Die Kraft von Imaginationen

Ein Workshop zum Thema: „Standhaft und beweglich wie ein Baum“

Von Antje Abram

Die Vorstellungskraft ist ein überaus wichtiges Hilfsmittel für Menschen, denn sie kreiert innere Bilder des nicht wirklich Realen. Das mag vielleicht erst einmal selbstverständlich klingen, ist es aber nicht! Die allermeisten Lebewesen nehmen mit ihren Sinnesorganen auf, was gerade in der Realität passiert. Der Mensch hingegen kann alles Mögliche imaginieren, von umfassenden Fantasiewelten bis hin zu komplexen Konstruktionen. Im Coaching und in der Therapie werden Imaginationen dazu genutzt, mental zu „trainieren“, sei es, um sich besser zu entspannen, mehr Sicherheit zu entwickeln, den Umgang mit Ängsten oder Trauer zu erlernen oder auch um Selbstheilungskräfte bei Krankheit zu fördern.

Nachfolgend finden Sie einen Bericht zu dem von mir geleiteten Workshop „Standhaft und beweglich wie ein Baum“ mit dem Schwerpunkt Stabilität und Flexibilität. Sie sind herzlich eingeladen, die Imaginationsübung selbst auszuprobieren!

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Bäume sind für mich sehr faszinierend, denn sie vereinen in hohem Maße Stabilität und Flexibilität. Betrachten Sie doch einmal einen Baum bei starkem Wind, wie er sich wiegt und geschmeidig mit der Kraft des Windes „mitschwingt“, und wie gleichzeitig eine tiefe Verwurzelung mit der Erde existiert, mit einer sicheren Verbundenheit mit dem Boden. Es handelt sich für mich um den Idealzustand des Seins – für Bäume und Menschen!

Moni Baum 2

Dies hat mich zu dem Workshop „Standhaft und beweglich wie ein Baum“ inspiriert, eine Kombination von Körperübungen und Imaginationen.

Die Basis bildet die Standhaftigkeit, die Erdung, die Verwurzelung. In der Bioenergetik wird es „grounding“ genannt. Die Erde vermittelt Sicherheit, sie trägt uns. So verwende ich einige Zeit mit den Teilnehmern darauf, die eigenen Füße zu spüren: im Stand und in Bewegung. Welche Teile des Fußes sind direkt mit dem Boden verbunden? Welche Region des Fußes trägt das meiste Körpergewicht? Wie verändert sich meine Balance, wenn die Beine durchgedrückt sind oder, zum Vergleich, die Knie leicht gebeugt sind? Wie wirkt sich die gesamte Körperhaltung auf den Stand und die Füße aus?

Nachdem alle Teilnehmer einen guten Kontakt zu ihren Füßen und dem Boden gefunden haben, kann die Imaginationsübung im Stand beginnen:

„Spüre den Kontakt zum Boden mit deinen Füßen.

Deine Füße, die dich gut und kraftvoll tragen.

Stelle dir nun vor, aus deinen Füßen heraus wachsen Wurzeln in den Boden, genau wie ein Baum Wurzeln hat, die ihn fest und sicher in der Erde verankern.

Lasse die Wurzeln immer tiefer in den Boden hineinwachsen. Vielleicht wachsen deine Wurzeln auch mehr in die Breite. Wo die Wurzeln auch immer sein mögen, sie geben dir Stabilität und Sicherheit. Und sie versorgen den Baum mit Nährstoffen.

Fange nun an, dich sehr sanft zu wiegen, wie ein Baum im Wind. Nehme dabei deine Wurzeln wahr, deine Verbundenheit mit dem Boden.

Spüre die Sicherheit, die deine Wurzeln dir geben, und die Kraft, die du als Baum hast.

Wenn du dich gut verwurzelt fühlst, dann lasse deine Bewegungen größer werden. Stelle dir dabei vor, wie mehr Wind aufkommt und an deinen Ästen und Zweigen zieht. Nimm wahr, was du für ein Baum bist: groß oder klein, ein Laubbaum oder ein Nadelbaum, mit Knospen oder Früchten ausgestattet, vielleicht mit Tieren, die auf dir wohnen? Spüre dich als Baum in der Bewegung des Windes. Nimm gerne deine Arme hinzu, die die Äste und Zweige symbolisieren können.

Und vielleicht kommt noch mehr Wind auf, er zerrt regelrecht an dir. Du spürst die Wichtigkeit deiner Wurzeln, deine Standhaftigkeit.

Du spürst ebenso die Flexibilität des Holzes, die Fähigkeit, sich mit dem Wind zu biegen, deine Geschmeidigkeit. Es ist fast wie ein Fließen im Wind, eine Einheit mit den Elementen der Natur.

Und jetzt wird der Wind wieder weniger, deine Bewegungen beruhigen sich.

Wenn du magst, dann tritt innerlich aus dir selbst als Baum hinaus und gehe in deiner Vorstellung einige Schritte zurück. Du schaust dir diesen Baum genau an, so, als würdest du innerlich ein Foto davon machen. Dieses Foto zeigt aber nicht nur, was du sehen kannst, sondern auch, was du hörst. Vielleicht ein leises Knarren des Holzes oder das Rauschen der Blätter im Wind. Und auch Gerüche kommen in diesem Foto vor, dem Foto der Sinne. Wie riecht dieser Baum? Und jetzt nimmst du auch wahr, in welcher Umgebung du stehst, wie sieht es dort aus? Gibt es noch andere Bäume oder Pflanzen? Existieren irgendwelche besonderen Dinge um dich herum?

Und nun gehst du in deiner Vorstellung wieder zu deinem Baum zurück, zu dir zurück, und wirst wieder eins mit ihm. Du fühlst wieder deine verwurzelten Füße, du nimmst wieder wahr, wie es sich anfühlt, ein Baum zu sein.

Und wieder beobachtest du die Ausgewogenheit von Stabilität und Flexibilität in dir.

Mache nun freie Bewegungen als Baum, was immer du möchtest. Spüre tief hinein. Vielleicht möchtest du auch deinen Platz hier im Raum verändern, beispielsweise näher an andere Bäume heran, oder auch weiter weg. Folge ganz deinen Impulsen.

(Einige Minuten Zeit lassen)

Und pendele dich nun wieder in der Mitte ein, lass die Bewegungen ausklingen und spüre nach.

Wenn du gleich die Augen öffnest, werde ich dir Papier und Stifte geben, und du hast Gelegenheit deinen Baum zu malen. Wenn du mit dem Malen nicht so viel anfangen kannst, dann besteht auch die Möglichkeit, den Baum mit Worten zu beschreiben, vielleicht auch mit Geräuschen oder einer Melodie. Finde deine individuelle Ausdrucksmöglichkeit.“

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Anschließend malen die Teilnehmer in Ruhe Ihre Bäume. Danach besprechen wir die Bilder. Bei allen ist innerlich einiges in Bewegung gekommen!

Yvonne Baum 2b        Baum_Lydia

Dreißig Imaginationsübungen sowie psychologisches und neurobiologisches Hintergrundwissen finden Sie in meinem Buch Imaginationen (2017).

abram_2_2008  Über die Autorin:

Antje Abram ist Diplom-Sportlehrerin für Behindertensport und Rehabilitation, Gestalttherapeutin und Systemische Familientherapeutin und arbeitet seit 1998 in eigener Praxis.

Weitere Informationen erhalten Sie hier.

Borderline – das Chamäleon unter den psychischen Störungen?!

An einer Borderline-Störung leiden nach offiziellen Angaben etwa ein bis fünf Prozent der Bevölkerung. Das Wissen über das Erkrankungsbild ist in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Es gilt inzwischen als gesichert, dass ein Zusammenspiel zwischen genetischen Faktoren und (oftmals) frühen traumatischen Erfahrungen für die Entstehung verantwortlich ist.

Viele Betroffene leiden unter den Symptomen, ohne zu wissen, dass sie krank sind. Unser Autor Dr. Michael Armbrust gibt einen Einblick in das (Er-)Leben eines Borderliners und zeigt Hilfsmöglichkeiten auf.


Borderline oder nicht? Das ist hier die Frage …

Von Dr. Michael Armbrust

 

„Du regst dich immer unglaublich auf!“

„Manchmal bist du von einem Moment auf den anderen ungenießbar!“

„Warum bist du eigentlich immer so misstrauisch allen gegenüber?“

„Deine Launen hält niemand aus!“

 

Manche Menschen werden überdurchschnittlich häufig mit solchen Vorwürfen konfrontiert.

 

„Eigentlich habe ich außer meiner Arbeit nichts vom Leben.“

„Ohne meinen Partner käme ich gar nicht klar.“

„Alle Menschen sind immer ganz gemein zu mir.“

„Eigentlich fühle ich mich nirgends zugehörig.“

„Mein Scheißleben sollte einfach irgendwie beendet sein!“

 

Und manchen Menschen schießen solche Gedanken überdurchschnittlich häufig durch den Kopf.

 

Beides – die Reaktionen der Umwelt und auch das eigene Innenleben – könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese Menschen krank sind, und zwar oftmals, ohne es zu wissen. Die mögliche Diagnose: Borderline-Syndrom.

Manche nennen die Störung auch das Chamäleon unter den psychischen Störungen, weil sie schwer zu fassen ist – für Betroffene und deren Umwelt ebenso wie für die Fachleute.

Offiziell spricht man von einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, die folgendermaßen definiert wird:

Es bestehen tiefgehende und situationsübergreifende Verhaltensmuster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Gefühlen, außerdem eine deutliche Impulsivität. Fünf der nachfolgenden Symptome müssen vorliegen:

  1. Reales oder befürchtetes Verlassenwerden muss unbedingt vermieden werden.
  2. Zwischenmenschliche Beziehungen werden instabil, aber intensiv geführt. Die Bezugsperson wird wechselnd idealisiert oder abgewertet.
  3. Es besteht eine ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes, auch der Selbstwahrnehmung.
  4. In mindestens zwei Lebensbereichen tritt impulsives selbstschädigendes Verhalten auf (Essstörungen, rasantes Fahrverhalten, unvorsichtiges Sexualverhalten etc.)
  5. Suizidversuche oder -drohungen sowie Selbstverletzungsverhalten treten wiederholt auf.
  6. Gefühle und Stimmungen sind instabil und wechseln meist innerhalb von Stunden.
  7. Es besteht ein chronisches Leere-Gefühl.
  8. Unangemessene Wutausbrüche treten auf, und es besteht die generelle Schwierigkeit, Wut zu kontrollieren.
  9. Durch Belastungen werden vorübergehend misstrauische Vorstellungen ausgelöst oder starke dissoziative Symptome. Letzteres meint Erlebnisveränderungen wie ein Neben-sich-Stehen, Änderungen in der Sinneswahrnehmung oder Trancezustände.

All diese Symptome treten auch bei gesunden Menschen gelegentlich auf, sodass einfache Ja-/Nein-Antworten nicht ausreichen, um die Diagnose zu stellen. Auch ist dringend von einer Selbstdiagnose abzuraten. Dazu bedarf es einer wesentlich intensiveren Auseinandersetzung mit der Thematik und der eigenen Biografie, in der Regel im Rahmen einer Diskussion mit einem kompetenten Gesprächspartner. Es muss nämlich nicht nur das Auftreten bestimmter Symptome an sich, sondern auch das Ausmaß des Verhaltens geprüft werden.

Darüber hinaus bleibt zu klären, ob eine andere psychische Störung der Grund für das problematische Verhalten sein kann.

Beruflicher Erfolg als „Symptom“ der Störung?!

Nicht selten sind Menschen mit Borderline beruflich recht erfolgreich. Ihr Weg führt sie aber trotzdem – oder gerade deshalb – immer wieder in Sackgassen. Beispielsweise ist der Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik aufgrund einer Erschöpfungsdepression nicht selten. Weil sie sich völlig verausgabt, weil sie selbstschädigend gearbeitet haben. Ihr Motto lautet: maximaler Einsatz! Überstunden und zu wenig oder gar keine Pausen sind selbstverständlich. Und dennoch finden sie keine Befriedigung, da die Arbeitsleistung „nie reicht“, nie gut genug ist. Dies hängt mit der für diese Störung typischen ausgeprägten Selbstwertproblematik zusammen.

Funktionieren als Lebenszweck

Studien haben ergeben, dass es für Menschen mit einer Borderline-Störung – und folglich großen Identitätsfindungsproblemen – symptomatisch ist, sich in einen Funktionszustand (meist im beruflichen Kontext) zu „flüchten“ und so den Problemen in anderen Lebensbezügen zu entgehen. Dieser Funktionszustand kann auch in der Mutterrolle erfolgen oder in anderen Rollenmodellen. Auch eine Karriere als Sportler oder Balletttänzerin passt hier gut ins Bild.

Entscheidend ist, dass die soziale Rolle möglichst vordefiniert ist, dass sie „nur“ perfekt ausgefüllt werden muss, aber keine eigene Gestaltung erfordert. Dazu wäre es nämlich nötig, sich selbst zu kennen und wertzuschätzen, dass man weiß, was man will, und vor allem mit seinen Gefühlen und Impulsen umgehen zu können. Genau das jedoch nicht zu können ist das Grundproblem bei der Borderline-Störung.

Borderline – die verkannte Krankheit?

Etliche Betroffene sind schon im Jugendalter auffällig und beginnen früh mit der richtigen Behandlung. Ein beträchtlicher Anteil lebt jedoch eher unauffällig bis ins junge und mittlere Erwachsenenalter hinein und führt ein nach außen halbwegs „normales“ Leben. Sie sind sich der tiefgehenden Störung nicht bewusst, da sie ein Leben ohne die krankheitsbedingten Probleme gar nicht kennen. „Es war schon immer so“, und gegen auftretende Symptome wurden wirksame Strategien der Ablenkung entwickelt: Ablenkung vom aktuell unangenehmen Erleben, aber auch Ablenkung und Vermeidung von Selbstwahrnehmung, insbesondere von den eigenen Gefühlen.

Psychosomatische Behandlung als Selbstentdeckung

Viele Betroffene dieser Störung werden erst in einer ambulanten Psychotherapie oder sogar während einer stationären psychosomatischen Behandlung mit der möglichen Diagnose Borderline konfrontiert. Der ursprüngliche Grund für die ärztliche Konsultation sind oft Depressionen, meist kombiniert mit Erschöpfungssymptomen infolge des hohen Einsatzes und der immensen Anpassungsleistung. Niemand soll merken, wie schlecht es ihnen geht. Auch sie selbst möchten es weder spüren noch wahrhaben.

Früher oder später reichen aber die seelischen und körperlichen Kräfte nicht mehr aus, um das Versteckspiel fortzuführen. Manche „tapfere“ Betroffene „schaffen“ es bis in ihre 40er-Jahre, bevor sie „aufgeben“ müssen. Die dann geforderte sogenannte Radikale Akzeptanz, dass „es ist, wie es ist“, und es nun nicht weitergeht, ist ein wesentlicher Teil zu Beginn der Therapie.

Nur Depressionen?

Infolge der seelisch wie körperlich sehr unausgeglichenen und phasenweise extremen Lebensweise kommt es neben den Depressionen auch zu anderen Folgeerscheinungen. Häufig entwickeln sich Angststörungen, vor allem soziale Ängste, Essstörungen oder ein Missbrauch von Substanzen, um die Rollenfunktion aufrechtzuerhalten und die störenden Gefühle wegzudrücken.

Ist Borderline eine Krankheit?

Das Borderline-Syndrom gehört zu den Persönlichkeitsstörungen, die vom Kern her besser Persönlichkeitsentwicklungsstörung genannt werden sollten. Der Begriff Störung bezieht sich dabei auf die „Abweichung von der soziokulturellen Norm“: Die Betroffenen zeigen also Verhaltensweisen, die sich deutlich von den gesellschaftlich vorgesehenen und akzeptierten Verhaltensmustern unterscheiden. Das betrifft Abweichungen in der Regulation der Gefühle, der Beziehungen und der Identitätsbildung. Da die Betroffenen selbst darunter leiden, erhält dieses Symptommuster eine Krankheitswertigkeit.

Die Persönlichkeitsentwicklung ist ein kompliziertes Feld und ein eigenständiger Bereich in der wissenschaftlichen Psychologie. Menschen sind unterschiedlich, und ihre jeweilige Entwicklung ist es auch. Kategoriale Denkansätze („Schubladen“) führen hier eher ins Leere.

In der Psychologie gelten dimensionale Ansätze. Diese erfordern viele Diskussionen und Abstimmungen, erlauben aber eine individuelle Erfassung der Persönlichkeitsentwicklung. Erst wenn ein längeres Leiden auftritt, wird eine Störungsqualität gemäß der oben genannten Abweichung diskussionswürdig, denn emotional-instabile Phasen treten temporär auch im Rahmen einer „normalen“ Entwicklung auf, etwa in der Trotzphase und der Pubertät.

Borderline? Das sind doch die, die sich ritzen

So denken sehr viele Menschen, auch solche mit professioneller Ausbildung. Das klischeehafte Bild vom ritzenden Borderliner muss jedoch revidiert werden. Erkenntnisse auf Basis psychiatrischer und psychotherapeutischer Angebote machen deutlich: Gut ein Drittel der Betroffenen haben mit Selbstverletzungsverhalten keine oder nur sehr kurze Erfahrungen. Eine Senkung der inneren Anspannung – das Hauptmotiv für selbstverletzendes Verhalten – wird mit anderen Techniken erreicht. Techniken, die ebenso ungünstig oder schädigend, aber dafür gesellschaftlich akzeptiert und toleriert sind. Exzessives Arbeiten oder hoher Alkoholkonsum gehören dazu.

Gibt es typische Borderliner?

Nein, da es nur ein gemeinsames Merkmal gibt: die emotionale Instabilität. Diese äußert sich in Stimmungsschwankungen, die gar nicht nach außen dringen müssen, und in einer Impulskontrollstörung, die oft durch anderes Verhalten gedeckelt oder versteckt ist. Das nach außen gezeigte Verhalten kann sehr vielfältig oder sogar variabel sein. Manchmal sind die Betroffenen selbst von sich und ihren starken negativen Impulsen überrascht, etwa wenn sie an Gewicht zunehmen, einen Job verlieren oder den Sport reduzieren müssen.

„Borderliner sind ganz schrecklich!“

Diese vor 30 Jahren in der Psychiatrie entstandene und gerne nach wie vor von den Medien verbreitete Vorstellung ist falsch. Vor allem weil es damals, als die Diagnose eingeführt wurde, noch keine effektiven Behandlungsmethoden gab, waren die professionellen Helfer überfordert und reagierten unangemessen. Die genannte Abwertung der Betroffenen begründet sich also weniger am realen Krankheitsbild, sondern reflektiert viel mehr die Hilflosigkeit der Fachleute und die Schwierigkeiten bzw. Missverständnisse, die als Folge der damaligen Rahmenbedingungen der Psychiatrie auftraten.

Gibt es Hilfe und Unterstützung?

Spätestens in den 90er-Jahren wurden die ersten psychotherapeutischen Methoden zur Behandlung dieser Störung entwickelt. Störungsspezifische Medikamente gibt es bis heute nicht. Die heute als bewährt geltenden Therapiemaßnahmen werden seit etwa zehn Jahren in vielen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken angeboten, in der ambulanten Versorgung leider noch eher spärlich. Einen besonders wichtigen Stellenwert hat die Selbsthilfe, die auch online betrieben werden kann.

Die Prognose der Störung hat sich erheblich verändert: Heutzutage ist ein symptomfreies Leben durchaus realistisch. Der deutliche Rückgang von Fehlverhalten, insbesondere des selbstschädigenden, eine vollschichtige Arbeitsfähigkeit und eine relativ normale Beziehungsfähigkeit sind inzwischen für viele Betroffene gelebter Alltag. Wichtig dafür sind eine möglichst frühzeitige Diagnosestellung und eine störungsspezifische Behandlung, bevor zu viele sekundäre Folgen aufgetreten sind, wie z.B. das Scheitern von Ausbildungen, kontinuierliche Einnahme von Substanzen oder sich wiederholende depressive Phasen.

Auch eine möglichst breite und vorurteilsfreie Aufklärung in der Bevölkerung ist wichtig, um den Betroffenen Scham und Selbstabwertung zu ersparen und insbesondere das (Über-)Leben in den oben beschriebenen Funktionszuständen zu verhindern.

Was kann man selbst tun?

Wenn Sie diesen Beitrag gelesen haben und einen der eingangs aufgeführten Vorwürfe und Gedanken aus Ihrem eigenen Leben kennen oder in Verbinung mit einem anderen, Ihnen nahestehenden Menschen, könnte es ein Hinweis darauf sein, dass eine emotionale Instabilität vorliegt, die möglicherweise jetzt schon belastend ist oder später ein Leiden mit sich bringen wird.

Für sich selbst sollten Sie möglichst ehrlich überlegen, ob Ihre Gefühlsreaktionen möglicherweise öfter zu stark sind und ungemessenes Verhalten bedingen. Dann könnten Sie die oben genannten Symptome für sich kritisch überprüfen.

Mit einer anderen Person, die Ihnen wichtig ist, sollten Sie das Gespräch über deren Verhalten suchen und Ihre Eindrücke mitteilen, auch andeuten, dass möglicherweise ein tiefergehendes Problem besteht, das professioneller Unterstützung bedarf.

Wenn sich die Vermutung erhärtet, sollten Sie eine ärztliche Untersuchung und ggfs. Behandlung in Betracht ziehen.

Ein abwartendes Verhalten, insbesondere im spätpubertären Alter, ist möglich. Zu lange sollte eine Konsultation mit einem Arzt aber nicht auf sich warten lassen, da es inzwischen als gesichert gilt, dass die Störung sich nicht von alleine bessert, sehr wohl jedoch mithilfe gezielter Behandlung.

 

Armbrust_Foto 22.5.2015  Über den Autor

Dr. med. Michael Armbrust ist Chefarzt der Schön Klinik Bad Bramstedt. Zusammen mit Anja Link, Mitbegründerin des Borderline-Trialogs und der Borderline-Trialog Kontakt- und Informationsstelle in Nürnberg, hat er 2015 das Buch „Borderline im Trialog: Miteinander reden – voneinander lernen“ bei Junfermann publiziert.

 

 

Stille-Post-Transaktionen: Buchpräsentation auf der World Conference for Transactional Analysis

JechtKauka-Spielerisch_FINAL.inddVom 27. bis zum 29. Juli 2017 kamen in der TU Berlin 900 Transaktionsanalytiker*innen aus aller Welt zusammen. In Vorträgen und Workshops wurde das sehr aktuelle Tagungsthema „Boundaries – a place … to meet … to develop … to define identity” behandelt.

Rechtzeitig zu diesem Kongress war unser Buch „Spielerisch arbeiten“ von Gudrun Jecht und Elke Kauka fertig geworden, und so lag es nahe, diesen Band den zahlreich in Berlin versammelten Fachkolleg*innen vorzustellen.

Am Freitag, dem 28.7. – nach einem langen Kongresstag und vor einem weiter entfernt stattfindenden Festabend – fand sich eine erfreulich große Gruppe in dem uns zugewiesenen Hörsaal ein. Die an dem Buch Beteiligten mussten sofort erste Exemplare signieren und sich zu Gruppenfotos zusammenfinden. Neben Elke Kauka und Gudrun Jecht waren von den deutschen Autorinnen noch Eva Bräuning und Ulrike Thiersch-Jung anwesend, von der italienischen Autorenschaft war Stefano Morena gekommen – und er hatte eine ganze italienische TA-Delegation

Von links nach rechts: Stefano Morena, Elke Kauka, Eva Bräuning, Gudrun Jecht, Ulrike Thiersch-Jung

Von links nach rechts: Stefano Morena, Elke Kauka, Eva Bräuning, Gudrun Jecht, Ulrike Thiersch-Jung

mitgebracht.

Und dann begann die eigentliche Buchpräsentation, in der erstmals öffentlich in TA-Kreisen die neu entdeckte Stille-Post-Transaktion demonstriert wurde. Und das ging so:

Elke Kauka berichtete humorvoll, wie die Idee zu dem Buch entstanden war und wie dieses Buch-Baby auf die Welt gebracht wurde. Nach wenigen Sätzen hielt sie inne, der Blick ging zu Gudrun Jecht und diese übersetzte das vorher Gesagte ins Englische. Neben Gudrun Jecht stand der Dolmetscher der italienischen Delegation, der aus dem Englischen ins Italienische übersetzte.

Elke Kauka berichtete über ihr Zusammentreffen mit italienischen Kolleginnen und Kollegen und wie daraus die Idee dieser länderübergreifenden Kooperation entstanden sei. – Pause – Pause – Pause – und ein Blick zu Gudrun Jecht, die anscheinend ganz vertieft in das Berichtete ihren Übersetzungseinsatz verpasst hatte. Doch es gelang ihr, den Faden

Die Stille-Post-Transaktion: Vom Deutschen ins Englische ins Italienische (von rechts nach links)

Die Stille-Post-Transaktion: vom Deutschen ins Englische ins Italienische (von rechts nach links)

aufzunehmen und ihrem italienischen Nebenmann eine englische Vorlage zu liefern.

So verging die Zeit wie im Flug und am Ende wurden noch mehr Bücher signiert und weitere Fotos gemacht. Unbeantwortet blieb allerdings die Frage, ob am (italienischen) Ende tatsächlich das rauskam, was am (deutschen) Anfang in die Transaktionskette hineingegeben worden war. Die Stille-Post-Transaktion könnte also für den einen oder die andere zu einem interessanten Forschungsgebiet werden …

Hochbegabung und Gesundheit

Ein sensibler Geist wohnt in einem sensiblen Körper

Von Andrea Schwiebert

Als Coach und Berufungsberaterin für hochbegabte Erwachsene begegnet mir immer wieder ein Phänomen: Viele meiner Klientinnen und Klienten, die mit Fragen der Berufsorientierung zu mir kommen, berichten nebenbei von gesundheitlichen Beschwerden, die ihre Lebensqualität und Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Typischerweise leiden sie gleich unter mehreren Allergien, oft auch unter Nahrungsmittelunverträglichkeiten, nicht selten unter Autoimmunerkrankungen – und oftmals unter schulmedizinisch unerklärlichen Symptomen, deren Behandlung trotz frustrierender Ärzteodyssee wirkungslos blieb. Klienten berichten mir etwa: „Ich hatte 20 Jahre lang Migräne und habe starke Medikamente eingenommen, und es hieß, da sei nichts zu machen“, oder: „Meine Blutwerte waren normal, also wurde mir nur immer wieder gesagt, meine Beschwerden seien psychisch.“

Allergien und Autoimmunerkrankungen: Wieso treten sie gehäuft bei Hochbegabten auf?

Außergewöhnlich intelligente Menschen erreichen häufiger ein höheres Bildungsniveau, sind somit aufgeklärter in Sachen Gesundheitsprävention und ernähren sich im Durchschnitt gesünder als die breite Masse der Bevölkerung. Warum also scheinen sie dennoch überproportional anfällig für bestimmte Erkrankungen zu sein, insbesondere für Allergien, Unverträglichkeiten und Autoimmunerkrankungen?

Eine Filterschwäche als Erklärung

Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass eine intellektuelle Hochbegabung in der Regel mit einem verringerten Reizfilter einhergeht, im englischen Sprachraum spricht man auch von Overexcitability. Neben einer geistigen Hochbegabung liegt also zumeist auch eine „Hochbegabung der Sinne“ oder auch Hochsensibilität vor: Die betreffenden Menschen nehmen mehr Sinnesreize wahr als der „Durchschnittsmensch“ und verarbeiten diese intensiver.

Möglicherweise ist dieser verringerte Reizfilter sogar eine der Voraussetzungen für die Entstehung einer intellektuellen Hochbegabung: Säuglinge mit dieser Filterschwäche haben von Beginn ihres Lebens an mehr Eindrücke zu verarbeiten als Kinder mit weniger Reizoffenheit, und bei entsprechender kognitiver Veranlagung lässt die Notwendigkeit, all diese Reize zu verarbeiten, ihr Gehirn schneller und vernetzter reifen, sodass ein stark überdurchschnittliches intellektuelles Potenzial entsteht.

Aus der Hochsensibilität wiederum ergeben sich zwei Umstände, die die Entstehung der o. g. Erkrankungen begünstigen können, denn einige Gegebenheiten in unserer heutigen Gesellschaft machen gerade besonders sensiblen Menschen zu schaffen:

  1. Wer sensibel ist, tappt schnell in die Stressfalle. Leistungs- und Termindruck, hohe Ansprüche und Konkurrenz, Zukunftsangst, Lärm, Hektik, Verkehrsstaus … Unser heutiges Leben setzt einiges an Stressresistenz voraus. Hochsensible Menschen, die Geräusche, Gerüche, visuelle Eindrücke, aber auch Stimmungen mit empfindsamen Antennen aufnehmen und diese intensiv verarbeiten, sich häufig viele Gedanken machen und vieles in Frage stellen, laufen leicht Gefahr, in Dauerstress zu geraten. Dass Dauerstress krank machen kann und einen Einfluss auf die Entstehung von hormonellen Störungen, Depressionen, Allergien und Autoimmunprozessen hat, ist allgemein bekannt. Die Autoimmunerkrankung der Schilddrüse Hashimoto Thyreoiditis etwa, so erklärte mir eine Ärztin, betreffe ihrer langjährigen Erfahrung nach fast immer empfindsame Menschen, die sich um viele Dinge Gedanken und Sorgen machen. Diese Erkrankung wiederum kann Depressionen und Unverträglichkeiten begünstigen und wird oft erst nach Jahren erkannt.
  1. Ein sensibler Geist wohnt in einem sensiblen Körper. Mit der sensiblen Wahrnehmung geht zumeist auch eine körperliche Sensibilität einher. Hochbegabte und hochsensible Menschen scheinen auch körperlich Seismographen der Gesellschaft zu sein: Luftverschmutzung, Elektrosmog, Farb- und Konservierungsstoffe in Nahrungsmitteln, Strahlung, Chemikalien – unsere moderne Welt ist voller Faktoren, die für uns alle ungesund sind. Hochsensible reagieren jedoch offenbar auch auf stoffliche Reize schneller und deutlicher als ihre mit einem stärkeren Reizfilter ausgestatteten Mitmenschen und entwickeln z. B. eine Kontaktallergie, eine Histaminintoleranz oder andere Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

Meine 32-jährige Klientin Sandra (Name geändert) war vier Monate lang erschöpft und so schwer krank, dass sie kaum noch aufstehen und nicht mehr arbeiten konnte – bis eine für eine Zweitmeinung hinzugezogene Gynäkologin Sandras Verdacht, dass eine direkt vor dieser Erkrankung eingesetzte Kupferspirale zur Verhütung der Grund für diese Symptomatik sein könnte, ernst nahm und die Spirale entfernte. Sandra erzählte mir: „Ich habe mir die Spirale dann entfernen lassen – und der Effekt war unglaublich: Direkt beim Entfernen merkte ich, dass die Kupferspirale wirklich die Ursache für meine Beschwerden gewesen war. Der Unterschied, in welchem Zustand ich die Praxis betreten hatte und wie ich wieder hinauskam, war riesig. Wenige Tage danach war ich wieder fit.“ Ein eindrückliches Beispiel für einen Leidensweg, dessen Ursache ärztlicherseits zunächst nicht erkannt wurde, weil eine solche körperliche Unverträglichkeitsreaktion so selten ist.

Beide oben genannten Varianten – krankmachender Dauerstress und sensible Reaktionen des Körpers – können natürlich auch parallel auftreten. Nicht immer ist es leicht herauszufinden, ob Beschwerden stressbedingt sind oder ob andersherum eine körperliche Erkrankung so viel Kraft raubt, dass die Stresstoleranz herabgesetzt ist. Was aber nicht bedeutet, dass die Betroffenen sich ihre Symptome „nur einbilden“. Bedauerlicherweise wird ihnen jedoch von ratlosen Ärzten oft genau dies vermittelt: Sie seien eingebildete Kranke und könnten sich bestenfalls psychiatrisch behandeln lassen.

Ein weiterer Faktor: Tendenz zur Androgynität mit Affinität zu Autoimmunerkrankungen

Dabei scheint es sogar noch einen weiteren Faktor zu geben, der die Wahrscheinlichkeit von Allergien und Autoimmunerkrankungen bei Hochbegabten erhöht. Offenbar lassen sich hormonelle Besonderheiten während der fötalen Entwicklung von später hochbegabten Menschen feststellen, die oft auch noch im weiteren Lebensverlauf stabil bleiben: Der Testosteronspiegel ist bei Jungen unterdurchschnittlich hoch (in Bezug auf Normwerte bei Jungen), bei Mädchen überdurchschnittlich (in Bezug auf Normwerte bei Mädchen). Dies trägt zu einer hormonell bedingten Beeinflussung der Chromosomen (den Trägern unserer Erbinformation) und in der Folge zu einer andersartigen Hirnentwicklung bei, die unter anderem häufig mit einer Affinität für Autoimmunerkrankungen und Allergien einhergeht.

(Quellen: https://www.hochbegabtenhilfe.de/neurobiologische-forschung-zur-hochbegabung/ und https://www.hautsache.de/Neurodermitis/Forschung/Allergien-und-Hochbegabung-K-Ein-seltenes-Duo.php)

Was kann Coaching zum Gesundwerden und zur Lebensqualität Betroffener beitragen?

Eine bei Hochbegabten also oft angeborene erhöhte Neigung zu Allergien und Autoimmunerkrankungen muss nicht automatisch bedeuten, dass diese auch „ausbrechen.“ Und selbst wenn derartige Erkrankungen bereits bestehen, sind sie oft positiv beeinflussbar oder sogar heilbar. Da Allergien und Autoimmunerkrankungen sowohl körperliche Ursachen haben als auch durch Stress jeglicher Art (auch unverträgliche Nahrungsmittel oder giftige Dämpfe sind „Stress“ für den Organismus) bzw. psychische Belastungen ausgelöst oder verschlimmert werden können, macht es Sinn, ganzheitlich an die Sache heranzugehen, wenn eine Besserung der Beschwerden erreicht werden soll. Ich biete betroffenen hochbegabten und hochsensiblen Klienten deshalb eine ganzheitliche Gesundheitsberatung an, die ich als Ergänzung zu medizinischer Diagnostik und Behandlung sehe und selbstverständlich nicht als Ersatz dafür. So vergewissere ich mich zunächst, ob die Klienten bereits erfahrene Ärzte oder Heilpraktiker an ihrer Seite haben, und spreche ggfs. Empfehlungen hierzu aus.

Gerade bei Allergien, Autoimmunerkrankungen und unerklärlichen Symptomen kann in vielen Fällen eine qualifizierte Ernährungsberatung helfen. Durch eine Ernährungsumstellung können sich Heuschnupfen, rheumatische Beschwerden, Hauterkrankungen und viele andere Symptome bessern. Hier gibt es, und das möchte ich betonen, jedoch nicht die ideale Ernährungsform für alle – sondern es ist wichtig, eine individuell gesundheitsförderliche Ernährung zu finden.

Darüber hinaus können Betroffene ihr Wohlbefinden oftmals steigern und gesünder werden, indem sie ein positiveres Selbstbild entwickeln, Beziehungen in ihrem beruflichen wie privaten Umfeld klären und lernen, eine achtsame und damit gesundheitsfördernde innere Haltung einzunehmen. Hierbei begleite ich sie gern als Gesundheitsberaterin. In meiner Gesundheitsberatung habe ich wiederholt die Erfahrung gemacht, dass die oben angedeuteten drei Ansatzpunkte wesentlich sind:

1. Selbsterkenntnis und Selbstannahme. Die eigene Hochbegabung und ihre Auswirkungen auf die Biografie und Persönlichkeit, auf den bisherigen Berufsweg, auf zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt zu erkennen, ist oft ein wichtiger Schritt zur Aussöhnung mit dem eigenen Weg und zur Selbstannahme. „Ich bin anders als andere – aber ich bin nicht falsch“ ist eine Erkenntnis, die die Basis für ein neues Selbstbewusstsein und damit gesundheitsförderlich sein kann. Ebenso entscheidend ist, dann tatsächlich die Erfahrung machen zu können, von anderen Menschen angenommen zu werden und in einen bereichernden Austausch mit diesen zu treten.

Fragen, an denen Klienten und Klientinnen arbeiten können, sind in diesem Zusammenhang:

  • Welche Besonderheiten in meinem bisherigen Leben lassen sich durch eine Hochbegabung erklären?
  • Wer bin ich und wer will ich sein?
  • Gibt es bisher „Ungelebtes“, das ich mit dem Wissen um meine Begabung nun doch verwirklichen kann und will?
  • Wie finde ich die Erlaubnis und Ermutigung, ich selbst zu sein und so zu leben, wie es mir entspricht?
  • Gibt es Menschen, von denen ich mich „erkannt“ fühle und mit denen ich mehr Zeit als bisher verbringen möchte? Fehlen mir noch „passende“ Menschen? Wo könnte ich diese finden?

 „Nicht mehr darüber nachzudenken, ob ich okay bin, sondern mich selbst anzunehmen, meine Freude und Begeisterung mit anderen zu teilen: Das hat für mich alles geändert. Ich sprudele oft richtig vor Energie und gehe jeden Tag mit Lust und Freude an. Ob es daran liegt, weiß ich nicht, aber jedenfalls sind sowohl mein Heuschnupfen als auch meine Rückenbeschwerden in den letzten Jahren immer besser geworden“, erzählte mir erst neulich eine frühere Klientin.

2. Krankmachende und gesundheitsförderliche Lebensumstände erkennen und neu gestalten. Als Systemische Beraterin interessiert mich der Blick auf krankmachende wie auch gesundheitsförderliche Umstände im Job, in Beziehungen, in der Familiengeschichte. Hochbegabte entsprechen nicht der Norm – und ecken deshalb häufig an mit ungewöhnlichen Ideen, Aktivitäten, Fragestellungen und Lösungsansätzen, was sowohl im Job als auch in zwischenmenschlichen Beziehungen ganz allgemein zu offenen oder verdeckten Konflikten und zu nagenden Selbstzweifeln führen kann. Oft lässt sich sogar ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Beginn dieser Konflikte und dem Auftreten gesundheitlicher Beschwerden beobachten. Manchmal ist auch ein Blick in die eigene Familienbiografie hilfreich, um Übertragungen bestimmter Themen von früheren auf nachfolgende Generationen aufzudecken und um mit diesen alten Themen abzuschließen, sich davon zu befreien und in einigen Fällen auch hierdurch gesundheitliche Verbesserungen zu erreichen. (Die Ärztin Dr. med. Birgit Hickey hat aus dieser Erfahrung heraus Medizin und Systemische Therapie in ihrer Praxis seit vielen Jahren zur „Systemischen Medizin und –Familientherapie“ verknüpft.)

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Fragen, die hier weiter führen können, sind etwa:

  • Gibt es in meinem gegenwärtigen Leben Aufgaben, Beziehungen oder sonstige Umstände (im Job oder privat), die ich als besonders belastend empfinde?
  • Haben diese Schwierigkeiten meinem subjektiven Empfinden nach einen Einfluss auf meine Gesundheit?
  • Möglicherweise ganz konkret: Was ist für mich „zum Kotzen“? Wo ist „dicke Luft und kann ich kaum atmen“? Was bereitet mir „Kopfzerbrechen“?
  • Gibt es unzureichend geklärte Themen in früheren Generationen meiner Familie, die ich möglicherweise „stellvertretend“ zu meinen eigenen Themen gemacht habe und die mich belasten?

Wenn krankmachende Lebensumstände sowie gegenwärtige Konflikte oder schwierige Themen in der Familienbiographie erst einmal als wichtige Faktoren ausfindig gemacht worden sind, lässt sich gut mit systemischen Methoden an Lösungen und Veränderungen arbeiten. Als Beraterin wäge ich hier ab, welche Themen im Coaching angegangen werden können und in welchen Fällen eher der Verweis an eine Therapeutin oder einen Therapeuten angezeigt ist.

3. Zu einer achtsamen inneren Haltung finden. Achtsamkeit, das urteilsfreie Wahrnehmen und Erleben des Augenblicks, das Annehmen des Lebens, so, wie es gerade ist, hilft ungemein dabei, aus lähmenden und krankmachenden Gefühls- und Gedankenstrudeln auszusteigen. Und gerade negatives Gedankenkreisen ist etwas, das viele Hochbegabte nur allzu gut kennen. Darauf angesprochen, höre ich zum Beispiel: „Stimmt, über dieses Problem mache ich mir pausenlos Gedanken, ohne dabei eine Lösung zu finden.“ Kummervolle Gedanken und Gefühle werden im Sinne der Achtsamkeit durchaus wahrgenommen und nicht unterdrückt. Die Kunst ist jedoch, destruktive Gedanken weiterziehen zu lassen, statt sie immer wieder neu „aufzukochen“. Daran lässt sich im Coaching gemeinsam arbeiten.

Interessante Fragen sind hier z. B.:

  • Was trägt dieser Gedanke dazu bei, dass ich ein glückliches und erfülltes Leben führen kann?
  • Wann, wie und wo könnte ich mich gezielt mit dem Problem beschäftigen, um Lösungsmöglichkeiten zu finden?
  • Was könnte ich in der übrigen Zeit tun, statt mich mit dem Problem zu beschäftigen?

Wenn wir achtsam leben, sind wir im Kontakt mit uns selbst und dem eigenen Körper und spüren, was uns guttut und was nicht. Das betrifft z. B. auch die Ernährung: Die anfangs genannte für unheilbar befundene Migränepatientin etwa fand selbst heraus, dass sie bei einer histamin- und kohlenhydratarmen Ernährung beschwerdefrei ist. Ein achtsames Beobachten ihrer Symptome half ihr dabei.

Hier droht allerdings eine Falle: Einerseits ist es für hochsensible Menschen oft unerlässlich, sich selbst zu beobachten und selbst zu gesundheitlichen Fragen zu recherchieren, um individuell hilfreiche Lösungen zu finden, die in der Arztsprechstunde nicht erkannt werden. Andererseits aber besteht die Gefahr, dass Hochbegabte und Hochsensible es mit der Selbstbeobachtung und Gesundheitsrecherche übertreiben – und ihre Gelassenheit und das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte ihres Körpers im Streben nach Optimierung verlieren.

Vor diesem Hintergrund bedeutet Achtsamkeit, zu erkennen, dass wir die Wahl haben, worauf wir unseren Fokus richten: Trotz vorhandener Beschwerden und Sorgen können wir unsere Aufmerksamkeit auch auf das richten lernen, was funktioniert und was uns Kraft gibt, statt uns ständig um die Krankheit zu drehen. So erleben wir wieder mehr Leichtigkeit und Lebensfreude, was sich wiederum positiv auf die Selbstheilungskräfte auswirkt. Und selbst wenn Heilung nicht zu erwarten ist, hilft Achtsamkeit dabei, trotz Krankheit Lebensqualität zu erfahren.

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Um eine achtsame Haltung wirklich zu verinnerlichen, empfiehlt sich die Teilnahme an einem achtwöchigen MBSR-Kurs (MBSR = Mindfulness Based Stress Reduction).

Fazit: Vom neuen Blickwinkel zu konkreten Schritten – so lassen sich Gesundheit und Lebensqualität verbessern

Alle drei zuvor genannten Punkte sind gewissermaßen das Handwerkszeug, das wir nutzen können, um damit Dinge in unserem Selbstkonzept und im eigenen Alltag so zu verändern, dass ein Gesundwerden überhaupt möglich ist:

  • Die Erkenntnis der Hochbegabung macht Mut „so zu sein, wie ich bin“, und befreit dazu, das eigene Licht „unterm Scheffel hervorzuholen“ und mit der Welt zu teilen.
  • Der systemische Ansatz hilft, Beziehungen und Verstrickungen zu klären, an deren Lösung wir dann im Coaching arbeiten können.
  • Die Achtsamkeit lässt uns spüren, was uns nährt und wohltut und was nicht, und zeigt uns Handlungsspielräume auf, sowohl was die Welt unserer Gedanken und Gefühle betrifft, als auch in Beziehungen mit anderen Menschen.

So bedeutet Gesundheitsberatung letztlich, den hochbegabten Klientinnen und Klienten dabei zur Seite zu stehen, im eigenen Leben aufzuräumen: Unpassendes zu reduzieren und Wohltuendes einzubauen bzw. wachsen zu lassen. Das schließt alle Lebensbereiche ein.

 

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© Sabine Braungart

Über die Autorin:

Andrea Schwiebert ist Systemische Beraterin mit eigener Praxis in Münster. Sie arbeitet als Coach für hochbegabte und vielseitig begabte Erwachsene.

Bei Junfermann ist von Andrea Schwiebert Kluge Köpfe, krumme Wege? Wie Hochbegabte den passenden Berufsweg finden (2015) erschienen.

Weitere Informationen erhalten Sie hier.

Was von dir bleibt

von Fabienne Berg

Elsbeth stützte sich mit beiden Händen auf das kleine Waschbecken. Für einen Moment schloss sie die Augen. Dann hob sie den Kopf und blickte in das Gesicht, das ihr im Spiegel entgegensah. Viel konnte sie nicht erkennen. Zum einen waren ihre Augen in der letzten Zeit schlechter geworden, aber vor allem war nicht mehr viel von ihr übrig. Das Alter und die Krankheiten hatten ein großes Stück von ihr eingefordert.

Elsbeth hatte in der letzten Zeit einiges mitmachen müssen, nachdem sie die drei Stufen von der Terrasse, die zu ihrem Garten führte, hinuntergefallen war. Mehrere Krankenhausaufenthalte, operative Entfernung des Schleimbeutels am linken Knie, Infusionen, Transfusionen und dann der schockierende Zufallsbefund: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bestürzung. Und Einweisung in eine geriatrische Reha. Da war Elsbeth genau 93 Jahre, 6 Monate und 14 Tage alt. Ob sie ihren 94. Geburtstag noch erleben würde, darüber waren sich die Ärzte uneins.

Elsbeth hangelte sich die drei Schritte vom Waschbecken zum Bett. Geschafft! Endlich wieder sitzen. Die Vorhänge vor dem Fenster des kleinen Krankenhauszimmers waren orangegelb gemustert. Ein leichter Frühsommerwind wiegte draußen sanft die Bäume, während die Abendsonne ein paar vorwitzige Lichtfiguren an die kahle Wand kleckste. Auf dem Tisch lagen Elsbeths Entlassungspapiere. Ihre Verwandten hatten bereits alles geregelt. Morgen sollte sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen. So nannte es ihre Tochter. Elsbeth sollte in ein Pflegeheim. 2400 Euro kostete das im Monat und es hatte einen guten Ruf. Vier Mahlzeiten am Tag wurden geboten sowie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm für all diejenigen, die dem Programm noch folgen konnten.

 

Elsbeth war hellwach im Kopf. Ihr Verstand das einzige an ihr, was noch funktionierte. Bis vor kurzem hatte sie noch einigermaßen eigenständig ihr kleines Reihenhaus am Stadtrand bewohnt. Drei Räume, zwei Badezimmer, ein Stück Garten und die Terrasse mit den Stufen. Über 65 Jahre hatte sie dort gelebt. Davon die meiste Zeit zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Die war mittlerweile selbst das zweite Mal verheiratet und Elsbeths Mann schon viele Jahre tot.

Und nun sollte sie umziehen von einem Haus mit Garten in ein einziges kleines Zimmer.

Was nimmt man da mit?

Elsbeths Tochter hatte bereits angekündigt, dass alles, was sie nicht mitnähme, leider weggegeben würde. Alles zu behalten, wäre zu umständlich.

Elsbeth seufzte auf der Bettkante. Zu umständlich! An jedem Stück im Haus hafteten Erinnerungen. Und die sollten einfach so weg? Entsorgt? Genau wie ich, dachte Elsbeth. Ich bin ihnen auch zu umständlich. Sie wusste, dass dieser Gedanke ein wenig ungerecht war, doch ein Körnchen Wahrheit befand sich schon darin. Na, wie auch immer. Sie sah zum Fenster hinaus. Was nehme ich nur mit? Was bleibt von mir?

Es klopfte an der Tür. Ihre Enkeltochter kam mit ihren drei Kindern. Mit einem Mal füllte sich das Zimmer mit Leben. Oma! Umarmungen. Lachen. Blumen. Ein Blech mit Kuchen. Die Mittlere hielt ein Buch in ihren Händen. Es war ein Kinderbuch und gehörte Elsbeth. Sie hatte es selbst als kleines Mädchen geschenkt bekommen und später auch ihrer Tochter und ihrer Enkeltochter daraus vorgelesen. Ganz eindeutig hatte die Kleine das Buch aus Elsbeths Haus. Begannen die Verwandten bereits, das Haus auszuräumen? Offenbar.

Noch bis vor einen Moment hätte Elsbeth das furchtbar aufgeregt. Doch plötzlich fand sie es schön, dass ihre Urenkelin ihr altes Kinderbuch so neugierig inspizierte.

In diesem Moment wusste Elsbeth, was von ihr bleiben würde: ein Erinnerungspuzzle aus einer Million Teilchen. Die Momente mit ihrer Familie, die Reisen an die Ostsee mit ihrem Mann, ihre Stimme, die ihren Kindern vorlas, die Erwartung in den Gesichtern der Kleinen, wenn sie die alte Spieluhr vor der weihnachtlichen Bescherung aufzog, die Dankbarkeit in den Augen der jüdischen Frau, die sie 1944 bei sich auf dem Dachboden versteckt hatte, ihre Anteilnahme, wenn wieder eine Freundin gestorben war, der süße Duft ihres Marmorkuchens und ihre stummen Gebete, in denen sie den Herrgott angefleht hatte, ihnen den Vater aus der Gefangenschaft zurückzuschicken. Es würde so unendlich viel von ihr bleiben. Dessen war sich Elsbeth mit einem Male ganz sicher.

Was von uns bleibt, das können wir nicht einpacken. All das, wofür wir gelebt und uns eingesetzt haben. Unsere Werte, Gedanken, Taten und Werke. Unsere Liebe, unser Glaube und unsere Hoffnungen und Entscheidungen. All das lebt von uns weiter.

Zärtlich strich Elsbeth ihrer Urenkelin über den Kopf – und war plötzlich bereit für diesen neuen Lebensabschnitt. Was sie ins Heim mitnahm, passte in einen einzigen Koffer.

Was von ihr blieb, ist ein ganzes Leben.

Wir sind alle unterwegs …

Mein Weg zu mir selbst führte über die Alpen – und Ihrer?

Von Barbara Messer

„Keiner kommt von einer Reise so zurück, wie er weggefahren ist!“

– Graham Green (1904–1991)

„Es ist leicht, stark zu sein, gut anzukommen, Erfolge und Leistungen zu verbuchen. Positive Markierungen auf dem Lebensweg sind fein anzuschauen, gesetzte Ziele zu erreichen stimuliert positiv und motiviert. Weitaus schwerer ist es, zu scheitern, das Schwache in sich zuzulassen. Dabei erleben wir die Fallhöhe, den Sturz, das Schwinden, die Verzweiflung, Erschöpfung oder ähnliches, die mögliche Einsamkeit als Folge. Scheitern ist nicht wirklich en vogue, die Menschen gehen gerne darüber hinweg. Und ganz ehrlich, im trubeligen Alltag ist es leicht, darüber hinwegzugehen. Einfach Musik anmachen, chatten, shoppen, fernsehen, das nächste Projekt planen.

Lassen wir jedoch die Schwäche zu, ist das oft schmerzhaft, weil ungewohnt, weil auch negativ belegt oder zumindest negativ interpretiert.

Doch im Wahrnehmen der eigenen Fallhöhe, im Erkennen des wahren Ausmaßes der Schwäche können wir zugleich auch erkennen, wie groß der unbekannte Raum zwischen den beiden Aspekten ist, die uns bekannt sind. (Kennen Sie die U-Bahn in New York? Da heißt es „Mind the Gap“. Achten Sie auf den unbekannten Bereich zwischen U-Bahn und Bahnsteig). Wir sehen den Ausgangspunkt, und wir sehen den Endpunkt. Der Raum dazwischen wird durch das bewusste, aufmerksame Scheitern sichtbar. Dies sind in meinen Augen wichtige Parameter für die eigene Größe. Und wenn wir uns – gerade in diesen schwachen (oder auch einsamen und verzweifelten) Momenten – im Spiegel anschauen können, sehen wir uns wirklich. Ohne Maskerade und Kosmetik und wirklich wunderschön.“

Diese Zeilen stammen aus meinem Buch „Mein Weg über die Alpen: Eine Reise zu sich selbst und anderen“ (2016, S. 53 u. 54). Ich schrieb sie, nachdem ich auf der Glungezerhütte mit meiner Kraft am Ende war und den Weg erst einmal nicht fortsetzen konnte. Dies ist eines der Erlebnisse, die mich auf meiner dreiwöchigen Wanderung über die Alpen sehr stark geprägt haben. Fast gleichzeitig berichtete ich in meinem „Alpenblog“ darüber, sodass andere Menschen an meinen Eindrücken und Erkenntnissen teilhaben konnten.

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Seit 1999 bin ich als Trainerin, Rednerin, Coach und Autorin selbstständig. In all diesen Jahren ist viel passiert und nach meiner Wahrnehmung dreht sich unsere Welt schneller. Diese neue V.U.C.A.[i]-Welt fordert viel von uns Menschen, Flexibilität und ein gutes Selbstmanagement gleich voran. Nach meinem Verständnis braucht es konkrete Auszeiten, um im wahrsten Sinne die „Birne frei zu bekommen“, um wieder klar und aufgeräumt zu werden. Dies gelingt mir im Alltag mit kleinen Breaks, wie z. B. einer Sporteinheit, einer Meditation oder einem Spaziergang. Auch das kurze In-sich-Gehen oder Nachsinnen bei einer Tasse Tee hat für mich den Wert einer kleinen Auszeit, einer Besinnung auf den Moment und das eigene Ich.

Im Sommer 2016 bin ich „einfach“ losgegangen. Das Ziel: in drei Wochen die Alpen überqueren. Ich wollte diesmal mehr als eine kleine Auszeit. Ich wollte ein längeres Stück Zeit nur für mich, um innerlich aufzuräumen, auf die letzten Monate und Jahre zurückzublicken, die eine ganz besondere Zeit in meinem Leben waren. Deswegen nenne ich es In-Zeit und nicht Aus-Zeit.

Der andere Grund war die Lust auf Abenteuer, auf eine neue Herausforderung, darauf, etwas Neues zu erleben, ohne großartig etwas konsumieren oder eine weite Flugreise buchen zu müssen.

Schon früher habe ich mir solche Erlebnisse und Phasen gesucht. So bin ich mit 29 Jahren für acht Monate mit Fahrrad und Zelt in Neuseeland unterwegs gewesen, später habe ich ein Jahr als Business-Nomadin im Wohnmobil gelebt oder bin mit dem Rad über Alpenpässe geradelt und habe im Freien übernachtet.

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Auf solch einer längeren Tour durch die Natur kann man nicht an sich vorbeischauen – man ist sich ja selbst der engste Begleiter, mit dem ganzen Leben und vielen Fragen im Gepäck.

Die Natur ist eine Kraftquelle, die immer wieder zur eigenen Besinnung, Reflektion und Resilienzsteigerung, zur Fokussierung und einer innerlichen und äußerlichen Klarheit einlädt. Die Bergwelt erschloss sich mir bei dieser Wanderung im Jahr 2016 noch einmal neu, denn ich war den Wetterbedingungen ausgeliefert, erfuhr Freud und Leid des Wanderns und konnte damit die Begrenzung meiner Komfortzone ganz erheblich aufbrechen. Jeder Schritt wurde selber gegangen, das drosselt die Geschwindigkeit auf ein teils sehr meditatives Maß.

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Ich dachte während meiner Wanderung über vieles nach und konnte – ganz im Gegensatz zum trubeligen Alltag – sehr viel länger bei einer Fragstellung und deren Beantwortung verweilen.

Das waren Fragen wie:

  • Was braucht es, um glaubwürdig zu sein? Was sehen die Menschen in einem: die öffentliche Person, die man nach außen vorgibt zu sein und die man zeigen möchten? Oder sehen sie auch mal hinter die Fassade? Erkennen andere, was uns wirklich beschäftigt?
  • Wie viel Raum nimmt der derzeitige Selbstoptimierungswahn ein? Ist er angesichts einer Welt, in der Menschen vor Krieg und Hunger flüchten, angemessen?
  • Wie gelingt es uns, wichtige persönliche Beziehungen so zu gestalten, dass wir nichts (oder nicht allzu viel) bereuen, wenn dieser persönlich wichtige Mensch von uns geht – vielleicht sogar für immer. (Ich hatte in den letzten Monaten den Tod einiger Menschen zu betrauern gehabt).
  • Wie gestaltet sich die eigene Spiritualität und wie kann ich sie im Alltag leben?
  • Was braucht es, um glücklich zu sein? Wie können wir Glück und persönliche Zufriedenheit leben, wenn selbst innerhalb von Europa Terror und Krieg herrschen, wenn wir mit unserem Konsumwahn auf Kosten anderer leben?
  • Wie kann ich mich in meiner Arbeit als Trainerin, Coach und Rednerin weiterentwickeln? Was ist mein nächster Schritt? Welche Hemmschuhe, blinden Flecken und Stolpersteine habe ich anzugehen, sodass ich für andere ein kleiner Leuchtturm oder auch Mentor sein kann.
  • Welche meiner Alltagsroutinen – auch in meinen Trainings und Reden – sind überflüssig oder sollten überprüft werden? Wozu sind oder waren sie gut? Was genau könnte ich stattdessen machen?
  • Was wäre, wenn …

Nach diesen drei Wochen bin ich noch einmal mehr in meiner persönlichen Resilienz gereift, ich bin unglaublich zufrieden mit mir, dass mir diese Wanderung gelungen ist. Meine Dankbarkeit ist noch einmal mehr gewachsen, denn ich hatte nicht geahnt, wie schön und innerlich bewegend diese Bergwelt ist. Wie imposant mancher Gipfel, wie faszinierend manche Schlucht und wie schön manche Alm oder manches Tal sein kann. Die unmittelbare Natur hat mich in meiner Demut und Bescheidenheit weitergebracht, mein inneres Management ist mir vertrauter und bekannter geworden.

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Ich bin erfüllt, dass es diese Paradiese gibt und wir sie erreichen, wenn wir uns selber dort hinein bewegen. – Ähnlich wie im Training oder Coaching. Auch das lebt davon, wie wir diese Art von gemeinsamer Wanderung gestalten. Und es kann verblüffend sein, welche Ziele dabei erreicht werden können. Was haben wir im Gepäck? Wo wollen wir hin? Wie gehen wir mit den anderen Wanderern um und wie können wir uns in der Enge einer Berghütte bewegen und uns dennoch erholen, um am nächsten Tag wieder fit für die nächsten Höhenmeter zu sein?

Beziehe ich dies auf ein Training oder Coaching, stellen sich mir ganz ähnliche Fragen, denn wir sind ja alle irgendwie unterwegs – mit allem, was uns ausmacht.

Es wird sicher deutlich, dass meine Fragen und Erkenntnisse reichhaltig sind – das liegt nicht nur an mir, die ich mich selber immer wieder gerne neu erfinde, sondern an der Wanderung selbst.

Ich würde Ihnen diese Möglichkeit, neue Horizonte zu entdecken, gerne näherbringen und könnte hier noch einige Seiten weiterschwärmen von meinen Touren. Allemal besser wäre jedoch, Sie erlebten es selbst! Denn letztendlich macht jeder seine eigene Reise und stellt sich andere Fragen, die für sein Leben wichtig sind. Ich kann Sie nur ermutigen: Tun Sie es! Suchen Sie den Kontakt zur Natur, geben Sie sich den natürlichen Bewegungsabläufen hin und seien Sie ganz bei sich.

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PS.: Es müssen nicht gleich die ganzen Alpen sein! Und Sie müssen sich auch nicht ganz alleine auf den Weg machen. Vom 19. bis zum 26. August biete ich eine einwöchige Coaching-Wanderung von Bad Tölz nach Hall in Tirol an. Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, schauen Sie doch einmal unter www.messers-alpentour.de.

 

Barbara-Messer-Pressebild1  Über die Autorin

Barbara Messer ist Rednerin, Trainerin, Coach und Schriftstellerin. Sie ist eine Visionärin mit ausgeprägter Intuition, die oft verblüffende Lösungsansätze vermittelt und Vorträge und Trainings revolutionär anders gestaltet. Überflüssiges und Unnötiges lässt sie weg, sodass das Wesentliche sichtbar wird. Sie findet die richtigen Worte, auch Unbequemes zu benennen und Unwahres aufzuzeigen, damit eine besondere Glaubwürdigkeit sichtbar wird. Diese absolute Präsenz im Jetzt und die Wertschätzung des Moments machen es ihr möglich, Potentiale in Menschen und in Prozessen zu sehen, die anderen verborgen sind.

Web: www.barbara-messer.de

E-Mail: info@barbara-messer.de

 

[i] V.U.C.A. steht für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Ambivalenz).

Bei Giraffen zu Gast: mein Besuch in Reggio Emilia, im Centro Esserci

Rosenberg_Macht_X.inddVor gut einem Jahr erhielt ich einen Anruf aus Italien: Es gäbe ein Buch von Marshall Rosenberg zum Thema Gewaltfreie Kommunikation und Macht, das bislang nur auf Italienisch und Französisch verfügbar sei. Marshall Rosenberg habe zu diesem Thema Seminare in Italien gehalten und Vilma Costetti, die Gründerin des Centro und der Edizioni Esserci, habe 2004 aus diesen Inhalten ein Buch erstellt.

Natürlich waren wir interessiert und schlossen recht schnell einen Vertrag über die deutschsprachigen Rechte. Das Buch wurde inzwischen übersetzt, von Petra Quast, einer GFK-Trainerin, die in Italien lebt und arbeitet. Die deutschsprachige Ausgabe soll im Herbst 2017 bei Junfermann erscheinen. Soweit, so gut. Doch dann entschloss ich mich, in diesem Jahr Urlaub in der Emilia Romagna zu machen – und was lag näher als ein Abstecher nach Reggio Emilia? Gerne wollte ich das Centro Esserci besuchen, die Verlegerin Giulia Corsi kennenlernen und auch mit Petra Quast einmal persönlich sprechen. Wir einigten uns auf den 22. Mai als Besuchstermin.

Ich fuhr dann mit dem Zug von Bologna nach Reggio und wurde am

Petra Quast und Giulia Corsi

Petra Quast und Giulia Corsi

Bahnhof erwartet. Das Centro Esserci liegt ein wenig außerhalb und so hatten wir bereits unterwegs etwas Gelegenheit, uns „warm zu reden“. Und das lief schon mal ziemlich gut, trotz nicht vorhandener gemeinsamer Konversationssprache und dank der guten Übersetzung von Petra Quast. Im Centro selbst fiel mein Blick sofort auf die vielen, vielen Giraffen, die dort im wahrsten Sinne des Wortes in allen Ecken und P1020132Winkeln stecken. Aber natürlich auch auf die Bücher. Die gesamte Verlagsproduktion liegt auf Tischen, in einem Raum, der auch für Seminare genutzt wird. Mit etwas Wehmut entdeckte u.a. ich die kleinen Bilderbücher, die vor einiger Zeit bei uns in der Reihe „edition junferlino“ erschienen waren und inzwischen nicht mehr im Programm sind. Haben italienische und deutsche Leser den gleichen Buchgeschmack? Nicht so ganz. Im deutschsprachigen Raum kann man z.B. mit gut durchstrukturierten Büchern Punkten, mit Tabellen und Checklisten. Das kommt in Italien meist nicht ganz so gut an.

Aber an diesem Tag stand das Verbindende im Vordergrund. An welchen Stellen können Junfermann und Edizioni Esserci zusammenarbeiten? Außerdem gab es nach einem leckeren Mittagsessen noch eine Runde konkreter Textarbeit am Manuskript von „Gewaltfreie Kommunikation und Macht“.P1020128

Vor meiner Rückfahrt nach Bologna dreht Petra Quast noch eine Runde mit mir durch Reggio Emilia und zeigte mir die schönsten Plätze. Freunde von mir lieben diese nette kleine Stadt – und ich kann jetzt gut verstehen, warum. In den folgenden Tagen habe ich noch viel Schönes gesehen und erlebt, aber der Tag im Centro war schon etwas ganz Besonderes. Ich habe zwei tolle Frauen etwas besser kennengelernt und „dieser italienische GFK-Verlag“ ist für mich kein abstraktes Gebilde mehr, sondern sehr konkret geworden. Wenn ich jetzt nach meinem Urlaub am Manuskript der Übersetzung von „GFK und Macht“ weiterarbeite, ist diese Arbeit mit der Erinnerung an diesen schönen Tag verbunden.

Mentale Stolpersteine aufspüren und bearbeiten

Was das Unbewusste über uns verrät …

Von Gabriele Lönne

Ist Ihnen das auch schon passiert? Sie möchten irgendetwas – etwas Unverfängliches – sagen, doch es kommt etwas ganz anderes raus? Der berühmte Freud’sche Versprecher? Dann darf ich Ihnen gratulieren! In solchen Momenten machen Sie nämlich unmittelbar Bekanntschaft mit Ihrem Unterbewusstsein. Und wenn Sie jetzt meinen, dass sich dieses meist im falschen Moment meldet und offenbar auf emotionalen Stress programmiert ist, dann möchte ich Ihnen widersprechen: Ihr Unterbewusstsein passt auf Sie auf! Es meldet sich, wenn in irgendeiner Weise etwas für Sie Wichtiges in Ihrem Alltag erscheint. Freud’sche Versprecher beispielsweise sind nichts anderes als die Meinungsäußerung Ihres tiefsten Inneren. Und diese Versprecher können wir bearbeiten, indem wir nachforschen, was der Anlass und die Ursache dafür waren. Wenn sie bearbeitet sind, wird Ihnen dieser spezielle Versprecher nicht mehr passieren. Sie werden sich in entsprechenden Situationen „normal“ fühlen.

Auch unser eigenes Verhalten kann für uns manchmal befremdlich wirken. Irgendjemand oder irgendetwas zieht, von uns unbeabsichtigt, unsere Aufmerksamkeit auf sich, wir fühlen uns merkwürdig „angezogen“, vielleicht auch ausgeliefert, ohne es erklären zu können. Dann ist wiederum unser Unterbewusstsein im Spiel und führt uns ziemlich in die Irre.

Das folgende Coaching-Protokoll zeigt ein Beispiel für solch ein Verhalten. Die Wurzeln liegen in der Kindheit der Klientin. Einem Außenstehenden erscheint es zunächst absolut unerklärlich und absurd, aber es steckt durchaus eine Logik dahinter, die uns darüber staunen lässt, was das Unterbewusstsein alles mit uns anstellen kann …

***

Die Klientin kommt mir mit ausgebreiteten Armen freudestrahlend entgegen. Wir treffen uns auf der ostfriesischen Insel Norderney in einem Hotel, das direkt am Strand liegt und einen herrlichen Blick auf die stürmische Nordsee freigibt.

Wir ziehen uns in ihr Hotelzimmer zurück und richten uns auf gemütlichen Sesseln ein – wieder mit wunderbarem Blick auf die Nordsee.

Ich lasse der Klientin Zeit, sich zu sammeln. Wir schauen aus dem Fenster und schweigen.

Dann plötzlich beginnt sie zu reden.

Klientin (K): „Frau Lönne, jetzt sitze ich hier mit Ihnen und weiß nicht, wie ich anfangen soll!“

Gabriele Lönne (GL): „Wie wär’s, wenn Sie mir erzählen, wann und wie und in welcher Situation Ihnen der allererste Gedanke gekommen ist, mich anzurufen?“

K: „Das war vor ein paar Wochen. Irgendwann im Hochbetrieb. Ich hab’ mich plötzlich so schwach gefühlt! Als wenn mir alles aus den Händen gleiten würde …“

Die Stimme der Klientin ist leise geworden, fast brüchig.

GL: „Haben Sie noch in Erinnerung, wie die Situation genau war? Spielte sich vorher irgendetwas Besonderes ab? Kamen ganz bestimmte Gäste? Haben Sie Ärger mit dem Personal gehabt? Gab es etwas Außergewöhnliches?“

K (nachdenklich): „Eigentlich nicht. Es war halt Hochbetrieb in der Gaststätte, die ich betreibe. Dann sind alle immer auf 120! Hm.“

GL: „Ist Ihnen irgendetwas passiert? Das Zerbrechen von kostbarem Geschirr, die Reklamation eines Gastes, eine vergessene Tischreservierung?“

K (schüttelt den Kopf): „Nein. Nur, dass wir an dem Abend ein spezielles Menu hatten, von dem die Gäste ganz begeistert waren. (Die Klientin hält inne und überlegt laut:) Ja, da war ein Gast, der sich mit Komplimenten geradezu überschlagen hat. Er hätte nie gedacht, in einem derartigen Wirtshaus so ausgesucht köstlich essen zu können. Ich habe mich darüber ziemlich geärgert! Bei uns kann man immer gut essen! Arroganter Piefke!“

Die Augen der Klientin sprühen Funken. Sie sitzt auf einmal kerzengerade und wirkt angriffslustig.

GL: „Aha, eventuell haben wir gerade schon den ersten mentalen Stolperstein entdeckt. Wir können mit einem Test herausfinden, was Sie gestresst hat, und den Auslöser direkt bearbeiten.“

Es handelt sich hier um den sogenannten Myostatiktest. Er dient dem Auffinden von Stressoren, welche die mentale/emotionale Balance des Coachees stören/irritieren. Beim Myostatiktest bildet der Klient einen festen Muskelring zwischen Daumen und Zeigefinger, den er mit maximaler Kraft hält, während der Coach Behauptungen im Zusammenhang mit dem Coachingthema aufstellt und prüft, ob sich die Finger des Coachees voneinander lösen lassen. Öffnet sich der Ring, handelt es sich um eine Schwächereaktion, die auf Stress hinweist und die dann bearbeitet wird.

In unserem Beispiel liefert der Test ein spannendes Ergebnis. Der Trigger für den Stress am Tag des Hochbetriebs kam aus der Vergangenheit, als meine Klientin noch ein kleines Mädchen war. Es war die Mutter, die bei jeder Idee, jedem Vorhaben, jedem Plan der Kleinen immer wieder sagte: „Das klappt bestimmt nicht!“ Und wenn es dann doch erfolgreich war, kommentierte sie: „Das hätte ich bei dir aber nie gedacht!“

Wir bearbeiten die Emotionen Angst, Wut, Empörung, Trauer, Ausgeliefertsein.

Doch plötzlich wirkt die Klientin wie versteinert und gleichzeitig aufgewühlt. Sie beginnt zu weinen. Ich lasse ihr Zeit, bis sie sich langsam wieder beruhigt hat. Doch sie wirkt abwesend, irgendwie erschüttert.

GL: „Können Sie beschreiben, was Sie gerade so berührt hat?“

Die Klientin schüttelt den Kopf.

GL: „Wissen Sie was? Das können wir herausfinden! Darf ich Sie wieder testen?“

Die Klientin nickt.

Der Test bringt ein überraschendes Ergebnis. Der Stress kommt aus dem ersten Drittel der Schwangerschaft der Mutter mit der Klientin. Die Mutter hatte alles versucht, das Baby abzutreiben. Später redete sie ständig davon, dass sie auf keinen Fall ein Kind haben wollte.

Wir bearbeiten Überforderung, Schuld, Desinteresse, Nichtfühlen, emotionale Kälte und innere Leere.

Die Klientin ist erschöpft und wir beschließen, erst einmal eine Pause einzulegen und uns kurz von der Nordseeluft erfrischen zu lassen. Nach unserer Rückkehr setzen wir uns wieder zusammen. Ich frage die Klientin, ob ihr noch etwas in den Sinn gekommen sei, was wichtig zu bearbeiten wäre.

K: „Naja, da gibt es noch etwas, das mir immer unangenehmer wird, aber irgendwie kann ich es nicht stoppen …!

Es ist seltsam, aber ich habe eine Angestellte, Rosie, die mir immer mehr zusetzt, immer unheimlicher wird.“

GL: „Wodurch?“

K: „Naja, wenn im Betrieb wenig los ist, kommt sie zu mir, fängt an, irgendwelche unwichtigen Geschichten zu erzählen, und stellt mir dann auf einmal persönliche Fragen, die mein Privatleben betreffen. Ich kann mich einfach nicht dagegen wehren. Obwohl ich es nicht möchte, beantworte ich alles ganz ausführlich, gegen meinen entschiedenen Willen. Hinterher bin ich jedes Mal entsetzt, was ich ihr alles erzählt habe, und frage mich, wieso überhaupt!“

Die Klientin wirkt erregt, die Augen funkeln, ihr Gesicht ist rosa angelaufen.

GL: „Was ist Rosie für eine Angestellte? Was arbeitet sie in Ihrem Betrieb? Wie würden Sie sie beschreiben?“

K: „Also, sie ist die Empfangsdame unseres Hotels. Sie weiß eh schon mehr als erlaubt. Und sie ist die Klatschtante bei uns, bringt ständig Gerüchte in Umlauf und bringt die Leute mit ihren Geschichten ganz durcheinander! Als Mensch ist sie eher der mütterliche Typ, üppige Figur, warmherzig, freundlich, bei den Gästen sehr beliebt, so eine Art ‚Mutter der Kompanie‘. Ach, ich versteh’ einfach nicht, warum ich ihre Fragen überhaupt beantworte. Ich fühle mich dann immer wie gelähmt, ausgeliefert, ganz schwach … Himmel, ICH bin doch die Chefin! Das geht doch nicht!“

GL: „Okay dann stellen wir jetzt mal mit unserem Test fest, wo ‚der Hase im Pfeffer liegt‘!“

Wir testen „Rosie ärgert ständig“. Der Test hält! Das heißt, sie ärgert NICHT.

K (schockiert): „Ja, aber …!“

GL (legt der Klientin beruhigend die Hand auf den Arm): „Es gibt etwas, das Sie noch nicht kennen. Nicht nur ungünstige Gefühle wie Angst, Trauer, Hilflosigkeit usw. können uns aus der Bahn werfen. Gute Gefühle oder große Sehnsucht nach ihnen können uns ebenso verunsichern und quälen! Wenn es für Sie in Ordnung ist, können wir mit dem Test an der Hand die Emotionen ermitteln, die Rosie in Ihnen im Übermaß hervorruft, und sie bearbeiten. Wir können die guten – ungut wirkenden – Gefühle derart herunterfahren, dass sie Sie nicht mehr über die Maßen hinaus beeindrucken. Dann können Sie wahrscheinlich neutral und emotional unbefangen mit Ihrer Angestellten umgehen und sie in ihre Grenzen verweisen.“

Ich nehme die Hand der Klientin und teste „Rosie tut richtig gut!“. Der Test hält!

Wir neutralisieren die übermäßig guten Gefühle, sodass die Empfindungen gegenüber der Angestellten auf ein normales Maß zurückgeführt werden. Die starke Anziehungskraft  der Angestellten, hervorgerufen durch die Sehnsucht der Klientin nach einer liebevollen Mutter, wird aufgehoben und weicht einem neutralen Empfinden. Der unerklärliche Mitteilungsdrang ist bearbeitet. Die Klientin kann jetzt ein unbefangenes Verhältnis zu ihrer Angestellten aufbauen. Ihr Unterbewusstsein hat die gefühlskalte Mutter der Vergangenheit endlich verarbeitet.

***

Sie sind jetzt wahrscheinlich irritiert oder überrascht, vielleicht sogar schockiert? Es kommt häufiger vor, als wir meinen, dass unsere Wünsche, Träume, Verletzungen, dass Erlebnisse aus Kindheitstagen tief in uns vergraben sind – mental noch nicht verarbeitet und immer noch „aktiv“. Und es reicht nur ein kleiner Anlass, eine Begegnung oder ein Erlebnis, um daran zu rühren. So wie die Angestellte Rosie mit ihrer warmherzigen, mütterlichen Persönlichkeit die Sehnsucht aus der Kindheit ihrer Chefin wiederbelebt hat, der wiederum kein „vernünftiges“ Mittel zur Verfügung stand, um sich dagegen wehren zu können. Unterbewusstsein gegen Verstand! Das Unterbewusstsein produziert psychosomatische Symptome, gegen die der Verstand nichts auszurichten weiß.

Wenn Sie Situationen erleben, in denen Sie das Gefühl haben, etwas gegen Ihren Willen tun zu „müssen“, ohne selbst „vernünftige“ Gegenwehr leisten zu können, kann ich Ihnen nur empfehlen, mit einem guten Therapeuten oder Coach darüber zu reden. Das Phänomen lässt sich aufklären und bearbeiten. Werden Sie nicht zum Opfer Ihres Unterbewusstseins! Bleiben Sie der Chef!

 

Lönne  Über die Autorin

Gabriele Lönne, Heilpraktikerin (Psych), arbeitet als Business Coach (EANLP), Lehrtrainerin wingwave® und Unternehmensberaterin für den Mittelstand. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

Die Gewissheit, dass das (Buch-)Baby gut zur Welt kommt

Viele Menschen träumen davon, ein Buch zu schreiben – und einen Verlag zu finden, der es auch veröffentlichen will. Unsere Autorin Evi Anderson-Krug ging ebenfalls schon länger schwanger mit der „Idee Buch“. Hier berichtet sie – in Kurzform – welche Etappen sie auf dem Weg zum eigenen Buch zurückgelegt hat und was angehende Autoren berücksichtigen sollten, um einen Fuß in die Verlagstür zu bekommen.

Nicht immer ist der Weg so zielgerade und gesäumt von glücklichen Zufällen, aber eine gute Vorbereitung kann schon im Vorfeld Hindernisse beseitigen und für einen guten ersten Eindruck sorgen.

Das Buch von Evi Anderson-Krug Einfach improvisiert – Improtheater-Tools in NLP-Ausbildungen und im Training ist übrigens ab sofort im Handel erhältlich.

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Das Exposé – mein Bewerbungsschreiben an den Verlag

Von Evi Anderson-Krug

Vielleicht kennt ihr das auch? Ihr habt eine Idee, einen Wunsch, und dieser Wunsch formiert sich zu einem Ziel. Und auch wenn ihr noch nicht genau wisst, wie ihr dieses Ziel erreichen werdet, seid ihr doch sicher, dass ihr es schafft. Genau diese Gewissheit hatte ich, als sich meine Ideen und Gedanken zu meinem Buchprojekt langsam in meinem Kopf sammelten. Das ist mein Buch-„Baby“ – und ich bringe es irgendwie, irgendwann zur Welt. Die einzelnen Schritte dahin waren mir noch längst nicht klar, doch ich hatte auch keine Eile. Es würde sich schon so entwickeln.

Die nächste Gelegenheit, das Thema voranzubringen, bot sich auf dem jährlichen Landsiedel-Sommerkongress in Schloss Zeilitzheim. In diesem Jahr, es war 2014, genehmigte ich mir nach einigen spannenden Vorträgen eine Pause, ich genoss die Kühle und Ruhe im Innenhof und stöberte durch die neuen Bücher des Junfermann Verlags. Der Verlag präsentierte in diesem Jahr zum ersten Mal einen Büchertisch auf dem Kongress. Ich kam schnell mit den beiden Mitarbeiterinnen, Monika Köster und Simone Scheinert, ins Gespräch und fragte, wie ich vorgehen solle, falls ich mal ein eigenes Buch veröffentlichen möchte. Die beiden waren sehr hilfsbereit. Sie gaben mir den Tipp, vielleicht auch erst mal einen Artikel für die Fachzeitschrift „Kommunikation und Seminar“ zu schreiben. Und erwähnten, dass auch Regine Rachow, die Chefredakteurin der Zeitschrift, anwesend sei und dass sie mich gern mit ihr bekannt machen wollten. Außerdem rieten sie mir, doch auch mal einen von mir verfassten Text einzureichen, damit der Verlag meine Art zu schreiben kennenlernen konnte.

In dem Moment fiel mir ein, dass in diesem Raum auch das Landsiedel-Kongressbuch 2011 lag, in dem ich schon einen Artikel veröffentlicht hatte. Frau Scheinert begann zu lesen und strahlte mich an: „Da will ich ja gar nicht mehr aufhören, das ist ja total klasse geschrieben!“ Was für ein Kompliment aus dem Mund einer Fachfrau! Ich war happy. Kurz danach machten sie mich mit Regine Rachow bekannt. Auch sie zeigte sich begeistert von meinem Text und wir zogen uns zu einem Gespräch in den Barock-Garten zurück. Das war ein Volltreffer. Regine entpuppte sich als amüsante, kluge und warmherzige Gesprächspartnerin, die mit ihrer Fachkenntnis sofort die richtigen Fragen zu meiner Arbeit stellte. Wir vereinbarten, dass ich nicht nur einen Beitrag, sondern fürs gesamte kommende Jahr eine komplette Artikelserie zum Thema „Impro in Seminaren“ schreiben würde. Was für eine tolle Chance! Der erste Schritt in die richtige Richtung.

Natürlich ist es nicht notwendig, erst Zeitschriftenartikel zu schreiben, um ein Buch zu publizieren. Für mich stellte es sich jedoch als wichtiger Meilenstein heraus. So platzierte ich alle zwei Monate einen neuen Artikel in der Zeitschrift, die inzwischen in „Praxis Kommunikation“ umbenannt worden war. Die Zusammenarbeit mit Regine, die meine Texte noch redigierte, war ein großer Gewinn für mich. Ihr Feedback und ihre kleinen Änderungen in meinen Texten waren immer sehr wohlwollend, wertschätzend und – was mich am meisten freute – unglaublich begeistert. Sie schätzte die Zusammenarbeit mit mir ebenso, wie ich ihre Unterstützung schätzte. Ich lernte schnell, welche Formulierungen und Ideen gut ankamen, und welche ich getrost weglassen konnte.

Eines Tages – ich hatte kurz vorher „Buchprojekt/Regine anrufen“ in meinem Terminplaner notiert – ploppte eine Nachricht von Regine in meinen Mail-Account. Sie stellte ihre neue Website für angehende Autoren vor, und sie hatte dort auch einige Fragen formuliert, die sich ein Autor stellen sollte, wenn er ein Buch veröffentlichen will. „Welchen Nutzen wird der Leser/die Leserin aus der Lektüre ziehen? – Wen möchten Sie mit dem Buch ansprechen“. Ebenso Fragen danach, was genau mich als Autorin dafür prädestiniert, dieses Buch zu schreiben. Und wie es sich von anderen Werken unterscheidet, die zum gleichen Thema schon auf dem Markt sind. Eine große Handvoll wohldurchdachter Fragen. Diese Fragen konnte ich aus dem Stegreif beantworten.

Im Prinzip war das schon die gründliche Vorbereitung auf das Buch und seine Vermarktung. Die Voraussetzung für ein Exposé.

Ich rief Regine an, erzählte ihr von meiner Idee und bat sie um ihre Unterstützung. Sie war sehr angetan davon, meinte auch, dass es nach den Fachartikeln auch Zeit für das Buch wurde. Ob ich denn schon eine Idee hätte, bei welchem Verlag ich publizieren wolle, fragte sie mich. Als ich Junfermann als Wunschverlag nannte, war sie begeistert. Ja, das könne sie sich auf jeden Fall vorstellen. Sie hätte zwar keinen Einfluss auf die Auswahl der Buchprojekte dort, könne mich jedoch beim Erstellen des Exposés unterstützen, sofern ich das wollte.

Ein Exposé ist ein erster Entwurf für den Verlag. Es ist gleichermaßen eine Werbung für das Projekt, beschreibt kurz und knapp, worum es geht, wer die Zielgruppe ist und welchen Nutzen der potenzielle Leser hat. Jeder Verlag hat da individuelle Vorgaben, und es macht Sinn, sich diese Vorgaben vom Verlag zu holen. So wird meist besonders ein Augenmerk auf die Kernaussagen und die Botschaft des Buches gelegt und natürlich darauf, ob und wie es ins Verlagsprogramm passt. Es fiel mir leicht, die einzelnen Punkte zu bearbeiten. Ich konnte es einfach so „herunterschreiben“, was für mich ein erneuter Beweis dafür war, wie lange ich mich schon gedanklich damit beschäftigt hatte. Eine Frage bereitete mir jedoch Kopfzerbrechen: Wie viele Seiten sollte das Buch ungefähr haben? Der Verlag wollte das konkret wissen. Ich hatte keine Ahnung. Das Buch war ja noch nicht geschrieben. Manche Autoren beschäftigen sich erst dann mit dem Publizieren, wenn das Manuskript schon fertig in der Schublade liegt und die Seitenzahl feststeht.

Also ging ich ganz pragmatisch vor. Ich zog mir einige Bücher aus dem Regal und schätzte anhand der Buchrücken ab, wie dick mein Werk sein sollte. Zwei Zentimeter schienen mir eindeutig zu viel, ein halber Zentimeter zu wenig. Ich entschied mich für irgendwas dazwischen, einen Finger breit. Eine reine Bauchentscheidung. Dann blätterte ich durch, wie viele Seiten dieses Buch hatte – 120. Klang doch gut, schien mir vernünftig, eine gute Größe. Also notierte ich in meinem Exposé unter „voraussichtliche Seitenzahl“: 100 – 120. Ich war zufrieden. Ab an den Verlag mit meinem Vorschlag.

Alle paar Wochen hatte der Verlag eine Teamsitzung, in der auch neu eingereichte Buchvorschläge besprochen und ausgewählt wurden. Mitte September, an einem Freitagnachmittag, erhielt ich die Nachricht, dass sich der Verlag entschieden hatte, mit mir das Buch zu publizieren. Ich machte Freudensprünge! Das war grandios. Ein paar Tage später flatterte dann auch der Vertrag ins Haus, ich hatte ein Jahr Zeit, das Buch zu schreiben. Die Veröffentlichung sollte dann einige Monate später, im Frühjahrsprogramm 2017 sein.

Es konnte losgehen.

 

Anderson-Krug-290x300  Über die Autorin

Evi Anderson-Krug ist Diplom-Sozialpädagogin (FH), Inhaberin von Flipchart on demand, Lehrtrainerin (DVNLP), NLP Master Trainer (IN), Master-Coach (DVNLP), Schauspiel/Improvisation/Masterclass.

Yoga – das Wundermittel gegen Stress?

Innehalten und durchatmen: Yoga gegen Stress

Von Maria Wolke

Das Telefon klingelt, die Arbeit ruft, das Baby schreit und das Haus muss auch noch geputzt werden … Ommmmm … Der Stress im Alltag und im Beruf lässt nie lange auf sich warten.

Noch vor zehn Jahren hätte ich in einer solchen Situation die „Fassung verloren“, hätte versucht, um jeden Preis die Ansprüche meiner Umwelt zu erfüllen, und mich dabei früher oder später vor lauter Stress selbst verloren.

Dann begegnete mir der Yoga.

Bild 1

Heute atme ich in „taffen Zeiten“ einige Male tief ein und aus, senke meinen Oberkörper nach vorne (vgl. Bild oben) und schließe für einen kurzen Augenblick meine Augen. Ich „erde“ mich. Mittels einfacher Yoga-Techniken habe ich gelernt, wieder „bei mir“ anzukommen und zu spüren, „wenn das Fass überläuft“.

So, wie es mir noch vor zehn Jahren erging, geht es tagtäglich vielen Menschen. Sie werden Auf Schritt und Tritt mit Überlastung, Unzufriedenheit und Stress konfrontiert. Das Gefühl der Überforderung und der Eindruck, „das alles“ nicht mehr zu schaffen, sind keine seltenen Phänomene mehr. Genau da beginnt der Stress, uns krank zu machen.

Aber was ist eigentlich Stress?

Stress ist die Antwort unseres Organismus auf alle aufwühlenden Ereignisse aus der Umwelt. Dabei können sowohl positive Erlebnisse (wie die Begegnung mit der Person des Begehrens) als auch die überraschende Konfrontation mit Gefahr (wie die Begegnung mit einer Schlange) eine psychobiologische Stressreaktion auslösen. Die Symptome gleichen einander: Das Herz beginnt zu pochen, wir schwitzen, sind wie „versteinert“, wie auf der „Lauer“. Diese Symptome haben wir dem Sympathikus zu verdanken, dem Bereich des vegetativen Nervensystems (VNS), der uns gewissermaßen aufstachelt und der vor allem dann aktiv wird, wenn wir aufgeregt sind oder uns in Gefahr befinden. Langfristig überfordert diese starke körperliche Notfallreaktion den Organismus und wirkt destabilisierend. Der langandauernde Überschuss der Stresshormone im Blut stört das subtile Gleichgewicht der körperinternen Vorgänge und beeinflusst die Herzfrequenz, den Blutdruck und alle anderen wichtigen Körperfunktionen ungünstig. Gerät dieses subtile Gleichgewicht immer wieder durcheinander, werden wir krank.

Die Folgen von chronischem Stress

Viele Menschen sind täglich ungesunden Lebens- und Arbeitsverhältnissen ausgesetzt. Sie stehen „unter Strom“, hetzen von Termin zu Termin oder leiden still zu Hause vor sich hin, da sie es nicht schaffen, sich aus einer ungesunden familiären Konstellation zu lösen. Diese alltäglichen, oftmals als „normal“ akzeptierten Belastungen erzeugen Stress im Körper und haben langwierige, teilweise gravierende Folgen. Meist sind es zuerst leichte, fast unmerkliche Anzeichen wie ein veränderter flacher Atem, innere Angespanntheit, Nervosität und stärkeres Schwitzen, die uns aufhorchen lassen sollten. Der Körper schlägt Alarm und möchte uns darauf aufmerksam machen, dass es zu viel ist. Langfristig ignoriert kann die Stressbelastung, durch den Schaden, den sie im Körper und im Gehirn anrichtet, manifeste körperliche und psychische Erkrankungen verursachen:

körperlichen Langzeitfolgen von Stress Psychische Langzeitfolgen von Stress

unterschiedliche Herzkrankheiten

Arthritis

ein beschleunigter Alterungsprozess

Fettleibigkeit

diffuse körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen

ständiges Grübeln

Entscheidungsschwäche

Konzentrationsschwierigkeiten

Gereiztheit und/oder Aggressivität

übermäßige, oft unbegründete Ängste

Depressionen

Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen

ständige Müdigkeit

gestörtes Essverhalten

reduzierte sexuelle Lust

Die Forschung beweist: Yoga „entstresst“ und entschleunigt!

„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ sagt das bekannte Sprichwort … Und ja – es ist tatsächlich möglich, sich mittels einfacher körpereinbeziehender Techniken aus dem Stress-Kreislauf zu befreien. So konnten auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen beweisen: Der Yoga lindert den Stress. Er gibt Kraft und Selbstvertrauen und macht langfristig zufriedener und gesünder.

Yoga ist nicht gleich Entspannung

Bis heute gehen viele Menschen davon aus, dass die positiven Effekte des Yoga vor allem auf seine entspannende Wirkung zurückzuführen sind. Yoga ist allerdings nicht gleich Entspannung. So konnten unter anderem australische Wissenschaftler zeigen, dass einfache Entspannungstechniken bei Stress nicht die gleiche Wirkung haben wie der 5000 Jahre alte Yoga. Das ist auch leicht nachvollziehbar, betrachtet man etwas ausführlicher die uralten philosophischen Grundlagen des antiken Yoga. Die körperliche Yogapraxis – die Yoga Asana – sollen den Praktizierenden körperlich und psychisch auf das lange Verweilen im Meditationssitz (Lotussitz) während der Meditation vorbereiten. Pranayama – die Atemübungen des Yoga – wirken zentrierend und disziplinieren den Körper und den Geist. Die Meditation (das Nach-innen-Wenden der Aufmerksamkeit) ist wohl die ursprünglichste Form des Yoga. Sie führt dazu, dass wir uns kennenlernen, und stärkt über die bewusste Ausrichtung der Aufmerksamkeit die Fähigkeit, die eigenen Emotionen und Handlungen zu kontrollieren. In der Meditation lernen wir, zum Beispiel durch die Beobachtung des eigenen Atems (siehe unten), uns auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Wir lernen zu sein, ohne zu tun … – gar nicht so leicht vorstellbar, oder? Sind die meisten von uns doch eher ein gestresstes Rumrennen anstelle von Interozeption (wie es in der Fachsprache heißt) gewöhnt.

Meditation fördert einen konstruktiven Umgang mit Stress

Entgegengesetzt zu dem, was uns im Alltag begegnet (Schnelligkeit, Lautstärke, Druck, Hektik), wirkt die Meditation unter anderem durch die bewusste Konfrontation mit der Stille. Wir setzen uns dabei in Ruhe hin, sorgen dafür, dass uns weder die Kinder noch das Handy stören, und schließen für einen kurzen Augenblick unsere Augen. Ein Gedanke wird dem nächsten folgen. So ist nun mal die Natur des Geistes. Deswegen ist Meditation mit Mentaltraining vergleichbar. Erst bei wiederholter Übung werden wir immer und immer besser. Mit jedem wiederholten Meditationsversuch werden wir immer mehr begreifen, was unter Meditation „gefühlt“ verstanden werden kann.

Atemmeditation

Eine Möglichkeit, die Meditation zu erlernen, bietet das Beobachten des eigenen Atems. Indem wir spüren, wie sich mit jedem Einatmen die Bauchdecke hebt und mit jedem Ausatmen wieder senkt, konzentrieren wir unsere gesamte Aufmerksamkeit weg vom Stress – hin zu uns selbst und unserer Körpermitte. Langfristig eröffnet uns diese Übung einen Weg, über die Steuerung der Aufmerksamkeit einen anderen, neuen Umgang mit dem, was uns begegnet und belastet, zu erlernen. Kombinieren wir diese Atemtechnik mit dem Ujjayi Pranayama (vgl. unten), werden wir relativ schnell merken, wie der „Krieg im Kopf“ einer angenehmen inneren Ruhe weicht. Seit vielen Jahren atme ich in Situationen, die mich emotional berühren Ujjayi. Ganz unbemerkt für mich. Egal wo ich mich auch befinde, habe ich in dieser Atemtechnik ein Instrument gefunden, welches mich zuverlässig und immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt und beruhigt.

Das Ujjayi Pranayama

Während wir Ujjayi atmen, verschließen wir aktiv den Kehlkopfbereich und kontrollieren so bewusst den Ein- und Ausatemvorgang. Ein vergleichbares Gefühl im Kehlkopfbereich kann zu Beginn der Praxis mechanisch, durch das Absenken des Kopfes (vgl. Bild 2 und 3) erzeugt werden. Das durch die Kopfsenkung verursache sachte „Rauschgeräusch“ (Haaaaa) ist einzigartig und lässt uns spüren, was unter „Ujjayi-Atmung“ zu verstehen ist. Eine weitere Möglichkeit, Ujjayi zu erlernen, bietet die Vorstellung, einen Spiegel bei geschlossenem Mund anzuhauchen, sodass dieser beschlägt … Haaaaa … Haben Sie es geschafft, das Rauschgeräusch zu erzeugen, verbleiben Sie für ca. 5 Minuten in diesem Pranayama.

Die Wirkung der Ujjayi-Atmung auf den Körper und den Geist ist auch der Wissenschaft nicht neu. Seit vielen Jahren empfehlen immer mehr Yoga-Kenner und -Erforscher die Ujjayi-Atmung zur Linderung von Depressionen und Stresssymptomen.

Bild 2   Bild 3 

(Bild 2 und 3)

Auch Yoga Asana lindern die körperliche Antwort auf Stress

Auch die körperlichen Stellungen des Yoga, die Yoga Asana, beeinflussen die neurophysiologischen Vorgänge im Gehirn und im Körper. Sie wirken genau dort, wo der Stress das innere Gleichgewicht bedroht, und beruhigen die auf Hochtouren laufenden Prozesse des Vegetativen Nervensystem (VNS). In akuten Stressphasen sollten deshalb vor allem die Asana praktiziert werden, die den Sympathikus hemmen und den Gegenspieler, also den Parasympathikus (den Bereich des VNS, der uns beruhigt), aktivieren können. Besonders geeignet dazu sind ausatmungsfördernde Asana wie zum Beispiel:

  1. Paschimottan asana (die sitzende Vorwärtsbeuge)

Bild 4   Bild 5

Paschimopttanasana – Variation 1 + 2

  1. Adho Mukha Svanasana (der herabschauende Hund)

Bild 6   Bild 7

Adho Mukha Svanasana – Variation 1 + 2

  1. Hasta Hada Asana (die Vorwärtsbeuge im Stehen)

Bild 8  Bild 9  Bild 10 

Hasta Pada Asana – Variation 1 – 3

Die genannten Asana entspannen den Körper und den Geist und bringen innerhalb von Minuten den gesamten Organismus zur Ruhe. Die deutlichsten Effekte können vor allem dann erreicht werden, wenn die dargestellten Asana bis zu 2 Minuten gehalten werden.

Während der Yoga-Asana-Praxis ist es wichtig, auf sich selbst und seinen Körper zu achten. Werden die körpereigenen Grenzen nicht respektiert, kann der Yoga schaden. So sollten die dargestellten Asana bei chronischen Beschwerden in der Lendenwirbelsäule und bei starkem Bluthochdruck nur unter der Aufsicht eines erfahrenen Lehrers praktiziert werden.

Yoga – das Wundermittel im Umgang mit Stress?

„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“

(Georg Christoph Lichtenberg)

Und das bestätigen auch all die großen philosophischen Schriften: Es kann anders und besser werden, wenn wir aktiv handeln! Gerade chronisch gestresste Menschen sollten, wann auch immer sie 60 Sekunden „Luft haben“, die Augen schließen und in Ruhe ein- und ausatmen. Diese einfache Übung macht Praktizierende langfristig stressresilienter (widerstandsfähiger). Ohne den eisernen Willen, sich besser fühlen zu wollen, und ohne die konsequente Bemühung, in die entsprechende Richtung zu handeln (zum Beispiel durch Yoga), wird sich im eigenen Leben nichts verändern. Auf alles andere haben wir keinen Einfluss.

MERKE: Wir können die Umwelt nicht verändern. Aber wir können lernen zu entscheiden, wie und ob wir auf die Ereignisse um uns herum reagieren wollen.

 

Wolke_Maria  Über die Autorin

Dr. Maria Wolke ist Mama, Autorin und Yogatherapeutin. Sie lebt und arbeitet in Deutschland und Spanien und vermittelt international die Wege des Yoga bei psychischen und körperlichen Leiden. In diesem Frühjahr erscheint bei Junfermann ihr Buch: „Yoga für die Seele – Psychische Erkrankungen umfassend behandeln“.