Wie Kinder traumatische Erlebnisse überwinden können
Im Junfermann-Programm finden sich zahlreiche Bücher zum den Themen Traumatherapie und Traumabewältigung. Aber keins davon ist als Lektüre für traumatisierte Kinder gedacht. Wir veröffentlichen halt keine Kinderbücher. Aber es gibt einen kleinen Verlag, der genau in dieser Nische aktiv ist: schwierge Themen kindgerecht aufzubereiten. Das ist der Monterosa Verlag, der 2020 sein zehnjähriges Jubiläum feierte. Die Verlegerin und Autorin Claudia Gliemann hat sich mit einem Buch quasi selbst beschenkt, mit „Rotkäppchen, wie geht es dir?“ Mir hat das Jubiläumsbuch so gut gefallen, dass ich es hier kurz vorstellen möchte:
Wissen Sie noch, wie das Grimm’sche Märchen vom Rotkäppchen endet? Nicht mehr so ganz genau? Dann lesen Sie doch einmal nach:
„Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: ‚Ach, wie war ich erschrocken, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!‘ Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel.
Da waren alle drei vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder; Rotkäppchen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat.“
Ende gut – und wirklich alles gut? Wie ist es Rotkäppchen tatsächlich ergangen nach dem großen Schrecken, vom Wolf mit Haut und Haaren verschlungen worden zu sein? Wie ergeht es Kindern, wenn sie etwas Schreckliches erlebt haben? Wie können sie weiterleben? Wie finden sie Heilung? Und wie kann man mit ihnen darüber sprechen?
In ihrem Buch „Rotkäppchen, wie geht es dir?“ erzählt Claudia Gliemann eine mögliche Fortsetzung der Geschichte. Rotkäppchen macht eine weitere schlimme Erfahrung, mit ihrem vermeintlich besten Freund. Am absoluten Tiefpunkt gibt es glücklicherweise den Bären – sehr einfühlsam und vor allem sehr geduldig. Er baut Rotkäppchen eine Hütte, versorgt sie mit dem Notwendigsten, drängt sich ihr aber nicht auf. Monatelang wartet er draußen auf der Bank, bis Rotkäppchen bereit ist, sich wieder zu zeigen. Er begleitet sie weiter, bis sie stark genug scheint, sich dem alten Schrecken, dem Wolf zu stellen. Rotkäppchen lernt ihre Selbstheilungskräfte kennen und erfährt, dass sie nicht allein ist. Andere Märchenfiguren kommen vorbei und erzählen von ihren schrecklichen Erlebnissen.
Wie kann man traumatische Erfahrungen überwinden? Wie kann man einerseits Grenzen setzen, ohne andererseits Mauern um sich herum zu errichten? Wie lernt man, (wieder) zu vertrauen und den eigenen Weg zu gehen? Davon handelt diese einfühlsam erzählte Geschichte. Sie macht Kindern, denen Schlimmes passiert ist, Mut. Sie zeigt auch Erwachsenen, die ein Kind auf einem solchen Weg begleiten, was das Kind wirklich braucht und was ihm helfen kann.
Parallel zu der mit Worten erzählten Geschichte gibt es die wunderbaren Bilder von Regina Lukk-Toompere. Auf dem Titelbild ist ein Rotkäppchen zu sehen, auf einem Hügel stehend, unter den Füßen angedeutetes Wurzelwerk, das sie hält. Auf ihrem Rücken hat sie zarte, aber große und Schmetterlingsflügel, die sie tragen würden. Wurzeln sind wichtig, aber: Wenn man lernt, seiner eigenen Kraft wieder zu trauen, wachsen einem auch Flügel.
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