Von Andrea Landschof
Manch einer mag sich in diesen Tagen fragen, ob seine Talente jemals wieder gebraucht werden. Nicht wenige haben ihren Job verloren oder versuchen ihre Arbeitsstelle unter veränderten Bedingungen zu halten. Sicherlich gibt es auch Branchen und Menschen in der Pandemie, die ihre Talente und Stärken einsetzen können und gewinnbringend und gestärkt durch die Krise kommen. Das Gros der Menschen zweifelt in diesen Zeiten jedoch an den eigenen Kompetenzen. Vieles wird aktuell nicht mehr gebraucht, ist nicht mehr gefragt und verschwindet in der Versenkung. So schildern es mir Klient*innen in den Coachingsitzungen. Menschen in beruflichen Orientierungsprozessen und Schwebezuständen wissen oftmals nicht oder nicht mehr, was ihre Stärken und besonderen Talente sind. – Ein guter Grund, zunächst die bekannten Kompetenzen und Fähigkeiten in das Sichtfeld zurückzuholen. Im zweiten Schritt geht es um das Aufspüren der latenten Talente.
„Ein Talent zeigt sich durch eine frühe und spezifische Ansprechbarkeit, für ein bestimmtes Material, eine bestimmte Aufgabe, eine bestimmte Sache, die wir mit Freude und Leichtigkeit machen“. (Josephine Baker)
Latente Talente sind vorhandene Potenziale, die in uns angelegt sind und im Verborgenen schlummern (latent: unbemerkt, unterschwellig, verdeckt, verhüllt, verschleiert). Sie bestehen aus einer Mischung von genetischen Komponenten, spezifischer Förderung und der Möglichkeit des Einsatzes der Begabung. Talent meint nicht nur außergewöhnliche Leistungen oder Hochbegabungen, sondern sowohl ganz praktische Fertigkeiten als auch die Fähigkeiten des Denkens, Fühlens und Verhaltens. Die Latenz wird aufgehoben, indem sich jemand seiner oder ihrer Potenziale bewusst wird, sie einsetzt und sichtbar werden lässt.
Übertragbare Fähigkeiten
Wie häufig haben Menschen den gut gemeinten Ratschlag erhalten, doch einfach den eigenen Stärken und Talenten zu folgen und sie einzusetzen, dann würden sie schon im richtigen Job landen. Doch genau dieses Wissen der eigenen Talente fehlt Vielen. Sie sind verunsichert und wissen nicht oder nicht mehr, was ihre Stärken und besonderen Talente sind. Sie sind verlorengegangen durch erfahrene Verletzungen im Job; oder aufgrund von jahrelang durchgeführten und als Selbstverständlichkeit, erlebten Tätigkeiten, die keine Anerkennung fanden. Möglicherweise haben sie auch in der Kindheit keine Rolle gespielt, und der jetzige Beruf wurde aus finanziellen Gründen oder aus Loyalität mit dem Elternhaus ausgewählt. Mit der folgenden Anregung kommen wir unseren verborgenen Talenten auf die Spur.
Talentscouting – Anregung zur Selbstreflexion
Eine Besinnung auf das, was Du früher gut konntest und gerne gemacht hast, als auch der Blick auf das, was Du heute gut kannst und gerne machst, ist bei der Spurensuche hilfreich.
Erkunde zunächst frühe Bedeutungsphasen in Deinem Leben und entdecke bisher Ausgeschlossenes neu. Wähle eine Lebenserinnerung rund um Dein 10. Lebensjahr aus, die Dir gerade jetzt in diesem Moment wichtig erscheint und beantworte folgende Fragen:
- Mit wem oder was hast Du Dich als Kind beschäftigt?
- Was fiel Dir leicht in dieser Zeit?
- Woran hattest Du Freude?
- Was hast Du zu dieser Zeit oft gemacht/gespielt?
- Was hast Du zu dieser Zeit gerne gemacht/gespielt?
- Was hast Du zu dieser Zeit besonders gut und gerne gemacht?
- Für was hättest Du gelobt werden können?
Welche Fähigkeiten waren in Deinen Lebenserinnerungen in diesem Alter besonders gefragt? Aktiviere die positiven Anlagen aus Deiner Kindheit und übertrage sie in Dein jetziges Leben. Wichtig ist dabei die Differenzierung zwischen gut und gerne. Ob damals oder heute. Was Du gut kannst, aber nicht gerne machst, solltest Du lassen. Was Du gerne machst, aber noch nicht gut kannst, ist Dein Potenzial und benötigt noch Übung und Praxis. Und was Du gut und gerne machst, kannst Du als Deine Stärke und Talent bezeichnen.
Eine Klientin erzählte mir beispielsweise im Coaching, dass sie gut organisieren konnte, dies aber nicht gerne machte. Als sie von ihrer Kreativität und Lust bei der Gestaltung von Marketingprozessen sprach, war ihre Freude hörbar und bei ihr körperlich sichtbar. Ihr Potenzial in diesem Bereich war also angelegt, und sie hatte bereits Ideen, wie sie ihre Kompetenzen ausbauen und festigen konnte. Was ihr richtig gut gelingt und womit sie bisher gerne ihre Zeit verbringt, ist das Schreiben von Fachartikeln für ihre Firma.
Hast Du aktuell Gelegenheit, Dinge zu tun, die Du besonders gerne und gut machst?
Schau abschließend auf Dein aktuelles berufliches Thema. Gibt es eine Verbindung zwischen den Erinnerungen aus der Kindheit und Deiner aktuellen Situation? Beim Talentscouting kommt es darauf an zwischen den Zeilen zu lesen, Fähigkeiten zu übertragen und einen Transfer herzustellen, der für Dich eine Bedeutung hat. Welche Talente und Stärken von damals kannst Du mit Deinen Jobvorstellungen und Wünschen in Verbindung setzen? Wo werden Deine Talente aktuell gebraucht?
Der letzte Teil der Blogbeitrags-Reihe „Berufliche (Neu-)Orientierung in Krisenzeiten“ erscheint am 18. Juni.
Mehr zum Thema „Latente Talente entdecken“ in: Landschof, Andrea. (2018). Das bin ich!? Verborgene Talente entdecken und Veränderungen gestalten. Paderborn: Junfermann; S. 65-73.
Andrea Landschof, Lehrende Transaktionsanalytikerin, Autorin, Dipl.- Pädagogin, Coach für berufliche (Neu-) Orientierung, Inhaberin vom Beraterwerk Hamburg begleitet seit mehr als 25 Jahren Menschen und Organisationen sicher durch Zeiten von Umbruch und Veränderung.