Mit jedem Persönlichkeitsstil sind Ressourcen und Kosten verbunden

Vermutlich jeder Mensch kennt Situationen, in denen er anders – impulsiver, aggressiver, verletzter oder ängstlicher – reagiert, als er eigentlich möchte. Solche Reaktionen gehen auf unsere individuellen Persönlichkeitsstile zurück: auf persönliche Eigenarten, die wir im Laufe unserer Biografie lernen und die unser Denken, Fühlen und Handeln stark prägen.

Prof. Dr. phil. Rainer Sachse ist Leiter des Instituts für Psychologische Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum und Begründer der Klärungsorientierten Psychotherapie. Bei Junfermann erschien am 15. November sein Buch Persönlichkeitsstile: Wie man sich selbst und anderen auf die Schliche kommt. Darin beschreibt er, welche Persönlichkeitsstile aus psychologischer Sicht differenziert werden können, wie man den eigenen Stil und den anderer erkennt – und wie sich positive Selbstveränderungen umsetzen lassen.

 

Herr Sachse, Sie sind Begründer der Klärungsorientierten Psychotherapie (KOP). Was kann man sich unter einer Klärungsorientierten Therapie genau vorstellen?

Klärungsorientierte Psychotherapie (KOP) ist eine Therapieform, bei der viel Wert auf eine gute Beziehungsgestaltung zum Klienten gelegt wird und bei der problematische Schemata (Annahmen, die man über sich selbst oder andere hat) geklärt und therapeutisch bearbeitet werden.

 

Wann ist eine solche Behandlung sinnvoll?

KOP ist z.B. besonders wichtig bei Menschen mit Persönlichkeitsstilen, die zu hohen Kosten – etwa zu Konflikten mit Interaktionspartnern – führen, bei Klienten mit sozialen Unsicherheiten und auch bei Klienten mit psychosomatischen Störungen.

 

In Ihrem Buch Persönlichkeitsstile schreiben Sie vom narzisstischen Persönlichkeitsstil, vom histrionischen Persönlichkeitsstil, vom selbstunsicheren usw. Vom Begriff „Störung“ nehmen Sie bewusst Abstand …

Man kann einen „Stil“ eine „Störung“ nennen, wenn er der Person hohe Kosten einbringt. Klare Kriterien dafür, wann aus einem Stil eine Störung wurde, gibt es nicht; Stile sind auch viel häufiger als Störungen. Daher ist es sinnvoll, eher von „Stil“ als von „Störung“ zu sprechen.

„Wenn Sie verstehen lernen, warum Sie so und nicht anders auf bestimmte Personen reagieren, warum Sie eine bestimmte Situation ärgert und eine andere nicht, warum Sie bestimmte Ziele verfolgen und andere nicht usw. – dann tun sich eine Menge Wahlmöglichkeiten auf.“

(Aus dem Buch „Persönlichkeitsstile“)

 

Hauptziel der KOP ist u.a., dass der Klient sich selbst (wieder) gut regulieren kann, also die „funktionale Selbstregulation“, wie es in der Fachsprache heißt. Können Sie an einem Beispiel deutlich machen, was funktionale Selbstregulation bedeutet?

Funktionale Selbstregulation (SR) bedeutet, dass eine Person sowohl die Anforderungen der Realität, vor allem der sozialen Kontexte, gut versteht und in der Lage ist, sich diesen anzupassen oder sie zu verändern, als auch ihre eigenen Motive und Ziele versteht und versucht, diese zu erfüllen, um einen Zustand von Zufriedenheit zu erreichen.

Das Schwierige ist, die Anforderungen der Realität und der eigenen sogenannten Motive zu vereinbaren, und dann muss eine Person „Kompromisse mit sich selbst“ machen, z.B. in der Lage sein, zur Erreichung langfristiger Ziele die Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse zurückzustellen. Bei guter SR kann eine Person solche Entscheidungen treffen.

 

Stichwort „Motive“: Im Buch geht es ja darum, für sich selbst herauszufinden, nach welchen Mustern man im Alltag handelt, und auch andere Menschen besser verstehen zu können. Dabei spielen die sogenannten Motive eine entscheidende Rolle. Sie bestimmen über unsere Zufriedenheit im Leben. Welche Motive gibt es und wie entstehen sie?

Es gibt eine Vielzahl von Motiven. Wichtig sind hier vor allem „Beziehungsmotive“, also bestimmte Anliegen, von Interaktionspartnern etwas Bestimmtes zu bekommen. So möchte eine Person mit einem „Anerkennungsmotiv“ vor allem positives Feedback zu ihrer Person, Lob, Informationen, was an ihr, ihrem Handeln, Leben usw. gut ist. Sie möchte hören, dass sie o.k. ist.

Eine Person mit „Wichtigkeitsmotiv“ möchte vor allem Botschaften darüber, dass sie für andere Personen bedeutsam ist, und dazu möchte sie Aufmerksamkeit, sie möchte ernst genommen werden usw.

Unterschiedliche Stile weisen unterschiedliche zentrale Motive auf.

 

Auch Manipulation ist ein Thema in Ihrem Buch. Kapitel 3 trägt die Überschrift: „Wir alle tun es: manipulieren“. Wirklich? Sind wir alle Manipulierer?

Ja, sind wir. Allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß: Manche Personen manipulieren extrem. Leichte Manipulationen schaffen in der Regel sehr wenig soziale Probleme. Und die Arten der Manipulation sind – abhängig vom Stil – sehr unterschiedlich.

 

Sie schreiben, dass keiner der Persönlichkeitsstile per se gut oder schlecht sei. Je nach Kontext überwiegen die Vorteile oder die Nachteile des jeweiligen Stils. Denken Sie, dass eine grundlegende Persönlichkeitsänderung bewusst herbeizuführen ist oder muss der Einzelne akzeptieren: „Ich bin halt so!“

Man kann seinen Stil modifizieren, meist aber nur mit Hilfe von Psychotherapie (was keineswegs ehrenrührig ist!!). Bei starker Ausprägung eines Stils kann man ihn reduzieren, er bleibt einem aber meist erhalten.

 

Erlauben Sie mir eine indiskrete Frage: Welchen Persönlichkeitsstil würden Sie sich selbst zuschreiben?

Ich habe einen stärkeren narzisstischen Stil und einen schwächeren histrionischen.

 

Wie würden Sie Hochsensibilität im Rahmen der Persönlichkeitsstile einordnen?

Ja, die Schemata können eine Person hoch sensibel machen. So zeigen Personen mit narzisstischem Stil aufgrund ihrer Annahme, sie seien „defizitär“, eine hohe Empfindlichkeit gegen Kritik, Personen mit histrionischem Stil sind hochsensibel, wenn sie sich ignoriert fühlen.

 

Zurzeit ist ja Selbstfürsorge ein großes Thema. Haben wir unsere eigenen Bedürfnisse bisher zu sehr ignoriert, sind wir zu hart zu uns selbst? Und gibt es Persönlichkeitsstile, die eher dazu führen, dass wir uns zu wenig um uns selbst kümmern?

Beides ja. Die Anforderungen westlicher Industriegesellschaften erfordern eine hohe Anpassung an Kontexte, was häufig dazu führt, eigene Motive gar nicht zu kennen, zu ignorieren oder nicht in Handlung umzusetzen. Diese Tendenz wird wahrscheinlich zunehmen. Vor allem Personen mit zwanghaftem Stil neigen stark dazu, ihre Motive zu ignorieren und sich wenig um sich selbst zu kümmern.

 

Haben Sie einen Tipp, wie man sich mit seinem eigenen Persönlichkeitsstil – trotz eventueller Kosten und Risiken, die er vielleicht mit sich bringt – versöhnen kann?

Wenn man sich klar darüber ist, was man will und warum man es will, ist es oft einfacher, die Kosten, die daraus resultieren, zu akzeptieren. Man könnte sich ja auch ändern, aber man kann sich auch bewusst dafür entscheiden, so zu bleiben, wie man ist. Dazu sollte man aber auch akzeptieren, dass das Kosten erzeugt. Ist das o.k., kann man recht gut mit seinem Stil leben.

 

Haben Sie vielen Dank für das Interview, Herr Sachse!

 

Machen Sie selbst den Test: Ihr(e) Persönlichkeitsstil(e)

Beantworten Sie die Fragen aus den folgenden Frageblöcken ganz spontan. Für jede Frage, die Sie mit „Ja“ oder „Eher Ja“ beantworten, gibt es einen Punkt, für alle Fragen, die Sie mit „Nein“ oder „Eher Nein“ beantworten, gibt es keinen Punkt.

Block 1

Brauchen Sie in hohem Maße Lob und Anerkennung?
Möchten Sie besser sein als andere?
Reagieren Sie empfindlich auf Kritik, selbst wenn diese berechtigt ist?
Haben Sie ab und zu Phasen, in denen Sie an Ihren Fähigkeiten, Erfolgen etc. zweifeln?
Erleben Sie Phasen, in denen Sie sehr zufrieden mit sich sind und denken, dass Sie gut seien?
Haben Sie die Tendenz, in besonderer Weise behandelt werden zu wollen?
Haben Sie deutliche Erwartungen, an die sich andere halten sollen, z.B. Sie nicht zu behindern u.a.?
Neigen Sie dazu, andere Personen „einzuspannen“, ihnen Aufgaben zu geben, die Sie eigentlich selbst erledigen könnten/sollten?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 2

Liegt Ihnen viel daran, dass Sie für andere Personen wichtig sind, dass Sie in deren Leben eine Rolle spielen?
Freuen Sie sich, wenn andere Ihnen Aufmerksamkeit schenken, sich für Sie interessieren, sich kümmern u.a.?
Tun Sie relativ viel dafür, um gut auszusehen, einen „guten Eindruck“ zu machen, attraktiv zu sein?
Stehen Sie gerne im Mittelpunkt, können Sie es genießen, wenn viele Personen Ihnen zuhören?
Ärgert es Sie extrem, wenn Sie jemandem etwas erzählen und Ihr Gegenüber hört Ihnen nicht (richtig) zu?
Erwarten Sie, dass ein Partner genau das tut, was Sie von ihm erwarten, und werden Sie wütend, wenn er das nicht tut?
Flirten Sie gerne und sind Sie manchmal in der Versuchung, eine Affäre einzugehen?
Haben Sie den Eindruck, dass Sie sich schnell in positive, aber auch in negative Gefühle „hineinsteigern“ können?
Gesamtpunktzahl:  

 

Block 3

Ist es Ihnen in persönlichen Beziehungen sehr wichtig zu wissen, dass ein Partner bei Ihnen bleibt, dass eine Beziehung stabil ist?
Haben Sie manchmal Angst davor, Sie könnten verlassen werden?
Haben Sie den Eindruck, Sie gehen Konflikten oft aus dem Weg?
Belastet es Sie, wenn Ihr Partner längere Zeit „böse“ auf Sie ist?
Haben Sie den Eindruck, Sie tun ziemlich viel für Ihren Partner?
Vermeiden Sie es des Öfteren, in Beziehungen eigene Wünsche durchzusetzen?
Haben Sie manchmal den Eindruck, Sie wissen nicht genau, was Sie wollen?
Sitzen Sie manchmal lange vor einer Speisekarte und tun sich auffallend schwer, sich für ein Gericht zu entscheiden?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 4

Würden Sie sich selbst als „schüchtern“ bezeichnen?
Kommen Sie manchmal in Situationen, in denen Sie jemanden ansprechen möchten, sich aber nicht trauen?
Wenn Sie gerne jemanden ansprechen würden, wünschen Sie sich dann, die Person würde Ihnen deutliche Signale von Interesse senden?
Vermeiden Sie auf einer Party manchmal den Kontakt zu anderen, weil Sie fürchten, unangenehm aufzufallen?
Denken Sie manchmal, Sie hätten vielleicht anderen Personen zu wenig zu bieten?
Halten Sie sich manchmal für unattraktiv?
Wenn Sie sich vorstellen, jemanden anzusprechen, haben Sie dann Angst vor möglicher Ablehnung?
Wenn Sie sich zum ersten Mal mit einem potentiellen Partner/einer Partnerin treffen, ist das fast wie bei einer Prüfung für Sie?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 5

Ist es Ihnen wichtig, auch in Beziehungen eigene Bereiche zu haben, die den Partner nichts angehen (z.B. eigenes Zimmer, eigenen Schreibtisch o. a.)?
Ärgern Sie sich, wenn eine andere Person in Ihren Bereich eindringt, ohne Sie zu fragen?
Kann es Sie wütend machen, wenn jemand versucht, Sie zu bevormunden?
Denken Sie, dass andere Personen Ihre Grenzen oft nicht respektieren?
Wenn jemand versucht, Sie zu kontrollieren oder zu bevormunden, denken Sie dann manchmal so etwas wie „Jetzt tue ich es erst recht nicht“?
Wenn Sie etwas nicht tun wollen, was eine andere Person erwartet, denken Sie dann manchmal, es sei eine gute Strategie, es einfach stillschweigend zu lassen, anstatt sich offen zu wehren?
Denken Sie manchmal, dass sogenannte Autoritätspersonen im Grunde gar nicht den Respekt verdienen, den sie bekommen?
Haben Sie manchmal den Eindruck, dass Sie von anderen benachteiligt werden oder dass Sie Dinge, die Ihnen zustehen, nicht bekommen?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 6

Haben Sie manchmal den Wunsch, andere Menschen wären an/auf Ihrer Seite und Sie könnten sich voll auf sie verlassen?
Haben Sie den Eindruck, Sie brauchen weniger Beziehungen als andere Menschen?
Denken Sie manchmal, dass enge Beziehungen eher schwierig sind und vielleicht nicht viel bringen?
Gehen Sie manchmal Kontakten bewusst aus dem Weg?
Genießen Sie es, mal eine Zeit lang allein zu sein oder etwas allein zu unternehmen?
Haben Sie den Eindruck, dass Ihnen Klassenfahrten, Betriebsausflüge u. a. eher „auf die Nerven“ gehen/gegangen sind?
Haben Sie den Eindruck, eher wenig Gefühle zu haben?
Fällt es Ihnen manchmal schwer, auf andere Menschen zu reagieren?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 7

Reagieren Sie ärgerlich, wenn andere Menschen Ihnen Vorschriften machen oder Sie bevormunden?
Haben Sie oft die Befürchtung, Sie könnten etwas Unrechtes oder Unmoralisches tun?
Haben Sie Angst, mit Ihrem Handeln anderen Menschen zu schaden?
Ist es Ihnen wichtig, alles richtig zu machen und Fehler zu vermeiden?
Ist es Ihnen wichtig, über sich selbst und über Situationen Kontrolle zu haben?
Würden Sie es gerne vermeiden, spontan zu handeln, weil das leicht zu Fehlern führen kann?
Ärgert es Sie, wenn andere Personen sich nicht an Regeln, Vorschriften oder Gesetze halten?
Wäre es aus Ihrer Sicht gut, wenn viele oder alle Menschen so dächten wie Sie?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 8

Zweifeln Sie manchmal an Ihren Kompetenzen und Fähigkeiten?
Denken Sie manchmal, dass andere Menschen dazu neigen, Sie negativ zu bewerten und zu kritisieren?
Glauben Sie, dass Sie manchen Menschen nicht wirklich trauen können?
Denken Sie, dass manche Menschen sogar versuchen, Ihnen zu schaden?
Erscheint es Ihnen sinnvoll, daher eher vorsichtig und misstrauisch zu sein?
Denken Sie, manchmal ist es besser, sofort etwas zu tun, wenn der Eindruck entsteht, jemand wolle Ihnen schaden, und der „kritischen“ Person deutlich zu machen, dass Sie das nicht dulden werden?
Denken Sie, dass es nichts schaden kann, auch Partner zu kontrollieren, da man nie genau weiß, woran man ist?
Haben Sie den Eindruck, mit anderen Menschen eher negative Erfahrungen gemacht zu haben?
Gesamtpunktzahl:

 

Block 9

Haben Sie manchmal ein Bedürfnis nach Nähe und manchmal nach Distanz? Können diese Bedürfnisse ganz spontan wechseln?
Haben Sie manchmal den Eindruck, Sie können anderen Menschen und auch Partnern nicht wirklich trauen?
Zweifeln Sie manchmal daran, dass Sie als Person in Ordnung sind und positive Eigenschaften haben?
Haben Sie den Eindruck, dass Sie manchmal hin- und hergerissen sind zwischen Wünschen, Zielen oder Absichten?
Zweifeln Sie manchmal an Ihren eigenen Gefühlen oder daran, dass diese „echt“ sind?
Haben Sie gelegentlich die Tendenz zu „testen“, ob Ihr Partner noch auf Ihrer Seite steht?
Fragen Sie sich manchmal, wo Ihre eigenen Grenzen sind und wie nah Sie andere wirklich an sich herankommen lassen wollen, oder haben Sie den Eindruck, sie haben manchmal „Ihre Grenzen überschritten“?
Reagieren Sie manchmal auf das Verhalten anderer schnell und heftig ärgerlich?
Gesamtpunktzahl:

 

Bei welchem Block haben Sie die meisten Punkte? Es kann sein, dass Sie bei manchen Blöcken gleiche Punktzahl haben: Dann sind mehrere Persönlichkeitsstile bei Ihnen überdurchschnittlich ausgeprägt.

Bitte beachten Sie: Egal, welcher Persönlichkeitsstil bei Ihnen überwiegt/dominant ist, es handelt sich bloß um Tendenzen, nicht um pathologische Ausprägungen oder Störungsbilder. Dieser Test bietet Ihnen nur eine erste Orientierung und ersetzt keine fachärztliche Diagnostik.

 

Auflösung: 

Persönlichkeitsstil Gesamtpunktzahl
Block 1: Narzisstischer Persönlichkeitsstil
Block 2: Histrionischer Persönlichkeitsstil
Block 3: Dependenter Persönlichkeitsstil
Block 4: Selbstunsicherer Persönlichkeitsstil
Block 5: Passiv-aggressiver Persönlichkeitsstil
Block 6: Schizoider Persönlichkeitsstil
Block 7: Zwanghafter Persönlichkeitsstil
Block 8: Paranoider Persönlichkeitsstil
Block 9: Borderline-Persönlichkeitsstil

Nur „Aufschieberitis“ oder prokrastinierst du schon?

In ihren Coachings begegnen Annette Bauer immer wieder Menschen, hinter deren Aufschiebeverhalten alte Geschichten steckten. Damit verbunden sind auch Emotionen, die mit etwas zusammenhängen, das sie einmal erlebt haben. Den Betroffenen selbst ist das manchmal gar nicht bewusst, nie wären sie daraufgekommen, das verhasste Aufschiebeverhalten mit dieser alten Geschichte in Verbindung zu bringen. Als Coach, die mit emotionsbezogenen Methoden arbeitet, wundert sich Annette Bauer jedoch weitaus weniger …

Welche Gefühle spielen eine Rolle, wenn Sie aufschieben?

Ertappen auch Sie sich manchmal dabei, dass Sie Dinge lange vor sich herschieben? Oder haben Sie sogar schon negative Konsequenzen erfahren, weil Sie immer wieder – teils sehr wichtige – Erledigungen und Aufgaben verschieben? Wagen Sie einen ersten Blick auf die Hintergründe.

Wenn Sie auf Ihr Aufschiebeverhalten schauen, welche Art von Gefühlen regen sich dann eher bei Ihnen?

Die folgende kleine Tabelle kann ihnen helfen, Ihre eigenen Gefühle leichter in Worte zu fassen. Mehrfachnennungen sind möglich (und auch wahrscheinlich).

 

„Wenn ich jetzt an mein Aufschieben denke, empfinde ich …“

Angst Gelassenheit
Unruhe Innere Ruhe
Wut Angenehmen Nervenkitzel
Lebens- oder Existenzangst Amüsiertheit
Zögerlichkeit Inneres Kribbeln
Zweifel Zufriedenheit
Unzufriedenheit Erleichterung
Verzweiflung Zuversicht
Sorgen Entspannung
Ärger Selbstsicherheit
Selbstzweifel Vorfreude
Erleichterung

 

Finden Sie sich eher in den Gefühlen und Aussagen auf der linken Seite wieder? Diese passen eher zu Aufschieber*innen mit Problempotenzial, zu Menschen, die mit akademischem Aufschieben zu tun haben, oder gar zu pathologischen Aufschiebenden. Negative Emotionen sind eher ein Indikator für Stress, der mit dem Aufschiebeverhalten verbunden ist. Ihr Aufschieben geht nicht spurlos an Ihnen vorüber.

Finden Sie sich eher in den Gefühlen und Aussagen auf der rechten Seite wieder? Dann atmen Sie tief durch. Ihre positiven Gefühle stehen eher für einen entspannten Grundzustand und dafür, dass Sie sich im normalen Spektrum des Aufschiebeverhaltens bewegen.

Auch wenn Sie hier negative Emotionen und Aussagen bei sich entdecken, können Sie etwas tun!

Die gute Nachricht ist: Veränderung kann immer gelingen. Ganz gleich, in welchem Kontext. Wollen Sie mit dem Rauchen aufhören? Das geht, wenn Sie den richtigen Weg für sich finden. Sie möchten Ihr Ernährungsverhalten verändern? Auch das ist möglich, mit guter Beratung und Übung und einem für Sie passenden Zugang, der ohne Dogmen daherkommt. Sie möchten Tanzen lernen? Ein Tanzkurs sollte helfen, und ja, die eine wird zur fröhlich-leichten Tänzerin in allen Lebenslagen, der andere bleibt etwas knöchern bei den Grundschritten, kommt aber für „den normalen Hausgebrauch“ ganz gut zurecht.

Veränderung kann auch in Bezug auf Aufschiebeverhalten gelingen. Wenn Sie den mutigen Blick darauf wagen, wie Ihr persönliches Aufschieben gelagert ist.

Ist es eher einer Arbeitsstörung ähnlich oder sind es die kleinen Dinge des Alltags? Schieben Sie zwar Dinge auf die lange Bank, aber eigentlich spielt es nicht wirklich eine Rolle, weil das Leben damit gut funktioniert? Oder leiden Sie unter aufgeschobenen Dingen, auch wenn sie nicht von Bedeutung sind? Gibt es da vielleicht ganz andere Probleme und Beschwerden, zu denen das Aufschieben noch hinzukommt?

Diesen Blick kann Ihnen niemand abnehmen. Aber: Wenn Sie den Blick wagen, können Sie am richtigen Punkt nach der passenden Unterstützung schauen und in den Veränderungsprozess einsteigen. Und der kann dann auch gelingen.

(Quelle: Auszug aus dem Buch Auf die lange Bank: Wenn Aufschieben zum Problem wird von Annette Bauer, erschienen im September 2019)

 

Über die Autorin

Annette Bauer ist systemischer Coach sowie Strukturaufstellerin und seit fast 20 Jahren in der Begleitung und Beratung von Menschen in der Seelsorge tätig. Sie beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit der Lehre der Achtsamkeit und arbeitet als Coach mit Vielbegabten.

Wertschätzung Mangelware, Empathie Fehlanzeige?

Über (Selbst‐)Erkenntnis, Effizienz und Einfühlung im Gesundheitswesen

Ein Interview mit Birgit Brand-Hörsting, Inhaberin des Bildungsinstituts für Pflegeberufe und des WdH – Wertschöpfung durch Worte in Karlsruhe und Autorin von Wertschätzende Kommunikation für Pflegefachkräfte und Ärzte

 

Frau Brand-Hörsting, was macht die Kommunikation zwischen Ärzt*in und Patient*in eigentlich so schwer?

Im Gesundheitswesen herrscht in allen Bereichen eine extrem hohe Arbeitsdichte. Einer der entscheidenden Negativfaktoren ist sicherlich der Zeitdruck. Gleichzeitig ist die Kommunikation mit Patienten bisher in der Ausbildung von Ärzt*innen nicht verbindlich, im Studium kommt sie nicht als „Lernfach“ vor. Dabei ist Kommunikation in der Behandlung eines Patienten die Schlüsselqualifikation. Ohne Kommunikation ist weder Diagnostik noch Therapie möglich. Es erschwert die Situation, dass der Arzt die Diagnose oder Therapie zum x-ten Mal erklärt, während sie für den Patienten neu ist. Und weil sie ihn selbst betrifft, ist sie natürlich auch mit starken Gefühlen verbunden. Der Routine des einen stehen Angst oder ein Gefühl von Hilflosigkeit beim anderen gegenüber. Gerade hier wäre ein besonderes Einfühlungsvermögen und eine wertschätzende Kommunikation nötig.

 

Wie sieht gelungene Kommunikation zwischen Pflegenden, Patienten und Angehörigen aus?

Gelungene Kommunikation findet auf Augenhöhe statt. Sie nimmt die Bedürfnisse der Patienten wahr, respektiert sie und anerkennt vor allem ihre Selbstbestimmtheit. Zuhören, Gefühle wahrnehmen und verbalisieren. Das bedeutet Empathie und ist hochgradig wirksam.

 

„Mit der Kleidung legen viele Patienten

einen Teil ihrer Selbstbestimmung ab.“

 

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie: „Ich bin sehr glücklich, dass die Wertschätzende Kommunikation mich gefunden hat.“ Wann und wie wird man gefunden?

Man kann in jeder Lebensphase „gefunden“ werden. Aber ich kann auch aktiv danach suchen, wenn ich merke, dass mir ein verbindender Kontakt mit den Menschen am Herzen liegt.

 

Der Weg der Wertschätzenden Kommunikation führt über Selbstempathie, aufrichtiges Mitteilen und Fremdempathie. Steht Selbstempathie am Anfang?

Definitiv. Selbstempathie ist die Basis. Ich muss mich fragen: Was löst eine bestimmte Äußerung oder Handlung in mir aus? Welche Gefühle nehme ich in mir wahr und auf welche Bedürfnisse weisen diese hin? Dann bin ich in der Lage, gut hinzuhören und den anderen mit seinen Bedürfnissen wahrzunehmen. Und ich kann mich auch entscheiden, mich dem anderen aufrichtig mitzuteilen. Ich muss mich geklärt haben, um empathisch mit anderen sein zu können.

 

Jahrelang wurde mir beigebracht, die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen und nur an meine Patienten zu denken. Wenn ich mich jetzt in Selbstempathie übe, ist das nicht ganz schön egoistisch?

Grundsätzlich braucht jeder Mensch einen guten Egoismus, nämlich im Sinne von Selbstfürsorge. Das ist nicht egoistisch, sondern klug.  Die Belastungen und daraus resultierende Beanspruchungen im medizinischen oder pflegerischen Berufsalltag sind groß und vielfältig. Wer da keine Selbstfürsorge betreibt, kann nicht für andere sorgen, sondern opfert sich auf. Nicht selten sind Coolout oder Burnout die Folgen. Die empathische Selbstreflexion ist wichtig, weil ich erst nach dem Erkenntnisgewinn ins Handeln kommen kann. Pflegende und Ärzte können sehr genau abwägen, wann es die Situation erfordert, eigene Bedürfnisse zum Wohle des Patienten zurückzustellen. Aber eben nicht permanent.

 

„Wer das Bedürfnis erkannt hat,

kann Strategien entwickeln.“

 

Womit soll ich anfangen, wenn ich mich trotz akuten Zeitmangels in Wertschätzender Kommunikation üben will? 

Im pflegerischen Bereich ist Kommunikation häufig gekoppelt an pflegerische Interventionen. Diese kann ich nutzen, mich dem Patienten wertschätzend zuzuwenden. Wertschätzende Kommunikation ist ja viel mehr als eine Kommunikationstechnik. Sie ist eine Haltung. Wenn ich aus dieser Haltung heraus agiere, kann ich die Bedürfnisse des anderen wahrnehmen. In meinem Buch zeige ich anhand von praxisnahen Übungen, wie wir diese Haltung einüben können für ein empathisches Miteinander in der Pflege, in der Logo- und Ergotherapie und im ärztlichen Kontakt mit den Patient*innen.

 

Stehen die patriarchalen Strukturen z.B. in Krankenhäusern einer Wertschätzenden Kommunikation nicht entgegen? 

Sicherlich wären andere organisatorische Strukturen hilfreich. Der Fusionsdruck ist groß im Klinikbereich, Erfolg wird an wirtschaftlicher Effizienz gemessen. Gleichzeitig „funktioniert“ Wertschätzende Kommunikation aber auch in jedem Kontext. Würde das Konzept und die damit verbundene Haltung stärker gelebt, hätte dies positive Wirkungen auf die Arbeitssituation. Damit einher gingen eine höhere Attraktivität und mehr Zufriedenheit bei allen Beteiligten.

 

Während Kommunikation schon heute fester Bestandteil der Pflegefachkräfteausbildung ist, wird die Arzt-Patienten-Kommunikation erst ab 2020 verbindlicher im Medizinstudium. Welche Erwartungen verbinden Sie damit?

Bereits jetzt gibt es vereinzelt Skill Labs an Universitäten, wo angehende Mediziner*innen mit Schauspielern schwierige Gesprächssituationen proben. Aus Gesprächen mit Studierenden weiß ich aber, dass dieses Angebot leider nur wenig angenommen wird. Sehr verbreitet scheint die Überzeugung unter jungen Ärzt*innen zu sein: „Das kann ich eh schon.“ Dabei würde ihnen die Wertschätzende Kommunikation auch helfen, mit der eigenen psychischen Belastung besser umgehen zu können. In vielen Kliniken ist heute aber eine vermehrte Akzeptanz zu spüren, sich in puncto Kommunikation bewusst zu verändern.

 

„Die Einstellung, dass ein Patient ein ‚Leidender‘,

‚Sich‐Geduldender‘ ist,

muss aus den Köpfen verschwinden.“

 

Wenn Wertschätzende Kommunikation gelingt, beschleunigt und verbessert sie die Genesung der Patient*innen. Selbst wenn eine vollständige Gesundung ausgeschlossen ist, hilft sie Patient*innen und Angehörigen, die Krankheit anzunehmen und mit der Situation besser umzugehen. Die positiven Auswirkungen gelungener Kommunikation können zum guten Ruf der Klink oder Praxis beitragen.

Vielen Dank für das Interview, Frau Brand-Hörsting!

 

  Über die Autorin:

Birgit Brand-Hörsting ist Inhaberin des Bildungsinstituts für Pflegeberufe und des WdW – Wertschöpfung durch Worte in Karlsruhe. Als GFK-Trainerin, Mediatorin und IHK Business Coach begleitet sie seit mehr als 25 Jahren Menschen in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung.

Jeder Konflikt ist lösbar

Zu Hause werden die Türen geknallt: Ein Streit, der harmlos begonnen hatte, ist eskaliert. Ein klärendes Gespräch? Unmöglich!

Im Meeting wird es plötzlich lauter. Ein Wort gibt das andere, bis ein Kollege wortlos aufsteht und geht.

Über den Gartenzaun hinweg diskutieren zwei Nachbarn miteinander. Beide halten ihre Emotionen zurück, doch in ihnen brodelt es.

Konflikte sind in unserem Leben unvermeidbar. Überall und jederzeit können sie auftreten. Die meisten von uns scheuen sie und drücken sich vor einer Austragung. Was dabei zu wenig im Fokus steht: die Chancen, die sich uns bieten.

Dr. Karim Fathi ist zertifizierter Konfliktberater und an der Akademie für Empathie in Berlin tätig. In seinem neuen Buch Das Empathietraining vermittelt er Konzepte aus den Bereichen Coaching und Beratung. Er richtet sich damit an alle Menschen, die ihre Empathiefähigkeit verbessern möchten, um sich fit für Krisen und Konflikte zu machen.

 

Herr Fathi, Sie haben ein beeindruckendes Profil: Unter anderem sind Sie Friedens- und Konfliktforscher. Wie sieht als solcher Ihr Arbeitsalltag aus? Und wie kamen Sie zu dieser Profession?

Während meines Studiums der Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg war es stets mein Traum, an der Lösung der großen internationalen Konflikte in der Welt mitzuwirken. Ich begann nach dem Studium eine einjährige Ausbildung zum Konfliktberater bei Johan Galtung, einem der Gründerväter der Friedensforschung, der schon damals Erfahrung als Mediator in über 120 internationalen Konflikten hatte. Meine ersten Schritte tat ich danach ab 2009 als Mitarbeiter an zwei Instituten, die zu internationalen Konflikten forschen und beraten: Berghof Conflict Research in Berlin und International Institute for Conflict in Wien (Letzteres existiert heute nicht mehr und ist in das in Jerusalem ansässige Herbert C. Kelman Institute übergegangen). Ich war total fasziniert zu beobachten, dass auch in den komplexesten und gewalttätigsten Konflikten alle Parteien im Grunde „gute“, legitime Motive hatten. Ob südamerikanische Rebellengruppen, westafrikanische Warlords, islamische Extremisten aus dem Nahen Osten oder die Armeen der jeweiligen Regierungen, mit denen sie Krieg führten – trotz ihrer destruktiven Energie und gegensätzlichen Zielsetzungen offenbarten alle Vertreter/-innen im Grunde nahezu identische Bedürfnisse. Sie alle redeten davon, dass sie zwar Krieg führten, aber eigentlich Frieden, Sicherheit für ihre Angehörigen, Ausgleich für erlittene Ungerechtigkeiten, Respekt etc. wollten. Da erkannte ich: Jeder Konflikt ist im Grunde lösbar und zwar so, dass alle Seiten zufriedengestellt sind. Aber ich war auch ernüchtert festzustellen, dass man in der Praxis als Konfliktberater großer internationaler Konflikte wenig Einflussmöglichkeiten hat. So laufen die Konflikte in Nahost seit Ewigkeiten und ohne entscheidenden Durchbruch weiter, trotz über 30.000 Hilfsorganisationen alleine in Israel-Palästina. Und wenn Konflikte doch gelöst werden – dann so, dass sich die Konfliktarbeiter/-innen fragen mussten, ob ihre jahrelange Arbeit irgendeinen Sinn hatte. Das konnte ich in Bezug auf den Bürgerkrieg in Sri Lanka miterleben. Der Konflikt fand zwischen den für die Unabhängigkeit kämpfenden Tamil Tigers und der singhalesischen Regierung statt. Er dauerte seit 1983 an und wurde 2009 jäh mit einem Vernichtungsschlag der Regierungstruppen beendet. Zehntausende Menschen, vor allem Zivilisten, fanden den Tod. Meine Kolleg/-innen, die jahrelang vor Ort tätig waren und auf eine konstruktive Lösung hingearbeitet und zwischen den Parteien vermittelt hatten, waren völlig desillusioniert.

Ich war total fasziniert zu beobachten, dass auch in den komplexesten und gewalttätigsten Konflikten alle Parteien im Grunde „gute“, legitime Motive hatten.

Diese und andere Erfahrungen führten dazu, dass ich mich intensiv mit der Frage auseinandersetzte, was ganzheitliche Konfliktlösung in Theorie und Praxis ausmacht. Es ist ja nicht so, dass wir heute wenig Wissen und Konfliktlösungsmethoden zur Verfügung haben – im Gegenteil. Aber es gibt dazu kaum Orientierung und bislang hatten sich noch wenige Akademiker/-innen und Praktiker/-innen die Frage gestellt, wie sich dieses Wissen integrieren lässt. Diesen Überlegungen ging ich im Rahmen meiner Doktorarbeit nach, die ich 2011 abschloss. Zugleich begann ich mich als freiberuflicher Berater mehr dafür zu interessieren, wie sich alltägliche, „kleine“ Konflikte, also Konflikte mit den eigenen Kindern, dem Lebenspartner, dem Nachbarn oder Arbeitskollegen besser lösen lassen. Anders als die großen internationalen Konflikte ist wirklich jeder Mensch in seinem Leben davon betroffen. Ich erkannte auch, dass sich die Arbeit als Berater und Coach von beruflichen und privaten Alltagskonflikten als vergleichsweise sinnstiftender erwies: Ich konnte die Prozesse direkt beeinflussen und nach nur wenigen Sitzungen eine für alle Parteien befriedigende Entscheidung herbeiführen. Im vorliegenden Buch ist im Detail einer meiner ersten Fälle beschrieben. Um die Ausgangsfrage zu beantworten: Heute ist mein Arbeitsalltag vor allem damit gefüllt, dass ich als freiberuflicher Berater, Trainer, Dozent und Coach Privatpersonen, Fach- und Führungskräfte, Teams und Organisationen darin unterstütze, ihre kommunikativen Kompetenzen der Konflikt- und Krisenbewältigung zu entwickeln. Daneben forsche und publiziere ich zu der Frage, wie kollektive Systeme, sei es Teams, Organisationen oder Gesellschaften, über die Stellschraube „Kommunikation“ ihre Krisenfähigkeit steigern können. Dazu erscheinen noch in diesem Jahr zwei weitere Bücher von mir.

 

Was denken Sie: Haben sich zwischenmenschliche Konflikte (im Großen wie im Kleinen) in den letzten Jahren in ihrer Intensität/Häufigkeit etc. verändert?

Ich glaube, zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen Konflikte, und zwar auf allen Eskalationsstufen. In ihrer Häufigkeit haben sie sich sicherlich nicht geändert, denn wann immer Menschen zusammentreffen, treffen auch unterschiedliche Meinungen und Interessen aufeinander, und so entstehen Konflikte. Historisch gesehen, hat die Intensität vielleicht eher abgenommen, wie es z.B. der berühmte Evolutionsexperte und Psychologe Steven Pinker in seinen Büchern beschreibt. Er verdeutlicht meines Erachtens recht plausibel, dass seit der Aufklärung Gewaltherrschaft, Sklaverei, Folter, Tötung aus Aberglauben oder bei Duellen geächtet sind und dass wir – trotz aktueller globaler Konflikte – immer noch in der friedlichsten aller Welten leben. Auch wenn einige Beobachter/-innen in den letzten Jahren von einer Abnahme der Empathie, vermehrtem Ellenbogendenken und einer allgemeinen Verrohung im zwischenmenschlichen Umgang sprechen, glaube ich, dass wir historisch gesehen, in der heutigen Informationsgesellschaft vergleichsweise zivilisierter mit Konflikten umgehen als im Mittelalter.

Trotz aktueller globaler Konflikte leben wir immer noch in der friedlichsten aller Welten.

 

Aus Ihrer Erfahrung heraus: Sind Menschen prinzipiell friedliebend oder ist ihr Konfliktpotenzial schon besorgniserregend?

Konfliktpotenzial hat es immer gegeben und gleichzeitig auch das Bedürfnis nach Frieden. Wir tragen beides in uns. Wann immer sich Menschen begegnen, gibt es Konfliktpotenzial. Psychologische Experimente, wie z.B. das Stanford Prison Experiment oder das Milgram Experiment, und zuvor schon Hannah Arendts Untersuchungen zur „Banalität des Bösen“ weisen darauf hin, dass wir alle sogar recht grausame Seiten in uns tragen, die in bestimmten Situationen – wenn wir nicht achtsam sind und z.B. Gruppendynamiken nachgeben – zum Tragen kommen können. Es lässt sich also nicht vermeiden, dass wir Konflikte haben und mitunter eine „dunkle Seite“ in uns schlummert. Wollen wir ein friedliches Leben führen, stellt sich vielmehr die Frage, wie wir damit umgehen. Selbst wenn wir zu keiner Lösung kommen, können wir mit Achtsamkeit, Empathie und Gelassenheit konstruktiv mit Konflikten umgehen lernen. Wie wir das kultivieren können, erfahren Sie in meinem Buch.

 

Woran scheitert Ihrer Ansicht nach der Versuch, einen Konflikt mit einem für alle Beteiligten zufriedenstellenden Kompromiss zu klären?

Grundsätzlich lässt sich jeder Konflikt (und ich behaupte: wirklich jeder Konflikt!) auf mindestens fünf Arten lösen. Erstens einseitig zu Gunsten der einen Partei (100/0-Lösung), zweitens durch Nachgeben zugunsten der anderen Partei (0/100-Lösung), drittens durch Vermeiden bzw. Rückzug (0/0), viertens durch den Kompromiss (50/50) oder fünftens durch kreative Zusammenarbeit (100/100). Die Kompromisslösung ist gar nicht so schwer zu finden und steht häufig am Ende einer Verhandlung oder Mediation, denn sie beinhaltet im Wesentlichen nur, dass beide Parteien Zugeständnisse machen und sich „in der Mitte treffen“. Kreative Zusammenarbeit ist die verhältnismäßig konstruktivste Lösung für alle Beteiligten, aber auch deutlich schwieriger zu erreichen: Sie setzt voraus, dass sich alle Beteiligten wirklich verstehen wollen, dass sie Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen und dass sie bereit sind, die Situation aus neuen Perspektiven zu betrachten, um zu entsprechend neuen Lösungen zu kommen. Dies erfordert Empathie, Kreativität und Zeit – Ressourcen, die uns in Konflikten oft fehlen. Wir sind zu gestresst und zu sehr auf unseren empfundenen Verletzungen fixiert. Das ist auch der Fokus des Buches: Wie können wir in stressigen Konflikten Ressourcen aufbauen, um für alle bestmöglich mit der Situation umzugehen?

 

Wenn Konfliktparteien in einer absoluten Sackgasse stecken – es gibt kein Vor und kein Zurück mehr –, was hilft, um neue Bewegung zu bewirken?

Solche Situationen sind meiner Erfahrung nach schmerzhaft, aber auch sehr chancenreich. Wir können nicht mehr zurück und so weitermachen wie bisher. Wir sind nahezu gezwungen, irgendwas anders zu machen. Aber dieses Neue ist (noch) nicht da und wir wissen vielleicht (noch) nicht, wie es aussehen soll. Ich glaube, in solchen Situationen (typischerweise sprechen wir hier von „Krisen“) können wir an unterschiedlichen Punkten ansetzen. Was wir am ehesten beeinflussen können, sind wir selbst, und damit meine ich unser Denken und Handeln. Manchmal kann es Sinn machen, eine Pause einzulegen, sich aus der Situation zurückzuziehen, bis sich die Gemüter abgekühlt haben. Nach einer Pause kann die Situation in neuem Licht erscheinen. Es gibt eine Fülle von Techniken, wie Sie aus Ihren Denkfallen heraustreten, sich auf das Hier und Jetzt einlassen und zu neuen Perspektiven kommen können und wie Sie sich von stressigen Emotionen befreien können – im Buch werden Sie sorgsam daran herangeführt.

Pragmatismus heißt, alles, was uns hilft, zu nutzen, um die aktuelle Situation ein bisschen angenehmer zu gestalten.

Was sich im zwischenmenschlichen Kontext auch mal empfiehlt, ist reiner Pragmatismus. Wenn wir nicht wissen, was die finale Lösung sein könnte, können wir vielleicht zu schrittweisen, temporären Übergangslösung kommen. Wenn wir uns nicht über den Inhalt der Lösung einigen können, können wir uns vielleicht zumindest über den Prozess einigen, also, wie wir zu einer Entscheidung kommen. Pragmatismus heißt, alles, was uns hilft, zu nutzen, um die aktuelle Situation ein bisschen angenehmer zu gestalten – und sei der Schritt noch so klein. In einem Beziehungskonflikt zwischen Liebenden kann es auch sinnvoll sein, das festgefahrene Konfliktthema kurz zur Seite zu stellen und sich anderweitig anzunähern. Später kann das Paar von einer anderen Ausgangslage heraus gemeinsam auf das Problem schauen. Ich glaube, in jeder noch so festgefahrenen Situation können wir etwas tun. Meist müssen wir die Dinge etwas anders machen oder anders denken als bisher. Ich glaube, es gibt für alles Auswege, wir sind uns ihnen nur nicht immer bewusst.

 

In Ihrem neuen Buch Das Empathietraining vermitteln Sie konkrete Ansätze und Methoden, um gestärkt aus Beziehungskonflikten hervorzugehen. Wie kamen Sie auf das Thema Empathie und warum sehen Sie darin eine Art Universalkompetenz?

Ausgangspunkt dieses Buches war ein hocheskalierter Konflikt in einer Unternehmerehe, den ich mit meinem Freund und Kollegen, Herbert Haberl, begleiten durfte. Wir hatten glücklicherweise viel Zeit und Ressourcen, um – im Einverständnis mit unseren beiden Klient/-innen – mit verschiedenen Methoden zu experimentieren, also nicht nur dem klassischen Konfliktmanagement, sondern Methoden aus Resilienzförderung/Stressmanagement, systemischem Coaching, Neurolinguistischer Programmierung (NLP), sogar spirituellen Weisheitstraditionen. Am Ende kamen wir nicht nur zu einer Versöhnung, sondern auch zu einer integrierten Kombination unterschiedlicher Traditionen zur Förderung von Krisen- und Konfliktlösungskompetenzen. Die aus diesen Erfahrungen gewonnenen Erkenntnisse führten zur Entwicklung eines ganzheitlichen Empathietrainings und zur Gründung der Akademie für Empathie, einer Sinn- und Arbeitsgemeinschaft mit unterschiedlichen Expert/-innen aus Theorie und Praxis rund um das Thema Empathie. „Empathie“ begreifen wir hier nicht nur als „Einfühlung“ (emotionale Empathie) oder ein „Sich-Hineindenken“ (kognitive Empathie), sondern auch als „Selbstempathie“ (eigene Gefühle und Gedanken wahrnehmen können). In unserer Forschung und Praxis kamen wir zum Ergebnis, dass wir alle eine natürliche, authentische Verbindung zu allen Menschen, im weitesten Sinne zu allem Leben besitzen. Diese Verbindung ist uns nicht immer bewusst, sie ist aber immer da. Wir werden uns ihr vor allem dann gewahr, wenn wir in unserer Mitte sind und uns gelassen und zentriert fühlen. Dies lässt sich unserer Erfahrung nach systematisch fördern. Diese Art von Empathie, die sich ganz natürlich aus unserer Zentrierung ergibt, umschreiben wir arbeitshypothetisch mit „Empathie 3.0“. Sie ist eine Universalkompetenz, weil sie uns ermöglicht, mit vielfältigen unterschiedlichen Problemsituationen souverän umzugehen, ohne dass wir zwingend weiterführende konkretere Kompetenzen erlernen müssen. Kultiviere ich Empathie 3.0 in mir, kann ich souveräner mit Arbeitsstress, Konflikten aller Art, sogar tiefen Lebenskrisen umgehen. Sie hilft Führungskräfte dabei, funktionaler mit ihren Mitarbeitern umzugehen und kann ganze Teams dabei unterstützen, kollektiv intelligenter und damit leistungsfähiger zu werden.

 

Wie kann Ihr Buch Leser darin unterstützen, empathischer und im positiven Sinne „konfliktfähiger“ zu werden?

Im Zentrum dieses Buches steht das Empathietraining, mit dem Sie Ihre natürliche Empathie und Gelassenheit kultivieren und im Alltag mehr Raum geben können. Das Buch enthält mehrere, aufeinander aufbauende Übungen, die im Durchschnitt etwa fünf bis zehn Minuten Praxis pro Tag erfordern. Veranschaulicht werden die Übungen und darin enthaltenen Methoden anhand von vielfältigen Beispielen aus meiner Beratungspraxis. Über einem Zeitraum von ungefähr zwei Monaten praktiziert, führt das Trainingsprogramm zu einer Steigerung Ihrer Empathie, Stress- und Konfliktfähigkeit. Ähnlich wie auch beim Sport/Fitness braucht es aber gewisse Kontinuität über einen längeren Zeitraum.

 

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Stress der Empathiekiller Nummer 1 sei. Das ist fatal, denn wir leben gewissermaßen in einer „gestressten Gesellschaft“. Welche Auswirkungen hat unser Lebenstempo auf das Miteinander?

Stress hat es schon immer gegeben und führt uns evolutionär gesehen zu Höchstleistungen an. Doch wenn wir gestresst sind, neigen wir dazu, selbstbezogen zu sein und wir haben wenig Ressourcen, uns empathisch auf andere einzulassen. Die Psychologin Sara Konrath beschrieb in ihrer vielzitierten Studie das „Empathieparadoxon“, wonach die Menschen infolge der Globalisierung zwar mehr miteinander verbunden seien, aber zugleich zwischenmenschliche Empathie abnehmen würde. Das Problem unserer Zeit ist der empfundene Dauerstress infolge von Informationsüberflutung, Leistungs-, Konsum- und vor allem Zeitdruck. Viele Menschen haben verlernt abzuschalten und sind in einem permanenten Erregungszustand, der ihr Alltagshandeln und -denken negativ beeinflusst. Indem wir also lernen, funktionaler mit den Anforderungen der Informationsgesellschaft umzugehen und uns nicht dauerhaft stressen zu lassen, werden wir gelassener und empathischer. Es ist interessant zu beobachten, dass sich gerade in der schnelllebigen Zeit von heute deutliche Gegentrends nach Entschleunigung und Gelassenheitsförderung abzeichnen. Yoga, Meditation, Wellness etc. sind heute keine exotischen Begriffe mehr, sondern verbreitete Antworten auf den empfundenen Dauerstress unserer Zeit. Vor diesem Hintergrund leistet mein Buch auch einen Beitrag, gelassener, empathischer und konfliktfähiger in unserer gestressten Gesellschaft zu sein.

 

Was tun Sie persönlich gegen Stress?

Ich wende viele der im Buch beschriebenen Methoden selber an. In stressigen Situationen kommuniziere ich gerne lösungsorientiert (Konfliktkommunikation), darüber hinaus setze ich mich mit meiner Wahrnehmung des stressigen Ereignisses auseinander (mentale Techniken) und lasse negative Gefühle los (emotionale Techniken). Manchmal reicht es schon, ein paarmal tief durchzuatmen. Auch sehe ich zu, dass ich stets ausreichend Zeitfenster habe, mich zu regenerieren. Darüber hinaus praktiziere ich täglich mindestens eine Stunde Achtsamkeitsmeditation, was mir besonders gut hilft, klar zu sehen und die vielen kleinen und großen Dinge, die stressig erscheinen, in einen angemessenen Kontext zu setzen. Hier wird mir bewusst, dass es sich bei den meisten Dingen gar nicht lohnt, sich über sie aufzuregen.

 

Hand aufs Herz: Was bringt Sie selbst so richtig „auf die Palme“? Wo lassen Sie nicht/ungern mit sich verhandeln?

Mich bringt auf die Palme, wenn ich mich mit für mich nicht nachvollziehbaren, kleinteiligen, bürokratischen Prozessen auseinandersetzen muss. Ich habe ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Effizienz und Freiheit und wenn ich in solchen Situationen nicht geistesgegenwärtig bin, habe ich den anhaltenden Gedanken, dass ich dazu gezwungen werde, meine „Lebenszeit zu verschwenden“. Da empfinde ich relativ viel Stress, wahrscheinlich sogar mehr als die meisten Menschen. Ein befreundeter Therapeut hat mal mittels Herzratenvariabilitätsmessung (HRV) meine Lebensfeuerwerte gemessen, als ich meine Steuererklärung gemacht habe: Meine Werte waren völlig im Keller! Als ich Stunden später Gelegenheit hatte, kreativ zu arbeiten und an meinem Buch schrieb, waren meine Werte wieder auf höchstem Niveau.

 

Ihr Kredo?

Frieden in der Welt beginnt mit Frieden in dir.

 

Weitere Informationen zum Autor erhalten Sie hier.

 

 

 

 

 

Karim Fathi: Das Empathietraining. Konflikte lösen für ein besseres Miteinander.

Das Buch ist ab sofort im Handel erhältlich.

 

 

Achtsamkeitsforschung

Wie Achtsamkeitstraining Körper, Geist und Selbstwahrnehmung stärkt

Von Katja Bartlakowski

 

„Die einzige Grenze im eigenen Leben

 ist die Grenze im eigenen Geist.“

(Yi-Yuan Tang)

 

Meditation ist in der westlichen Gesellschaft angekommen. Sie findet sich in vielen der Achtsamkeitspraktiken wieder: Zu nennen seien da nur die Achtsamkeitsmeditation, Qigong, Tai-Chi oder zum Beispiel Yoga. In den vergangenen 40 Jahren rückte insbesondere die Achtsamkeitsmeditation immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit und fand nicht zuletzt Eingang in therapeutischen Ansätzen wie etwa der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat-Zinn oder des Integrative Body-Mind-Training (IBMT) nach Yi-Yuan Tang.

Seit einigen Jahren interessiert sich auch die neurowissenschaftliche Forschung für meditative Praktiken und ihre Auswirkung auf neurobiologische Mechanismen. Die oftmals in den Medien gehypten Studienerkenntnisse über die messbaren Auswirkungen der Meditation auf unsere Gesundheit werden gerne von Ärzten, Therapeuten und Achtsamkeitsanhängern genutzt, um ihre Arbeit zu befördern. Obgleich die meisten Ergebnisse bisher noch nicht wissenschaftlich repliziert werden konnten, entfalten sie unbenommen eine starke Indizwirkung für eine signifikant positive Auswirkung der meditativen Achtsamkeitspraxis auf Körper und Geist.

Der an der Texas Tech University, USA, lehrende und forschende Neurowissenschaftler und Psychologe Yi-Yuan Tang hat nun in seinem Werk The Neuroscience of Mindfulness Meditation (dt: Die Wissenschaft der Achtsamkeit, erschienen 2019 im Junfermann Verlag) erstmals eine beeindruckende Zusammenführung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Achtsamkeit vorgelegt. Auch konnte er anhand der Forschung darlegen, dass Achtsamkeitspraxis im Allgemeinen zu einem zufriedeneren Leben führt.

Tang wurde in China geboren und lernte bereits in jungen Jahren die traditionelle östliche Lehre kennen. Er ist ein langjährig Praktizierender in der alten Tradition, einschließlich Traditioneller Chinesischer Medizin, Meditation, Tai-Chi, Qigong, Kampfkunst und I Ging. In den 1990er-Jahren entwickelte er das Integrative Body Mind Training (IBMT), dessen Ansatz sich an der Traditionellen Chinesischen Medizin orientiert. Tang gilt als ausgewiesener Experte für den Bereich der neurowissenschaftlichen Achtsamkeitsforschung. Auf ein paar wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse soll im Folgenden näher eingegangen werden:

Veränderungen in der Gehirnstruktur und deren funktionalen Eigenschaften

In den vergangenen zehn Jahren haben vielfältige Neuroimaging-Studien die positiven Veränderungen in der Hirnmorphologie im Rahmen der Achtsamkeitsmeditation untersucht. In ihrer Gesamtheit zeigten die Ergebnisse eine deutliche Effektgröße. So konnten insbesondere acht Hirnregionen ausgemacht werden, die bei Meditierenden eine konsequente Veränderung in der Hirnstruktur aufwiesen und die nun im Überblick vorgestellt werden:

Präfrontaler Cortex (PFC): Eine Region, die mit einer Meta-Wahrnehmung, also mit der Selbstbeobachtung und Verarbeitung komplexer, abstrakter Zusammenhänge assoziiert ist. Hier werden auch Ziele und Handlungen gesteuert.

Medialer präfrontaler Cortex (mPFC): Dieser Teil des Gehirns steuert Motivation sowie Aufmerksamkeit und beteiligt sich an der Einleitung von Handlungen.

Anteriorer cingulärer Cortex (ACC): Diese Hirnregion spielt bei rationalen Vorgängen wie etwa der Entscheidungsfindung eine Rolle. Zudem steuert sie die emotionale Impulskontrolle mit und ist damit an Prozessen der Selbstregulation und -kontrolle beteiligt.

Posteriorer cingulärer Cortex (PCC): Dieser Hirnbereich gehört zu einer Gruppe von Hirnregionen, die durch das Nichtstun aktiviert werden; er ermöglicht das sogenannte reizunabhängige Denken, das etwa bei Tagträumen oder in Ruhephasen aktiv ist.

Striatum: Als Teil der Basalganglien ist das Striatum an der Koordination und Regulation von Abläufen unbewusster, automatisierter, feinmotorischer Bewegungen involviert. Damit regelt es sämtliche Reaktions- und Ausdrucksbewegungen, die der Mimik und Gestik zugesprochen werden.

Insula (Inselrinde): Eine Region, die Körperwahrnehmung ermöglicht und beteiligt ist an der Verarbeitung taktiler Informationen wie etwa Berührung oder Schmerz. Sie hat Einfluss darauf, wie wir Situationen emotional bewerten. Einfühlung und Mitgefühl, aber auch negative Gefühle werden von der Insula mitgesteuert.

Amygdala (limbische Region): Eine Region, die eine entscheidende Rolle spielt bei der emotionalen Bewertung und Wiedererkennung von Situationen sowie bei der Analyse möglicher Gefahren. Sie beeinflusst auch autonome Körperfunktionen wie etwa Atmung und Kreislauf.

Hippocampus (limbische Region): Er unterstützt Gedächtnisprozesse und dient als Schaltstelle zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. Er wirkt auch bei der Steuerung von Affekten und emotionalen Äußerungen wie etwa Freude, Angst oder Wut mit.

Abb. 1: Gehirnregionen, die durch Achtsamkeitsmeditation positiv beeinflusst werden

Je nach Studie variierte die Veränderung der Hirnregionen in ihrer jeweiligen Ausprägung. Gleichwohl zeigten sich Veränderungen in Dichte und Dicke des Hirngewebes, was vermutlich auf das Wachstum neuer Dendriten, die Bildung neuer Synapsen, den Zuwachs neuer Gliazellen und die Ausbildung neuer Blutgefäße zurückzuführen ist. Auch konnte ein Zuwachs der Großhirnrinde sowie der Faserdichte der sogenannten weißen Substanz beobachtet werden. Es sieht so aus, als sei ein meditierendes Gehirn um ein vielfaches vernetzter. Die Zunahme der kortikalen Dicke ermöglicht es den Neuronen, effektiver miteinander zu kommunizieren. Dabei scheint die erhöhte Myelinisierung im Rahmen der Zunahme an weißer Substanz den raschen Austausch der Informationen zu begünstigen.

Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse weisen jedoch nicht nur auf eine neuronale Entwicklung in unserer Gehirnstruktur hin, sondern zeigen auch, und dies sehr deutlich, dass sich Achtsamkeitsmeditation positiv auf die funktionalen Eigenschaften des Gehirns auswirken kann. So deuten die Studien darauf hin, dass Achtsamkeitsmeditation die Kompetenz zur Selbstkontrolle stärkt. Dies geschieht im Wesentlichen durch drei Mechanismen:

  1. durch erhöhte Aufmerksamkeitskontrolle (PFC, ACC und Striatum),
  2. eine verbesserte Emotionsregulierung (multiple präfrontale Region, limbische Region und Striatum) sowie
  3. durch eine positive Veränderung der Selbstbewusstheit oder Selbstwahrnehmung (mPFC, ACC, Insula, PCC).

Während sich die Aufmerksamkeitskontrolle auf die Fähigkeit bezieht, den Fokus auf einem Objekt, eine Aufgabe oder ein Ziel konzentriert zu halten, beschreibt die Emotionsregulation Strategien, die den Umgang mit Gedanken oder Gefühlen (empfundene Intensität und Verarbeitung) beeinflussen können. Dem gegenüber verbirgt sich hinter dem Phänomen der Selbstbewusstheit oder Selbstwahrnehmung die kognitive Fähigkeit, sich seiner körperlichen und mentalen Zustände, die in Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen ihren Ausdruck finden können, gewahr bzw. bewusst zu sein.

Diejenigen Studienteilnehmer also, die Achtsamkeitsmeditation praktizierten, zeigten eine verbesserte Effizienz in ihrer Aufmerksamkeitsfähigkeit, erlebten weniger negative Gefühlslagen, und bei Praktizierenden mit Erfahrung stellten sich sogar positive Stimmungslagen ein, die mit dem Empfinden von Freude und Wohlbefinden einhergingen. Auch zeigte sich, dass Achtsamkeitsmeditation sichtbar die Cortisolausschüttung in stressigen Kontexten senken, die Immunreaktivität steigern und auf diese Weise die körperliche Resilienz bei Stress spürbar verbessern kann.

Es wird vermutet, dass die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks, aber auch die unvoreingenommene, nicht wertende Akzeptanz des eigenen Erlebens, die im Rahmen der Achtsamkeitsmeditation kultiviert wird, mitursächlich für die Förderung der Selbstkontrolle mit ihren Wirkmechanismen ist. So konnten Studien belegen, dass bereits wenige Achtsamkeitssitzungen die Fähigkeit zur Konzentration und Emotionsregulation zu verbessern vermochten.

Veränderungen im Verhalten

Viele Menschen sind Situationen bekannt, in denen sie sich etwas fest vornehmen, aber dann nicht umsetzen. Zumeist der Jahresanfang ist mit guten Vorsätzen verbunden: Regelmäßiger Sport treiben, mit dem Rauchen aufhören, gesünder essen. Und obgleich ein fester Entschluss vorliegt, gelingt es den wenigsten, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen und sich nachhaltig ein anderes Verhalten anzueignen. Woran liegt das? An der Überbewertung der Willenskraft. Studien offenbaren, dass Motivation, Wille, bewusste und zielgerichtete Kontrollausübung nicht notwendig sind, um ein Verhalten zu erzeugen. Verhalten wird nicht nur von bewussten Prozessen gesteuert, sondern auch von unbewussten. Bewusstes und Unbewusstes beeinflussen sich gegenseitig. Und gerade unbewusste Prozesse verfügen über eine enorme Kraft, die das eigene Verhalten immer wieder auf routinierte, gewohnte Bahnen zurückführt. Bewusstheit oder Willenskraft kann hier oftmals nur wenig ausrichten. Das ist auch der Grund, warum äußere Reize in der Regel automatisierte Verhaltensabläufe in uns auslösen.

Die Frage, ob sich unbewusste Verhaltensprozesse überhaupt verändern lassen, kann auf Basis der Erkenntnisse aus der Achtsamkeitsforschung positiv beantwortet werden. So stellte sich heraus, dass Achtsamkeitsmeditation die Veränderung von unbewusst ablaufenden Vorgängen begünstigt, indem sie unter anderem dabei unterstützt, Unbewusstes bewusst zu machen.

 

Abb. 2: Neuronales Modell der Verhaltensveränderung durch Achtsamkeitsmeditation

 

Verschiedene Meditationsformen wirken unterschiedlich

Unbestritten ist es, dass Achtsamkeitsmeditation die Aufmerksamkeitslenkung, die Konzentration sowie die kognitive Leistungsfähigkeit generell stärken kann. Jüngere Untersuchungen ergaben zudem, dass verschiedene Arten der Meditation unterschiedliche kognitive Fähigkeiten fördern. So wirkt sich die fokussierte Achtsamkeitsmeditation, gerichtet auf ein Objekt wie etwa der Atem, begünstigend auf das analysierende, lösungs- oder zielgerichtete (konvergente) Denken aus, während die das innere Erleben beobachtende, nicht wertende Meditation die Kreativität sowie die Ideenfindung, also das divergente Denken, unterstützt. Wer also meditiert, erhöht seine Chancen auf psychologische Flexibilität sowie auf eine erhöhte, mentale Leistungsfähigkeit.

Achtsamkeitsmeditation – Erfolg nicht garantiert

Nicht jeder Praktizierende erzielt mit der Methode der Achtsamkeitsmeditation die beschriebene positive Wirkung. Die Gründe hierfür dürften so vielfältig sein wie der Mensch selbst. Gleichwohl wird vermutet, dass genetische Dispositionen sowie Umwelteinflüsse (Erfahrungen) eine Rolle spielen könnten. Hier veranschaulicht die Forschung eindrücklich, wie Komplex die Interaktion zwischen den beiden Einflussfaktoren ist. Auch könnten die Persönlichkeit sowie der Lebensstil des Praktizierenden Einfluss auf den Erfolg der Achtsamkeitstrainings haben.

Damit erweist sich die Achtsamkeitsmediation als das, was sie ist: ein Weg von vielen, der ohne Erfolgsversprechen zu einem verbesserten Wohlbefinden führen kann und es in vielen Fällen auch tut.

 

Katja Bartlakowski

Über die Autorin

Dr. Katja Bartlakowski ist systemische Coach, Mediatorin sowie QM-Auditorin und ausgebildet in der Gewaltfreien Kommunikation sowie in Focusing. Achtsamkeitspraxis (Zen, Vipassana) seit 2008. Ihr „Achtsamkeitsbegleiter & Planer“ in.sight erschien im Juni 2019 im Junfermann Verlag.

Weitere Informationen zur Person erhalten Sie hier.

 

 

 

 

 

Die in diesem Artikel formulierten Forschungsergebnisse entstammen dem Buch von Yi-Yuan Tang: Die Wissenschaft der Achtsamkeit: Wie Meditation die Biologie von Körper und Geist verändert, erschienen 2019 im Junfermann Verlag.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ausgangspunkt Selbstfürsorge

Nur wer gut für sich sorgt, der kann auch gut für andere sorgen …

Die Arbeit mit Menschen ist meist schlecht bezahlt und eng getaktet, die Gefahr der Überlastung und des Burnouts ist hoch. Wie kann die Freude an der Arbeit und am Leben erhalten werden angesichts äußerer Zwänge und emotionaler wie körperlicher Herausforderungen?

In ihrem neuen Buch Ausgangspunkt Selbstfürsorge: Strategien und Übungen für den psychosozialen Alltag zeigen Lydia Hantke und Hans-Joachim Görges, wie Psychohygiene während der Arbeit gelingen, wie ein spielerischer und kreativer Umgang mit Stress und Überforderung aussehen kann.

 

Liebe Frau Hantke, lieber Herr Görges, worum genau geht es in Ihrem Buch?

Lydia Hantke: Ganz einfach: Es geht darum, das hektische, überladene, hoch anforderungsreiche und allzu oft miserabel personell ausgestattete Leben im psychosozialen Alltag unbeschadet zu überstehen. Es geht um die Befähigung, Burnout zu vermeiden und sich jeden Tag neu zu entscheiden, wie man*frau wieder zu Kräften kommen will. Damit die Arbeit (weiter/wieder/endlich) Spaß macht – oder man eine bessere Entscheidungsgrundlage hat, den Job zu wechseln.

 

Für wen wird dieses Buch interessant sein?

Hans-Joachim Görges: Zielgruppe für unser neues Buch sind all jene, die mit anderen Menschen arbeiten, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich, sporadisch oder 60 Stunden in der Woche – Letztere aber vielleicht ganz besonders. Es kann auch die Fachverkäufer*in für Herrenmode oder eine Frisör*in von unserem Buch profitieren, es richtet sich an Menschen im Kontakt mit Menschen. Oft findet der im psychosozialen Bereich statt. Dadurch ist der Titel motiviert und die Beispiele zeigen Menschen, deren Arbeitsalltag wir besser kennen: Menschen, die als Erzieher*in oder Leitungskraft im Jugendamt, Psychotherapeut*in oder Heilpädagog*in, Hebamme oder Sozialarbeiter*in oder in der Lehre … arbeiten.

Was enthält das Buch?

Lydia Hantke: Wer das Handbuch Traumakompetenz kennt, weiß, dass wir gerne grundsätzlich werden, ohne viel Theorie aufzufahren: Es geht um die Frage, warum es gerade im psychosozialen Bereich so wichtig und gleichzeitig so schwierig ist, auf sich zu achten. Es geht um Strukturen und die Entscheidung, etwas für sich zu tun, auch wenn man*frau dadurch noch belastungsfähiger zu werden droht. Und es geht um jede Menge Übungen, die man ohne viel Aufwand mal nebenher durchführen kann. Außerdem eignet sich das Buch hervorragend als Abstellplatz für Kaffeetassen, um auch die Kolleg*innen ganz subtil darauf hinzuweisen, dass Selbstfürsorge der Ausgangspunkt in ihrer Arbeit sein sollte.

Wie ist das Buch aufgebaut?

Hans-Joachim Görges: Zu Anfang gibt es ein paar kurze, ernst gemeinte, aber auch launige Kapitel zu den Themen Ausbeutung in der psychosozialen Arbeit, Work-Life-Balance und „Werkzeugkunde“, womit wir eine Einführung in die Verarbeitung von Belastungen meinen. Aus der Traumaverarbeitung haben wir gelernt, wie Dynamiken sich im Stress wiederholen – aber auch, wie man sie anders angehen kann. Zentraler Ansatzpunkt ist dann, wie wir die Spannung, die sich in uns aufbaut, wieder loswerden, sie regulieren können. Oder ein angemessenes Aktionsniveau erst aufbauen. Das untersuchen wir an den verschiedenen Abschnitten im Arbeitssetting: auf dem Weg, während und nach der Arbeit. Und wir erläutern an Beispielen und mit sehr vielen eingestreuten Übungen und Checklisten, wie man*frau es sich besser gehen lassen kann. Aber auch die inneren Schweinehunde und andere Hindernisse bei der Selbstfürsorge kommen zu Wort. Im Abschlusskapitel „Seele putzen und Körperpflege“ steht, dass weniger oft mehr ist und eigentlich alles mit dem Atmen anfängt – und das Buch hier aufhört. Ach nein, es gibt dann noch eine kleine, aber feine, rein subjektiv kommentierte Literaturliste.

Worauf ist zu achten?

Lydia Hantke: Wir haben ein Buch geschrieben, in dem es um die Selbstfürsorge während der Arbeit geht. Das klingt ein wenig widersprüchlich, und ist auch so gemeint. Es könnte durchaus auch unbequem werden, unsere Argumentationen nachzuvollziehen. Denn wir gehen davon aus, dass vieles nicht stimmt mit Personalschlüssel, Bezahlung und Verantwortungsstrukturen innerhalb der beschriebenen Arbeitsfelder. Aber wir sind auch der Ansicht, dass es effektiver ist, es sich auch unter solchen Umständen erst einmal besser gehen zu lassen. Und dann auf einer stabileren Grundlage zu entscheiden, ob man sich nicht vielleicht doch einen anderen Job suchen sollte. Wir verfechten hier also eine akzeptierende Form des Widerstands: Erst wenn wir Menschen dort stärken, wo sie sind, haben sie die Kraft, Struktur und System zu verändern – wenn sie sich denn dafür entscheiden. Das gilt für unser Klientel, aber eben auch für uns selbst.

Ihre Botschaft, die Sie den Leser*innen mit auf den Weg geben möchten

Hans-Joachim Görges: Wir im psychosozialen Bereich, aber auch alle, die an anderer Stelle mit Menschen arbeiten (im Callcenter, in der Bank, in der Mitarbeiter*innenführung …), haben nur uns selbst als „Arbeitsmittel“.

Lydia Hantke: Damit Körper und Geist uns auch nach der Arbeit noch zur Verfügung stehen, sollten wir sie in angemessener Weise nutzen und die Zusammenarbeit zwischen den beiden Bereichen fördern. Dann geht selbst die Arbeit angenehmer von der Hand.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Über die Autorin

Lydia Hantke, Dipl.-Psych., ist systemische und Hypnotherapeutin, Traumatherapeutin, Supervisorin. 2002 gründete sie das institut berlin. Sie entwickelte die Curricula Traumazentrierte Fachberatung/Traumapädagogik und Strukturierte Traumaintegration stib.

Über den Autor

Hans-Joachim Görges, Dipl.-Psych., ist systemischer und Hypnotherapeut, Traumatherapeut, Lehrtherapeut (SG) für systemische Therapie und Beratung. Seit 2005 arbeitet er freiberuflich im institut berlin.

 

Wenn die Lust zur Sucht wird

Verhaltenssucht ist eine mit hohen Kosten verbundene Bewältigungsstrategie

Nicht nur Drogen, sondern auch Verhaltensweisen können süchtig machen. Und diese sogenannten Verhaltenssüchte gehen auf Dauer mit verheerenden gesundheitlichen und sozialen Schäden einher. Mit dem Selbsthilfebuch Ausstieg aus Verhaltenssüchten von Julia Arnhold und Hannah Hoppe können Betroffene auf Grundlage des schematherapeutischen Ansatzes und mithilfe von Reflexions- und Entspannungsübungen lernen, ihre wahren Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie erarbeiten sich Schritt für Schritt Strategien, mit den Herausforderungen des Lebens konstruktiv umzugehen, anstatt sie durch eine Flucht in die Verhaltenssucht zu kompensieren.

 

 Liebe Frau Arnhold, liebe Frau Hoppe, worum genau geht es in Ihrem Buch?

Julia Arnhold: Das Buch versteht Verhaltenssucht in den meisten Fällen als einen ursprünglich hilfreichen (unbewusst entwickelten) Versuch eines Menschen, unangenehme beziehungsweise schmerzhafte Gefühle zu betäuben oder sich von ihnen abzulenken, also als ehemals sinnvolle, heute aber mit hohen Kosten verbundene Bewältigungsstrategie. Das Ziel muss sein, die Betäubung oder Ablenkung schrittweise zu ersetzen durch bewusstes Hinwenden zu den eigenen Gefühlen, um die darunter liegenden Bedürfnisse angemessen zu befriedigen (was die Sucht niemals können wird). Hierfür bietet das Buch eine empathisch begleitende Anleitung.

Verhaltenssucht kann – schematherapeutisch betrachtet – auch noch einen anderen Hintergrund haben, dem im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Menschen, die in ihrer frühen Entwicklung keine Gelegenheit hatten zu lernen, wie man Langeweile und Routinen gut aushält und Impulse reguliert, sind ebenfalls gefährdet, in suchtartiges Verhalten zu verfallen. Diesen Menschen erlaubt das Buch einfühlsam die notwendige Selbstreflexion und zeigt Möglichkeiten auf, Impulse zu kontrollieren und sich von unliebsamen Tätigkeiten im Alltag weniger schrecken zu lassen. Auch hier setzen wir auf das Prinzip der empathisch begleitenden Anleitung.

Hannah Hoppe: In erster Linie ist das Buch ein Leitfaden zur Selbsthilfe für Menschen, die sich als süchtig nach Internet, Gaming, Wetten, Sex, Sport, Shopping oder Arbeit einschätzen oder sich fragen, ob ihr Verhalten Suchtcharakter haben könnte. Es geht um Verhaltensweisen aus den genannten Bereichen, die zu viel Zeit in Anspruch nehmen, die von anderen wichtigen Aktivitäten oder sozialen Kontakten abhalten, die zu finanziellen Engpässen, gesundheitlichen oder sozialen Problemen führen oder die von dem unguten Gefühl begleitet sind, dass man es einfach nicht lassen kann.

Das Buch gibt wichtige Hintergrundinformationen und begleitet den Leser dabei, die eigenen Schwierigkeiten zu ergründen, einzuordnen und schließlich ganz aktiv konkrete Veränderungsschritte zu gehen. Die angeleiteten schematherapeutischen Methoden sind nachhaltig wirksam und effektiv. In der psychotherapeutischen Praxis finden sie  großen Anklang bei den Ratsuchenden. Unser Buch ist als Begleitung während einer Therapie geeignet, aber auch zur selbstständigen Anwendung.

Für wen wird dieses Buch interessant sein?

Julia Arnhold: Neben Betroffenen sind auch Angehörige, also Partner, Familienmitglieder und Freunde, angesprochen.

Hannah Hoppe: Darüber hinaus empfehlen wir als Lehrpraxeninhaberinnen und Ausbilderinnen das Buch auch Kolleg*innen in Ausbildung (Psychotherapie) oder Weiterbildung (Schematherapie).

Wie ist das Buch aufgebaut?

Hannah Hoppe: Nach einem einführenden Teil zu Definition und Hintergründen von Verhaltenssüchten sowie den Grundlagen zu Emotionen, Bedürfnissen und dem Modusmodell wird der Leser Schritt für Schritt dabei begleitet, die eigenen Schwierigkeiten (und Ressourcen!) zu ergründen und einzuordnen. Ein eigener Abschnitt widmet sich dem Umgang mit innerer Ambivalenz gegenüber Veränderung, die bei Sucht im Allgemeinen sehr häufig auftritt und sozusagen „dazugehört“.

Julia Arnhold: Das eigentliche Kernstück des Buches ist zum einen die Hinleitung dazu, eigene innere Anteile zu ergründen und ihr Zusammenspiel zu verstehen. Eine besondere Rolle dabei spielen schädliche innere Botschaften, die als eine Voraussetzung für die Überwindung der Verhaltenssucht verändert werden. Zum anderen werden konkrete Schritte zu eben dieser Überwindung dargestellt und angeleitet bzw. begleitet. Die abschließenden Kapitel widmen sich weiterführenden Hilfsmöglichkeiten, Umgang mit Rückfällen und der Rolle von Partnern, Familie und Freunden im Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Co-Abhängigkeit.

Was enthält es noch?

Julia Arnhold: Neben einer fundierten Einführung in die Bedeutung menschlicher Emotionen und Grundbedürfnisse sowie in das schematherapeutische Modusmodell enthält das Buch eine Anleitung für den Leser, um sein eigenes Verhalten einzuordnen und in seinen größeren Zusammenhängen zu verstehen. Dies sowohl mit Bezug zur eigenen Biografie (Kindheit und Jugend) als auch zu den aktuellen Lebensumständen.

Hannah Hoppe: Mithilfe von Imaginationsübungen werden diese Zusammenhänge nicht nur kognitiv verstehbar, sondern auch emotional spürbar, was eine unerlässliche Voraussetzung für nachhaltige Veränderung ist. Diese Übungen können angeleitet mit einer dem Buch beigefügten Audio-CD durchgeführt werden.

Sogenannte Stuhldialoge als weitere aktive Übungen helfen dem Leser dabei, diese wichtigen Erkenntnisse zu vertiefen und in aktives Handeln umzusetzen. Darüber hinaus gibt es den Veränderungsprozess unterstützende Übungen, zum Beispiel aus dem Bereich Achtsamkeit.

Worauf ist zu achten?

Julia Arnhold: Wie alle Veränderungen brauchen auch die im Buch beschriebenen Wege den entschiedenen Einsatz von Zeit und Energie und das Commitment, die Wege auch tatsächlich zu gehen. Die von uns aufgezeigten Wege sind nicht einfach, aber sie sind gangbar und sicher.

Manchmal reicht aber auch der volle persönliche Einsatz nicht, weil womöglich zu viele Lebensbereiche bereits beeinträchtigt sind oder neben der Verhaltenssucht noch andere seelische Probleme vorliegen. Dann braucht es einen unmittelbaren Begleiter statt der mittelbaren Begleitung durch uns Autorinnen. Der Ratgeber unterstützt den Leser daher auch dabei festzustellen, ob er weitergehende, über Selbsthilfe hinausgehende Hilfe benötigt und wie er diese findet.

Ihre Botschaft, die Sie den Leser*innen mit auf den Weg geben möchten.

Julia Arnhold: Unsere Botschaft haben wir in einem Zitat von Christian Morgenstern so schön in Worte gefasst gefunden, dass wir diese Zeilen auch dem Buch vorangestellt haben: „Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.“

Hannah Hoppe: Veränderung ist möglich! Und sie ist vielversprechend!

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Über die Autorinnen

Dr. Julia Arnhold ist Verhaltens- und Schematherapeutin in eigener Praxis in Berlin. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

Hannah Hoppe ist Verhaltens- und Schematherapeutin in eigener Praxis in Köln und Leiterin des Schematherapie-Instituts Rhein-Ruhr sowie einer Lehrpraxis für Verhaltenstherapie in Köln.

Die Seele zum Klingen bringen. Unser Besuch in den heiligen Hallen des Tonmeisters von Niederselters

Von Fabienne Berg

Wir alle kommen von dorther, wo es dunkel ist. Von dort, wo wir nicht viel sehen konnten – hören aber umso mehr. Wussten Sie, dass ein ungeborenes Baby bereits ab der 35. Schwangerschaftswoche verschiedene Tonhöhen unterscheiden kann? Schon vor seiner Geburt fängt ein Mensch an, die Rhythmen verschiedener Sprachen zu erkennen. Und noch viel früher lauscht das Ungeborene allen Tönen nach, die von seiner Mutter stammen: ihrer Stimme, ihrem Herzschlag und dem steten Rauschen des Blutkreislaufs.

Bereits als Grundschulkind liebte ich Hörspiele. Es verging kaum ein Abend, an dem ich ohne Hörgeschichte ins Bett zu bekommen war. Kein Wunder also, dass heute all meinen bisher erschienenen Büchern eine CD mit Fantasiereisen oder Imaginationen beiliegt. Und umso größer war auch meine Freude, als der Verlag vor ein paar Jahren sein Audiobuchprogramm mit meinem Resilienzbuch als Piloten gestartet hatte. Mittlerweile sind bereits 13 weitere schöne Junfermann-Bücher vertont worden und damit für Menschen, die aus verschiedensten Gründen gerne ein Buch vorgelesen bekommen, als Audiodownload beim Verlag verfügbar. Ich nehme schwer an, dass weitere Audios folgen werden. Hören liegt im Trend.

Und so folgen viele Coaches und Trainer dem Bedürfnis ihrer Klienten nach „Hörstoff“. Podcasts, Meditationen und Ähnliches gehören mittlerweile zum Angebot im Medienmix vieler professioneller Helfer.

Sabine Frech-Ihrig im Tonstudio

Eine von ihnen ist Sabine Frech-Ihrig. Sie schreibt wie auch ich für das Junfermann-Fachmagazin Praxis Kommunikation, plant ihren Podcast Lebe.Klar.Mutig.Frei. und war zudem auf der Suche nach einer eigenen Meditationsmusik für ihre Seminare. Und weil es hier um Töne, Technik und Klänge ging, war der Inhaber der Tonquelle Selters der richtige Mann dafür.

Das Tonstudio

Ich habe in diesem Studio in den letzten Jahren selbst einige CDs eingesprochen und dabei vor allem zwei Dinge erlebt: ganz viel Spaß und … Umbauarbeiten. Der „Tonmeister“ ist eben ein echter Bastler und Perfektionist. Er verfügt nicht nur über das absolute Gehör und technisches Gewusst-Wie, sondern er liebt es auch, seine schallisolierten Räume und Nebenräume ganz den Klängen und der Musik zu verschreiben. Vom riesigen Verstärker unter der Treppe über Gitarren an den Wänden bis zu Musikerwitzen auf dem Klo ist alles zu finden. Ich bin so gerne dort! Es ist immer wieder inspirierend. – Und nervenaufreibend.

PK-Kollegin Sabine wollte Grillenzirpen und Meeresrauschen, aber keine zu laute Oboe im Hintergrund. Klangvoll ja, aber nicht zu viel Synthesizer. Dem Tonmeister stand schon der Schweiß auf der Stirn und einen Moment später stürzte das komplette Programm ab! Doch anstatt jetzt total durchzudrehen, fragte er in schönstem Hessisch: „Wollt ihr vielläscht erscht oomal n Kaffee?“ Wir guckten uns kurz an und nickten dann ergeben. Kaffee kann ja nicht schaden. Und so führte uns der Tonmeister nicht ohne Stolz in seine kleine Studioküche. Ich erinnere mich: Vor zwei Jahren hingen hier andere Schränke. Bastler eben.

Der Kaffee half. Notfalls wäre auch Sprudel da gewesen (er sitzt ja an der Quelle) und reichlich Bier – mit Ploppverschluss natürlich. Vermutlich wegen des schönen Geräuschs beim Öffnen. Ein echter Ohrenmensch.

Was soll ich sagen. Es hat noch ein ganzes Weilchen gedauert, aber dann zirpten die Grillen im Einklang mit den Wogen des Meeres und Sabine hatte am Mikro schon mal den Opener für ihre

Des Meisters Instrumentarium

erste Podcastfolge „Happy End in deinem Kopfkino“ eingesprochen.

Wann ich mal wieder nach Niederselters komme, weiß ich noch nicht. Aber ich habe so das unbestimmte Gefühl, dass ich den Tonmeister samt seines Studios bestimmt wiedersehen werde.

Bis es soweit ist, lege ich Ihnen unsere Audiobücher ans Herz. Denn: Kaum etwas beherrschen wir so früh in unserem Leben wie das Hören.

Hörbeitrag zu Michael Argyls Standardwerk zur nonverbalen Kommunikation (Radio AFK Max)

Sprache ist ein mächtiges Instrument

Michael Argyles Standardwerk Körpersprache und Kommunikation ist eine breit angelegte Darstellung der nonverbalen Kommunikation, ihrer Phänomene und ihrer Bedeutungen. Der Autor beschreibt, wie nonverbale Mitteilungen in den verschiedensten gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen eine wesentliche Rolle spielen. Dabei werden nicht nur die körpersprachlichen Zeichen selbst behandelt, die meist nicht bewusst wahrgenommen werden, sondern auch Möglichkeiten der praktischen Anwendung in Pädagogik, Therapie und Berufsausbildung aufgezeigt.

Das Buch liegt bei Junfermann in einer neuen Übersetzung vor und wendet sich an psychologische Fachleute und all jene interessierten Leser, die bewusster mit nonverbaler Kommunikation umgehen wollen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sven Grillenberger berichtet in einem Beitrag auf Radio AFK Max, dem Nürnberger Aus- und Fortbildungskanal, was für ein mächtiges Instrument Sprache sein kann und wie sehr das Werk von Michael Argyle ihm bei seiner Arbeit hilft:

 

„Wir sind aufeinander angewiesen, bedürfen immer wieder der Hilfe anderer“

Traumatherapie-Basics anhand des RebiT-Ansatzes

Der Wunsch nach Unterstützung und Orientierung sowohl bei angehenden als auch bei fortgeschrittenen Traumatherapeuten ist groß. Die spezifischen Bedürfnisse der Klienten und die besonderen Erfordernisse im Therapieprozess machen die Traumatherapie zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Dr. Alice Romanus-Ludewig, Ärztliche Psychotherapeutin aus Hannover, vermittelt in ihren Fachseminaren alles Wesentliche über Trauma, Traumatisierungsfolgen und Grundlagen von traumatherapeutischer Behandlung nach dem sogenannten RebiT-Ansatz. Jetzt hat sie diese Inhalte in einem Buch zusammengefasst.

Liebe Frau Romanus-Ludewig, worum geht es in Ihrem Buch?

In meinem Buch geht es um die resilienz- und bindungsorientierte Traumatherapie, kurz: RebiT. Dieser Therapieansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er – auf der Grundlage der allgemein anerkannten Richtlinien für Traumatherapie – besonders praxistauglich gestaltet ist. Er bietet eine klare Struktur, wie man als Therapeut konkret vorgeht. Natürlich bleibt Raum für die Individualität des Praktizierenden und des Klienten. Hat man ein festes Grundgerüst wird es aber leichter, alles Weitere variabel zu halten, ohne den Überblick zu verlieren. Das ist auch für den Klienten wichtig.

Entstanden ist dieser Ansatz aus dem Wunsch und der Notwendigkeit heraus, an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis Umsetzungshilfen zur Verfügung zu stellen. Das Buch bietet also Antworten auf die Fragen, welche Übungen unverzichtbar und essentiell sind. Was sind die „Basics“ (ich nenne sie die „Big Five“) und wozu dienen sie? Und noch detaillierter: Wenn ich eine bestimmte Übung durchführe – wie gehe ich da Schritt für Schritt vor? Besonders bei der Traumadurcharbeitung ist es sehr hilfreich, anhand eines Beispiels mit Erläuterungen einmal den genauen Ablauf zu verinnerlichen. Dabei wird deutlich, worauf es ankommt, was der Kern des Prozesses ist, und auch, welche „Fallstricke“ es zu meiden gilt.

 

Für wen wird dieses Buch interessant sein?

Für alle Therapeuten – ob angehende, fortgeschrittene oder erfahrene –, die sich für Traumatherapie interessieren. Insbesondere für diejenigen, die schon einmal eine Traumatherapie-Weiterbildung gemacht haben oder diese anvisieren. Sie alle finden in diesem Buch einen guten Überblick über die Traumatherapie-Basics anhand des RebiT-Ansatzes.

Aus meiner Arbeit mit Klienten weiß ich, dass auch viele Traumbetroffene händeringend nach Informationen über Trauma, Traumatisierung und Hilfsmöglichkeiten suchen. Gerade weil nicht ausreichend viele Therapieplätze vorhanden sind, suchen viele Wege, sich selbst zu helfen. So werden sicher auch viele Klienten dieses Buch lesen, und ich glaube, dass für sie ebenfalls viele wertvolle Informationen zu finden sind. Sie gewinnen einen Eindruck davon, wie Traumatherapie aussehen kann und was sie erwartet.

Sowohl Therapeuten als auch Betroffenen bietet dieses Buch den Vorteil, dass es „gespickt“ ist mit Beispielen von Klienten und Klientinnen. Dabei habe ich natürlich solche Beispiele ausgewählt, die möglichst nicht „triggern“, aber trotzdem das Entscheidende deutlich machen.

 

Was enthält das Werk?

Sollte ich auf diese Frage so knapp wie möglich antworten, würde ich sagen: Das Buch enthält einen recht komprimierten Abriss der Theorie zu Trauma, Traumafolgstörungen und Traumaphysiologie sowie die Beschreibung der drei Traumatherapiephasen (Stabilisierungsphase, Phase der Traumakonfrontation und Phase der Trauer und Neuorientierung). Bei der Beschreibung der Traumatherapiephasen geht das Buch darauf ein, wie diese Phasen auf der Grundlage des RebiT-Ansatzes aufgebaut sind, welche Grundelemente sie enthalten und wie sie in der Praxis konkret gestaltet werden können. Außerdem enthält das Buch Abbildungen, Tabellen, Fallbeispiele und Übungen, um die Theorie so anschaulich wie möglich zu machen.

Zusätzlich wird sichtbar gemacht, dass einige Elemente aus der Traumatherapie auch für nichttraumafokussierte Therapien äußerst hilfreich sein können. Dies verwundert nicht, denn es gibt natürlich auch Überschneidungen zwischen dem Erleben von Traumabetroffenen und dem Erleben von Klienten mit anderen Diagnosen, wie z.B. Depressionen oder Burnout, oder mit Beziehungskonflikten.

 

Wie ist das Buch aufgebaut?

Das Buch beginnt, nachdem die Entstehung des RebiT-Ansatzes beleuchtet wurde, mit dem Theorieabriss. Darauf folgt der Praxisteil, der sich mit dem Aufbau und Ablauf der verschiedenen Traumatherapiephasen befasst. Hier steht das ganz konkrete Vorgehen im Mittelpunkt sowie viele Praxisbeispiele. Wer schon länger versucht, sein traumatherapeutisches Wissen in die Praxis umzusetzen, und dabei auf typische Schwierigkeiten stößt, erhält hier Hilfestellung.

In einem letzten Teil geht es noch über die Traumatherapie hinaus. Hier können Leser Ideen sammeln, wie sich einzelne traumatherapeutische Elemente auch sehr gewinnbringend für die allgemeine Psychotherapie anwenden lassen. Dies ist auch deshalb interessant, weil sich traumatherapeutische Prozesse oft aus „normalen“ Psychotherapien entwickeln oder nach Durchlaufen der traumatherapiespezifischen Phasen wieder einmünden in allgemeine psychotherapeutische Prozesse. Einige Gedanken und Modelle – z. B. das BEHAVE-Modell – sind ganz allgemein für Veränderungsprozesse anwendbar und hilfreich.

 

Können Sie das an einem Beispiel, etwa an dem BEHAVE-Modell, konkretisieren?

Veränderung macht lebendig und viele Krisen können nur durch die Bereitschaft zur Veränderung bewältigt werden. Eine Psychotherapie zu machen bedeutet, sich dieser Notwendigkeit zu stellen. Das kostet Energie, weil es in unserer menschlichen Natur liegt, am Gewohnten festzuhalten. Um diesen oft auch anstrengenden und herausfordernden Prozess der Veränderung zu bestehen, braucht es manchmal Unterstützung. Bei der Begleitung zahlreicher Veränderungsprozesse von Klienten habe ich festgestellt, dass es immer wieder ganz typische Phasen sind, die durchlaufen werden. Hilfreich kann daher zum Beispiel sein, für sich zu bestimmen, an welcher Stelle im Veränderungsprozess man steht.

Die unterschiedlichen Phasen habe ich im sogenannten BEHAVE-Modell beschrieben:

B – Benennen des Problems

E – Erkennen des Problems

H – Handlungsoptionen neu kreieren

A – Ausprobieren der Handlungsoptionen

V – Verinnerlichen durch Üben

E – Erfolg erkennen, würdigen und genießen, freiwerdende Energie für neue Ziele nutzen

Jede Phase hat ihre ganz besonderen Herausforderungen und es können phasentypische Blockaden auftreten. In der ersten Phase (Benennen des Problems) besteht die Herausforderung darin, möglichst präzise das Problem bzw. den Kern des Problems zu benennen. In der zweiten Phase (Erkennen des Problems) empfinden Klienten oft eine „Verschlimmerung“, weil sie plötzlich entdecken, dass das Problem möglicherweise in mehreren Lebensbereichen auftritt, und ihnen jetzt erst die Dimension und die unterschiedlichen „Gesichter“ des Problems deutlich werden.

Die dritte und vierte Phase des Veränderungsprozesses sind einerseits sehr kreativ, aber auch anstrengend, weil es darum geht, sich neue Verhaltensweisen innerlich vorzustellen, aber diese dann auch ganz konkret im Alltag auszuprobieren. Hier gilt das Prinzip Trial and Error (Versuch und Irrtum): ausprobieren und dann prüfen, ob die gewählte Strategie funktioniert oder nicht. Funktioniert sie, ist Phase fünf dran (Verinnerlichen durch Üben), funktioniert sie nicht, geht es zurück zu Phase drei und neue Handlungsoptionen müssen kreiert werden.

Phase drei und vier sind das Herzstück des Veränderungsprozesses. Die Gefahr ist, in dieser Phase aufzugeben, zum Beispiel weil die erste Veränderungsvariante nicht funktionierte. In einer Psychotherapie ist hier der Therapeut gefragt, Mut zu machen und zu stärken. Menschen, die zwar nicht in einer Therapie sind, aber an ihrer persönlichen Weiterentwicklung arbeiten, müssen sich hier selbst Mut machen.

Ist dann eine funktionierende Lösung gefunden worden, kann es weitergehen mit der fünften Phase, Verinnerlichen durch Üben. Diese Phase des Verinnerlichens kann sehr lange, teilweise Jahre dauern und endet damit, dass das neue Verhalten „in Fleisch und Blut übergegangen“ ist. Auch hier geben manche den Veränderungsprozess vorzeitig auf, weil sie irritiert sind davon, dass das neue Verhalten selbst nach einer ganzen Weile des Übens noch als anstrengend empfunden wird und nach wie vor ein Widerstand vorhanden ist. Dabei ist das gar nicht verwunderlich: Eingeschliffene Verhaltensweisen sind durch Nervenverschaltungen „im Gehirn eingegraben“. Daher braucht Veränderung ganz einfach Zeit, bis neue Verschaltungen aufgebaut sind.

Wenn der Energieaufwand weniger wird, das neue Verhalten also immer öfter „von alleine“ geschieht und irgendwann zumindest teilweise zur „zweiten Natur“ geworden ist, befindet man sich am Ende des Prozesses. Jetzt ist das Feiern des Erfolges ebenso wichtig wie die Anstrengung während des Prozesses. Nur wenn der Veränderungsprozess so bewusst wahrgenommen und gewürdigt wird, stellt er ein enormes Wachstumspotenzial dar. Ein Gelingen steigert das Selbstwertgefühl und setzt so viel Energie frei, dass oft der nächste Veränderungsprozess in Angriff genommen wird.

Worauf ist bei Ihrem Buch zu achten?

Wie schon erwähnt, soll das Buch bzw. der RebiT-Ansatz beides vermitteln: Die Essenzen, die die traumatherapeutische Grundhaltung ausmacht, also die Fokussierung auf Resilienz und Bindung, sowie die Struktur, das Grundgerüst einer Traumatherapie. Ich würde hier von einer Balance sprechen, die bedeutsam ist. Ohne die traumatherapeutische Grundhaltung, welche die Ressourcen des Klienten im Blick hat und eine vertrauensvolle Beziehung als Voraussetzung erkennt, kann keine Bewältigung des Traumas stattfinden. Da helfen weder Techniken noch Struktur!

Doch ohne sinnvolle Struktur und professionelles Vorgehen hilft auch keine noch so resilienz- und bindungsorientierte Grundhaltung. Beides lässt sich nicht gegeneinander ausspielen. Ich wäre sehr zufrieden, wenn das Buch zu dieser Einsicht beitragen könnte.

 

Wie lautet Ihre Botschaft?

„Habt Mut und macht euch daran, Traumatherapie zu lernen und zu üben, es lohnt sich!“ So ähnlich könnte meine Botschaft auf den Punkt gebracht werden. Das klingt banal, aber Tatsache ist, dass so viel traumatherapeutisches Wissen in den Köpfen von Psychotherapeuten ungenutzt bleibt. Das ist angesichts der zahlreichen, bisher nur unzureichend therapeutisch versorgten Traumabetroffenen sehr schade!

Hoffentlich klingt in dem Buch auch durch, dass Traumatherapie für beide Seiten sehr lohnend ist. Dass wir Fachleute durch das empathische Teilhaben an der Erfahrungswelt traumatisierter Menschen erheblichen Belastungen ausgesetzt sind, ist nicht zu leugnen. Doch die Last dieser Menschen ein Stück mitzutragen und zur Bewältigung beizutragen, empfinde ich als eine zutiefst sinnvolle Aufgabe. Sie erinnert mich in heilsamer Weise auch immer wieder an meine eigene Vulnerabilität und die von uns Menschen allgemein. Wir sind aufeinander angewiesen und bedürfen immer wieder der Hilfe anderer, wenn wir uns weiterentwickeln möchten. Ich bin allen Menschen dankbar, die ich bisher begleiten durfte, durch jeden Einzelnen habe auch ich sehr viel gelernt und mich weiterentwickelt.

 

  Über die Autorin

In ihrer Praxis für Psychotherapie, Traumatherapie und Weiterbildung in Hannover behandelt Alice Romanus-Ludewig Einzelpersonen nach dem tiefenpsychologisch fundiertem Therapieansatz. Im dreiteiligen Traumatherapieseminar werden zudem wesentliche Inhalte über Trauma, Traumatisierungsfolgen und Grundlagen von traumatherapeutischer Behandlung an Fachpersonen vermittelt. Das Seminar richtet sich an Therapeuten und Berater, die mit traumatisierten Menschen arbeiten. Grundlage des Seminars ist der RebiT-Ansatz.

Weitere Informationen erhalten Sie hier und unter https://www.winput-hannover.de/

Im Junfermann Verlag erscheint am 24. Mai Ihr Buch Resilienz- und bindungsorientierte Traumatherapie (RebiT). Ein Handbuch.