meinen persönlichen Erfordernissen. Aber ich muss zugeben, dass mir das natürlich nicht immer gelingt. Besonders wichtig ist für mich, immer wieder meine Aufmerksamkeit auf das Positive, auf die Möglichkeiten zu lenken, statt über Einschränkungen und das Negative zu grübeln. Es gibt ein Sprichwort, das ich als Leitsatz sehr hilfreich finde: Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade daraus. Also: Nutze das, was da ist, und lebe damit – so gut es nur geht.

Liebe Frau Kurz, vielen Dank für das Interview. Ich bin sicher, dass das Buch vielen Betroffenen eine Hilfe sein wird.