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Vertrauen Sie darauf, sich selbst helfen zu können

Ende Mai erscheint unser Spitzentitel Emotionale Erste Hilfe. Wie wir mit seelischen Verwundungen im Alltag umgehen können. Wie ein Medizinschränkchen mit Verbandszeug, Salben und Schmerzmitteln, die bei der Behandlung körperlicher Alltagsverletzungen zum Einsatz kommen, möchte dieses Buch eine Hausapotheke für die kleineren seelischen Verletzungen sein, mit denen wir im täglichen Leben konfrontiert sind.

Winch_Guy  Guy Winch, der Autor des Buches, ist Psychotherapeut in eigener Praxis in New York und sehr erfolgreich als Vortragsredner, u.a. für die Organisation TED. In einem Interview spricht er über die Idee zum Buch, über Psychohygiene und emotionale Widerstandsfähigkeit.

 

Die Grundidee Ihres Buches – „Wir können emotionale Wunden ebenso behandeln wie kleinere physische Verletzungen, wir müssen nur lernen wie“ – erscheint so einleuchtend, hilfreich und einfach, dass ich mich frage, warum niemand zuvor auf diese Idee gekommen ist. Woher nahmen Sie die Inspiration zu Ihrem Buch?

Die Patienten in meiner Privatpraxis verbrachten oft ganze Sitzungen damit, relativ unbedeutende Situationen zu besprechen, in denen sie zurückgewiesen wurden, Misserfolge erfahren oder andere emotionale Wunden erlitten hatten. Dabei wurde mir klar, dass sie ihre Gefühle völlig falsch verarbeiteten. Sie kritisierten sich selbst, vermieden gewisse Emotionen, zogen sich zurück oder fühlten sich hilflos. Da ich mich gewöhnlich auf dem neuesten Stand halte, was wissenschaftliche Studien angeht, wusste ich, dass Strategien existierten, mit deren Hilfe sie sich besser fühlen würden. Es verging jedoch eine ganze Weile, bevor ich ernsthaft in Betracht zog, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben, da ich davon ausging, dass jemand anderes dies bereits getan hatte. Ich begann also nach einem solchen Buch zu suchen, konnte aber keines finden. Daraufhin schlug ich meiner Agentin die Idee vor, und auch sie war erstaunt, dass noch niemand daran gedacht hatte. Ich machte mich sofort an die Arbeit.

Emotionale Erste Hilfe befasst sich mit sieben alltäglichen Verletzungen und deren Heilung: Zurückweisung, Einsamkeit, Verlust/Trauma, Schuldgefühle, Grübeln, Niederlage und schwaches Selbstwertgefühl. Welche dieser Verletzungen ist Ihrer Meinung nach am schwierigsten zu heilen?

Ich beginne mein Buch mit dem Kapitel über Zurückweisung, da dies nicht nur die häufigste emotionale Verletzung darstellt, sondern auch die schmerzhafteste. Verlust und Trauma können selbstverständlich um einiges niederschmetternder sein als Zurückweisung, treten aber sehr viel seltener auf. In den Studien zu Zurückweisung, die ich in meinem Buch zitiere, fühlten die Teilnehmer auch dann noch den emotionalen Schmerz, nachdem sie herausgefunden hatten, dass die Verletzung nicht echt war – dass es sich lediglich um einen wissenschaftlichen Mitarbeiter handelte, der die Teilnehmer zurückzuweisen vorgab.

Welche Strategie schlagen Sie für die Behandlung von Zurückweisung vor?

Die Behandlung von Zurückweisung muss auf mehrere Weisen gleichzeitig angegangen werden: Es gilt, nicht nur das „Bluten“ zu stoppen, das durch selbstkritische Gedanken entsteht, sondern auch das Selbstwertgefühl neu aufzubauen und mit Menschen in Kontakt zu treten, die Sie wertschätzen, um das Gefühl dazuzugehören wiederherzustellen. Deshalb erschien es mir überaus wichtig, die genaue Art der mentalen Wunden darzustellen, die wir uns zuziehen, damit der Leser versteht, was er oder sie behandeln muss.

Ihr Buch enthält viele interessante und bewegende Fallbeispiele – vor allem die Geschichte von David, einem behinderten Studenten, der es schafft, seine lebenslange Isolation zu überwinden. Sind Sie der Meinung, dass die eine oder andere Behandlung aus Ihrem Buch immer funktioniert, oder sind Ihnen Menschen bekannt, denen es nicht gelang?

Ähnlich wie Schmerzmittel funktionieren auch die Behandlungsweisen aus meinem Buch nicht zuverlässig bei allen Menschen. Doch indem die Leser verschiedene Behandlungen ausprobieren und so herausfinden, was bei ihnen persönlich wirkt, können sie sich ihr eigenes, persönliches mentales Erste-Hilfe-Schränkchen oder Werkzeugkästchen zusammenstellen. Zudem bauen die Leser durch das Wiederholen der Techniken eine emotionale Widerstandsfähigkeit auf. Ein weiterer wichtiger Vorteil besteht darin, dass die Leser darauf vertrauen, sich selbst helfen zu können, wenn einmal etwas nicht gelingt – auch wenn es für eine Weile schmerzt.


 

Hier können Sie Guy Winch auf der Bühen bei einer TED-Veranstaltung sehen, wo er über Psychohygiene spricht:

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Ich habe gehört, dass Ihr Buch in den USA großen Erfolg genossen hat. Welche Rückmeldungen haben Sie von Ihren amerikanischen Lesern erhalten? Haben ihnen Ihre Behandlungsvorschläge geholfen?

Ich erhalten jeden Tag einige E-Mails und Tweets von Menschen, denen das Buch geholfen hat. Die Rückmeldungen kommen jedoch aus der ganzen Welt, da es in 20 Sprachen übersetzt worden ist. Vor einigen Monaten sandte ich ein Gratisexemplar an eine Person, die mir aus einem Flüchtlingscamp geschrieben hatte. Er schickte mir ein Foto von dem Buch, als es angekommen war. Für mich bestätigt dies nur einmal wieder, wie universell Menschen Gefühle erleben – ungeachtet dessen, woher wir stammen, welcher Kultur oder Ethnie wir angehören oder welchen sozioökonomischen Status wir haben, teilen wir die gleichen emotionalen Reaktionen. In dieser Hinsicht sind wir alle gleich.

Welchen Einfluss auf den deutschsprachigen Raum erhoffen Sie sich von der Übersetzung Ihres Buches?

Ich habe viele E-Mails von Menschen erhalten, die um eine deutsche Übersetzung baten. Deshalb weiß ich, dass Bedarf besteht und die Leser sich darauf freuen. Ich hoffe, dass die deutsche Ausgabe eine breitere, wissenschaftlich fundierte Diskussion über Gefühle und den Umgang mit ihnen anregt. Wir tendieren dazu, zu glauben, dass alles, was unser Verstand uns mitteilt, richtig und wahr ist. Doch wie die Leser meines Buches feststellen werden, führt uns unser Verstand oft in die Irre. Wir müssen verstehen lernen, warum, wann und wie dies geschieht, damit wir nicht auf Weisen reagieren, die uns oder anderen schaden.

Ein sehr optimistischer Unterton durchzieht Emotionale Erste Hilfe – die Hoffnung, dass die Anwendung der von Ihnen propagierten psychohygienischen Praxis zu einem glücklicheren, zufriedeneren Leben führen kann. Sehen Sie Ihr Buch als einen großen Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel?

Absolut. Das war das Ergebnis, das ich mir während des Schreibens erhoffte. Mein TED-Talk (siehe Video oben) hat ebenso zu diesem Ziel beigetragen, da er großen Erfolg hatte und im ersten Jahr mehr als drei Millionen Mal angeschaut wurde. Meiner Meinung nach ist das Priorisieren der psychischen Gesundheit, das Erlernen mentaler Hygiene, das Erreichen besseren emotionalen Wohlergehens und insbesondere die Weitergabe dieses Wissens an Kinder eines der wichtigsten Dinge, die die Menschheit auf der ganzen Welt verbreiten sollte.

Ihr Buch in seiner jetzigen Form wurde bereits im Jahre 2013 veröffentlicht. Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen? Planen Sie, ein zweites Buch zu schreiben, oder sind Sie der Ansicht, mit diesem alles Notwendige niedergeschrieben zu haben?

Ich arbeite an einem neuen Buch, das sich jedoch noch in einem sehr frühen Stadium befindet. Ich spreche sehr oft auf Konferenzen und schreibe regelmäßig Beiträge für psychologytoday.com. Zusätzlich arbeite in an einer App, die auf meinem Buch basiert und dieses Jahr herauskommen wird – wahrscheinlich auch auf Deutsch. Darüber hinaus stelle ich gerade ein Science-Fiction-Jugendbuch fertig, das eine Zukunft schildert, in der Wissenschaftler die Arbeitsweise unseres Gehirns vollkommen entschlüsselt haben und die Menschen daher emotional sehr viel höher entwickelt sind. Es geschehen also gerade sehr viele spannende Dinge in meinem Leben.

Vielen Dank!

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Das Interview führte Dr. Stephan Dietrich.

Übersetzerin: Julia Welling

Was bedeutet Scheitern?

Mit Misserfolgen und Rückschlägen leben lernen

Von Prof. Dr. Jutta Heller

Niemand scheitert gern – ohne Scheitern kommt aber keiner durchs Leben. Ist es nicht an der Zeit zu lernen, wie wir besser damit umgehen können?

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Prof. Dr. Jutta Heller in einem Vortrag zu Scheitern und Resilienz: „Zusammengehörigkeit im Scheitern”

Sportjournalisten verwenden das Wort „scheitern” scheinbar routiniert in ihren Artikeln: Im Jahr 2015 ist beispielsweise nicht nur der FC Bayern München an Barcelona „gescheitert“ (www.focus.de vom 13.05.15), sondern auch Schalke 04 an sich selbst (www.derwesten.de vom 12.04.15). Hamburg scheiterte mit seiner Bewerbung für die Ruder-WM 2019, und die Hamburger Olympia-Befürworter sowieso. Im Sport braucht es also nicht viel, um gleich als „gescheitert“ zu gelten. Ganz so schnell wird das Label in der Wirtschaft oder im Privaten nicht verpasst, aber dennoch: Wenn Sie mal ganz ehrlich mit sich sind – haben Sie selbst auch solche Projekte? Die für Sie ein Scheitern darstellen, weil sie einfach nicht mehr „auf einen grünen Zweig“ zu bringen sind, und die Sie noch nicht als „Erfahrung“ abhaken können? Denn das ist ja ein ganz wichtiger Punkt am Scheitern: Sobald wir es akzeptiert und verarbeitet haben, empfinden wir es nicht mehr als solches.

Wirtschaftliches und persönliches Scheitern ist noch immer ein Tabuthema. Zwar ist es in letzter Zeit etwas „gesellschaftsfähiger“ geworden – nicht zuletzt durch erfolgreiche Bücher wie Gescheiter scheitern (Burmeister und Steinhilper, 2011), Berichte in diversen Zeitschriften zu gemeisterten Krisen oder das Durchführen sogenannter „Fail Nights“ (siehe unten). Es wird aber noch immer, im Gegensatz zum Erfolg, „für sich“ behalten. Dabei ist es ein so wichtiges und zentrales Thema, das uns alle betrifft. Manche früher, manche später, manche öfter und manche seltener, aber ganz ohne die Erfahrung, auch einmal gescheitert zu sein, kommt niemand durchs (Berufs-)Leben.

Das Scheitern feiern?

In den Fail Nights erzählen Menschen in einem kathartisch wirkenden Auftritt vor einem großen Publikum von ihrem Scheitern und werden dafür gefeiert. Dabei fällt oft der Name Max Levchin. Ich wünschte mir, dass Scheitern immer so ablaufen würde wie bei ihm. Max Levchin, Mitgründer von PayPal, erzählt von seinen Misserfolgen so: „Das erste Unternehmen, das ich gegründet habe, ist mit einem großen Knall gescheitert. Das zweite Unternehmen ist ein bisschen weniger schlimm gescheitert, das dritte ist auch anständig gescheitert, aber das war irgendwie okay. Ich habe mich rasch erholt, und das vierte Unternehmen überlebte bereits. Nummer fünf war dann PayPal“ (Quelle: brandeins 11/2014).

Für Levchin ist sein Scheitern inzwischen nicht viel mehr als eine Anekdote auf dem Weg zum Gründer eines der erfolgreichsten Internet-Unternehmen.

Verantwortung übernehmen

Aber es geht nicht darum, Scheitern so umzudeuten, dass es in die eigene Erfolgsgeschichte passt. Es geht darum, die Verantwortung für das Scheitern zu übernehmen, den eigenen Anteil am gescheiterten Projekt anzuerkennen und den der anderen – und an dem Gefühl, gescheitert zu sein, nicht zu zerbrechen. Gerade im Berufsleben definieren wir uns oft über das Ergebnis anstatt über unseren Einsatz, und leider werden wir auch von außen oft daran gemessen. Da kann es einen schon aus der Bahn werfen, wenn ein wichtiges Projekt misslingt – gerade wenn das auch noch öffentlich, vor dem eigenen Team, Kolleg(inn)en oder Kund(inn)en passiert.

Der Wirtschaftspsychologe Jörg Bauer von der Hochschule Fresenius hat in einer Studie die Reaktionen auf eine extreme Erfahrung des Scheiterns untersucht, nämlich wie Topmanager reagieren, wenn sie gekündigt werden. Er konnte vier Phasen der psychischen Verarbeitung unterscheiden. Die erste Phase ist der „Blitz und Absturz“: Der Manager ahnt bereits, dass ihm das Ende seines Arbeitsverhältnisses bevorsteht, will dies aber noch nicht wahrhaben. In der zweiten Phase „Ruhe vor dem Sturm“ sind die Verbitterung über die erfahrene Ungerechtigkeit und die Überzeugung, bald alles wieder im Griff zu haben, vorherrschend. Erst in der dritten Phase, „Der lange Regen“, kommt für die ehemaligen Topmanager die harte Erkenntnis, dass sich die Jobsuche trotz vorheriger herausragender Leistungen und guter geschäftlicher Beziehungen schwierig gestalten wird. Phase vier – „Die Wolken brechen auf“ – beschreibt den Weg aus der Krise, wenn eine Neuorientierung und eine Versöhnung mit dem eigenen Scheitern stattfinden.

Eine heftige Reaktion auf das Scheitern ist normal und wohl unvermeidlich. Wie können wir aber mit unserem Scheitern umgehen, um nicht persönlichen Schaden daran zu nehmen? Wenn wir es schaffen, uns selbst zu verzeihen, uns nach der negativen Erfahrung noch zu schätzen und zu vertrauen, dann kann so ein Misserfolg unsere Selbstwirksamkeit enorm stärken. Dann können wir nämlich potentiellen zukünftigen Situationen, in denen etwas missrät, gelassener entgegenblicken, weil wir sicher wissen: Ich kriege es hin, danach wieder aufzustehen und weiterzumachen. Dann haben wir für die Zukunft eine wertvolle Ressource mehr: eine gestärkte Resilienz (lesen Sie hier mehr zum Konzept der Resilienz).

Verantwortung heißt auch Eigenverantwortung

Misserfolge sind extreme Lebenserfahrungen. Und gerade im Angesicht eines scheinbar übergroßen, unlösbaren Problems oder eines gescheiterten Projekts wird es Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Nun haben gerade reflektierte, erfolgreiche Menschen, Führungskräfte und andere, die wichtige Entscheidungen treffen müssen, meist nicht das Problem, dass sie die Verantwortung für alle Fehlentscheidungen zu leicht von sich weisen. Ganz im Gegenteil: Der selbst gemachte Druck, für alles alleine verantwortlich zu sein, trägt sogar noch erheblich zum Gefühl des Gescheitertseins bei. Was wir dabei leicht ignorieren: Wir haben auch eine Verantwortung uns selbst gegenüber! Eigen-Verantwortung ist ein wichtiger Schlüssel zur Resilienz und bedeutet, dass wir erst einmal dafür sorgen müssen, funktionsfähig zu bleiben oder wieder zu werden – im Beruf, aber auch im Privatleben. (Im Übrigen: Lässt sich das überhaupt so genau trennen? Wenn es uns schlechtgeht, wird meist beides zum anstrengenden Kampfschauplatz.)

Misserfolge und große Krisen können uns so weit blockieren, dass wir selbst unsere elementaren Bedürfnisse vernachlässigen: essen, trinken, schlafen, Bewegung, soziale Bindung. Solche Erfahrungen werfen uns aus der Bahn, wir werden (zunächst) handlungsunfähig. In ihrem emotionalen Verlauf sind heftige Rückschläge mit traumatischen Erlebnissen vergleichbar, wenn natürlich auch in einer anderen Größenordnung. Deswegen begegnen wir solchen Situationen am besten mit einem der Traumatherapie entliehenen „Erste-Hilfe-Paket“: Zuerst müssen wir uns stabilisieren, bevor wir die Erfahrung bearbeiten und letztendlich integrieren können. Stabilisieren kann im Moment einer schweren Krise bedeuten, sich Routinen zu schaffen, die Sicherheit und Halt geben. Jeden Tag zur selben Zeit aufstehen, jeden Tag zur Arbeit gehen, jeden Abend einen heißen Tee mit Honig trinken – das gibt einen äußeren Rahmen, an dem wir uns orientieren können, und nimmt uns die Last zusätzlicher Entscheidungen. Menschen sind verschieden, manche brauchen in dieser Zeit der Stabilisierung viel Kontakt zu anderen, um die Erfahrung in Gesprächen zu reflektieren oder sich einfach abzulenken. Andere igeln sich ein, brauchen vor allem Ruhe und Geborgenheit in einem vertrauten Zuhause. Gönnen Sie es sich, Ihren Bedürfnissen in dieser Situation nachzugeben! Wichtig dabei ist, sich bewusst zu sein, dass diese Phase nicht Resignation oder „Aufgeben“ bedeutet, sondern den ersten Schritt auf dem Weg zur Verarbeitung Ihres Scheiterns markiert. Erst mit etwas Abstand kann dann das erste Nachdenken, das Überprüfen der gemachten Erfahrung gelingen. Im Nachhinein betrachten viele Menschen die Erfahrungen ihres Scheiterns als wichtig und wertvoll, weil sie etwas daraus gelernt haben oder weil es eine entscheidende Weichenstellung für eine positive Entwicklung war – siehe Max Levchin mit PayPal. Und so manches Mal zeigt uns ein Scheitern sogar auf, dass wir stärker sind als gedacht, und führt dazu, dass wir beim nächsten Mal mutiger und gelassener agieren. Wir können nämlich nicht immer beeinflussen, was uns geschieht, aber es liegt in unserer eigenen Verantwortung, wie wir das Geschehen wahrnehmen, bewerten und darauf reagieren.

„Es ist niemals die Umgebung; es sind niemals die Ereignisse in unserem Leben, sondern die Bedeutung, die wir damit verknüpfen – wie wir sie interpretieren – das entscheidet darüber, wer wir heute sind und wer wir morgen sein werden.“

(Tony Robbins)

 

  Über die Autorin:

Prof. Dr. Jutta Heller steht für „Resilienz“, dem Fachbegriff für innere Stärke. Die Dinge akzeptieren, wie sie sind, Eigenverantwortung übernehmen, seelische Widerstandskraft entwickeln: Das sind die Kernelemente ihres überzeugenden Konzepts, mit dem sie seit über 25 Jahren Menschen aus den unterschiedlichsten Kontexten zu ihren mentalen Ressourcen führt. Neben ihrer selbständigen Beratungstätigkeit ist sie Professorin für Training & Business Coaching in der wirtschaftspsychologischen Fakultät an der Hochschule für angewandtes Management Erding. Prof. Dr. Heller ist auch Organisatorin des jährlichen Coaching-Kongresses in Erding.

Seit 2015 gibt Prof. Heller ihre Expertise in einer Zertifikatsausbildung weiter. Die Ausbildung umfasst u.a. Grundlagen zu Resilienz, Tests und Resilienzmodelle, individuelle Resilienz (zu diesem Bereich gehört die in diesem Beitrag behandelte Eigenverantwortung), organisationale Resilienz und Konzepte für Coaching, Training und Gesundheitsmanagement.

Mehr Informationen erhalten Sie unter www.juttaheller.de

 

Resilienz – Licht in unserer Seele

Von Fabienne Berg

Stellen Sie sich vor, Sie stehen wochentags am Abend in der Küche und sind gerade dabei, Tomaten für eine Soße klein zu schneiden. Die Spagetti sind bereits im Topf und im Hintergrund verliest ein Radiosprecher die Katastrophen aus aller Welt.

Plötzlich geht über Ihnen die Deckenlampe aus. Der Nachrichtensprecher verstummt mitten im Satz und der Kühlschrank hört auf zu brummen. Stromausfall. Ausgerechnet jetzt! Aber kein Wunder – heute war schon den ganzen Tag der Wurm drin: Ärger bei der Arbeit, Stau auf der Autobahn, eine Nachzahlung im Briefkasten und jetzt scheint es noch nicht einmal mit dem Abendessen zu klappen.

Sie verharren einen Augenblick und lauschen in die Dunkelheit. Aber außer dem Pfeifen des Windes, der den Novemberregen gegen die Fensterscheiben treibt und Ihrem eigenen Herzschlag ist nichts zu hören. Dann denken Sie an das Naheliegende. Irgendwo hier in den Schubläden müssten Teelichter und ein Feuerzeug sein. Aha. Gefunden! Sie zünden ein Teelicht an und gehen zum Sicherungskasten. Doch da scheint alles in Ordnung zu sein. Vermutlich ist die ganze Straße, wenn nicht sogar das ganze Viertel betroffen. Sie beschließen, während Sie mit dem Teelicht in der Hand durch den Flur in Richtung Badezimmer tappen, das heutige Datum unter der Kategorie „Nicht mein Tag“ abzuhaken und ins Bett zu gehen. Doch kurz vor der Badezimmertür gibt die kleine Flamme ihren Geist auf und der Docht erlischt.

Na, toll. Sie machen vorsichtig wieder kehrt und tasten sich zurück in Richtung Küche. Küchentüre öffnen, Schublade finden und ein neues Teelicht anzünden. Besser zwei. Sicher ist sicher. Also drei. Das sieht schön aus! Vier. Das macht Spaß, ist fast wie Weihnachten. Apropos: Wo ist eigentlich die hübsche Kerze, die Sie letztes Jahr geschenkt bekommen haben? Sie machen sich im Wohnzimmer auf die Suche. Die Kerze finden Sie nicht. Dafür eine Postkarte aus Lissabon, die Ihnen eine alte Schulfreundin im Sommer geschickt hatte. Was die wohl macht? Sie legen die Karte auf den Wohnzimmertisch und suchen nach weiteren Kerzen. Eine viertel Stunde später leuchtet das ganze Wohnzimmer. Schön sieht das aus und der Raum fühlt sich irgendwie ganz warm an. Sie machen es sich auf der Couch bequem und nehmen die Postkarte in die Hand. Als Motiv hat der Fotograf das Castelo de Sao Jorge gewählt. In natura ist es steinfarben. Jetzt im Kerzenschein schimmert es golden.

Sie versuchen sich zu erinnern. Hatten Sie sich eigentlich für die Karte bedankt? Nein. Warum eigentlich nicht? Vermutlich war wie meistens zu viel los gewesen und die Karte ist irgendwie untergegangen. Ihr Handy liegt neben Ihnen auf dem Tisch. Ihre Freundin nimmt nach dem dritten Läuten ab und freut sich total über Ihren Anruf. Sie führen ein sehr nettes Gespräch. Später wählen Sie noch eine Nummer. Die vom Lieferservice eines portugiesischen Restaurants. Ihre Freundin hat Ihnen ein Gericht empfohlen und der Fisch schmeckt wirklich großartig.

Und noch etwas später kommt Ihnen die Idee, bei Ihrer Nachbarin nachzufragen, ob alles in Ordnung ist. Normalerweise haben Sie sich nicht so viel zu sagen. Und wenn ja, dann geht es meistens darum, dass Sie Ihr Auto aus der Einfahrt wegparken sollen oder die Nachbarin bemängelt, dass Sie gelegentlich vergessen die Haustür abends abzuschließen. Komisch, dass Sie gerade jetzt an sie denken müssen. Und noch merkwürdiger, dass die alte Dame ganz aus dem Häuschen ist, als Sie sich nach ihr erkundigen. Offenbar passiert ihr das nicht so häufig.

Möglicherweise kommen Ihnen noch ganz andere Ideen, wie Sie den Abend ohne Strom verbringen. Vielleicht nehmen Sie bei Kerzenschein ein duftendes Schaumbad oder laden jemanden zu sich ein. Oder etwas ganz anderes. Etwas später, kurz bevor Sie schlafen gehen wollen, geht auf einmal das Licht in der Küche und im Flur an. Der Kühlschrank fängt nach einem verschluckenden Geräusch wieder an zu brummen und im Radio spielen sie gerade einen alten Song, den Sie über alles lieben. Sie gehen noch einmal ins Wohnzimmer und blicken auf das flackernde Kerzenmeer. Auf dem Tisch liegen die Postkarte aus Lissabon, zwei leere Schachteln vom Portugiesen und daneben steht eine Flasche Pfälzer Wein. Den wollte Ihnen Ihre Nachbarin unbedingt mitgeben, weil sie sich so sehr über Ihren Besuch gefreut hat.

Dieser Abend wird Ihnen noch Jahre später in Erinnerung sein. Nicht so sehr als der Abend, an dem bei Ihnen der Strom ausfiel; vielmehr als jener besondere Abend, an dem Sie sich dafür entschieden haben, ein Licht anzuzünden.

Wenn es Zeiten in unserem Leben gibt, in denen wir das Gefühl haben, dass um uns herum alles dunkel ist, so kann ein noch so kleines Licht viel bewirken.

Wenn wir uns allein und traurig fühlen, kann uns ein einziger mitfühlender Satz wie ein Leuchten in der Dunkelheit sein.

Und wenn wir seelisch frieren, kann uns der Gedanke an ein Licht der Hoffnung innerlich wärmen und uns neuen Mut schenken.

Zwei Lichter oder besser drei oder vier besitzen die Kraft, die Dunkelheit zu vertreiben und unsere Situation in einem ganz neuen Licht zu betrachten.

Dieses neue Licht kann uns Handlungsspielräume und Möglichkeiten eröffnen, an die wir bislang vielleicht noch nie gedacht hatten.

Nichts anderes ist Resilienz.

Resilienz bedeutet, da ein Licht zu entzünden, wo es dunkel bei uns ist.

Resilienz bedeutet, darauf zu vertrauen, dass es Lösungen für unsere Schwierigkeiten gibt und diese Haltung kann uns dabei helfen, den Lösungen Schritt für Schritt näher zu kommen.

Resilienz ist die Verbindung aus positiver innerer Einstellung und praktischer Handlungskompetenz. Wir akzeptieren, was nicht geht; suchen nach Lösungen, statt zu klagen; lassen los, was uns schadet; schlagen neue Wege ein, wo alte versagen und gehen optimistisch unseren Weg, anstatt uns zu sehr auf das Negative zu konzentrieren und es dadurch über Gebühr mächtig werden zu lassen.

Nach einem Stromausfall geht gewöhnlich irgendwann das Licht auch wieder an. Nicht von allein, sondern weil die Stadtwerke den Fehler behoben haben. Auch das Leben geht irgendwie immer weiter. Doch dafür, wie es uns dabei geht, ist ganz entscheidend, wie wir unser Leben empfinden. Normalerweise wird nicht wie von Zauberhand das Licht wieder angeknipst, wenn wir das Leben als dunkel und kalt wahrnehmen. Damit wir das Leben als hell, warm und glücklich empfinden, braucht es ein Licht in uns selbst. Ein Licht, das unsere Seele wärmt; ein inneres Feuer, das uns Motor ist für unsere Träume und Wünsche und das uns immer weitermachen lässt.

In uns allen gibt es dieses Licht.

Es kann von innen entzündet und von außen inspiriert und berührt werden.

Das Leben ist voll von Ereignissen, die wir weder vorausahnen noch beeinflussen können. Schlimme Erlebnisse, die uns mit voller Wucht treffen, können und schmerzen, genauso wie die schönen Situationen und Augenblicke, die uns für immer im Gedächtnis bleiben.

Diese schönen Momente gilt es wahrzunehmen und sich von ihnen inspirieren und berühren zu lassen. Sie können uns dabei helfen, das Licht unserer Seele immer intensiver und wahrhaftiger zum Leuchten zu bringen.

Und wenn dann irgendwann mal wieder der Strom ausfällt, wird es nie wirklich dunkel sein.

Leben mit oder nach der Diagnose Krebs

Von Tag zu Tag

Von Sigrun Kurz

Die Diagnose einer schweren Erkrankung wie Krebs bedeutet fast immer eine schwere Erschütterung im Leben eines Menschen. Nichts ist mehr so, wie es gestern noch war: eben noch gesund, jetzt lebensbedrohlich erkrankt. Wie soll man damit leben? Mit der Bedrohung? Mit so viel Angst? Mit der Verzweiflung? Mit der Unsicherheit?

Lebensfragen

Krebs beinhaltet Fragen an das Leben schlechthin. Zu Beginn der Erkrankung kreist erst einmal alles darum, überhaupt zu überleben. Die moderne Medizin mit all ihren Möglichkeiten ist gefragt. Wir können sie unterstützen, indem wir unsere Selbstheilungskräfte stärken und Hoffnung und Vertrauen in unsere Lebenskraft entwickeln. Da ist es manchmal schon hilfreich, wenn wir uns bewusst machen, was wir – auch körperlich – schon alles bewältigt und geleistet haben. Wenn all das gelungen ist, gelingt es jetzt vielleicht auch.

Wenn von Krebs die Rede ist, denken viele Menschen sofort an Tod und Sterben, seltener an Leben und Überleben. Genau das aber ist die wichtigere Frage. Wie kann ich mit Krebs gut leben und gut überleben?

Gute Überlebenschancen

Wenn wir die internationalen Forschungsdaten ansehen, ist das die alltägliche Frage, um die es Tag für Tag für die meisten Betroffenen tatsächlich geht. Denn auch mit einer Krebserkrankung leben heute immer mehr Menschen, und das oft sehr viele Jahre. Natürlich variiert diese Prognose je nach Tumorart und Diagnosezeitpunkt, aber die Zahlen des Robert-Koch-Instituts belegen es eindeutig: Die Fünf-Jahres-Überlebensraten von Krebspatienten steigen immer weiter. Und die Ergebnisse einer europaweiten Studie liefern eine eindrückliche Bestätigung. Danach überlebten 2007 in Deutschland beispielsweise etwa 84 Prozent der Frauen mit Brustkrebs und ungefähr 89 Prozent der Männer mit Prostatakrebs die Fünf-Jahres-Grenze. Und viele davon leben natürlich auch noch lange darüber hinaus. Wenn man von ungefähr 500.000 Krebs-Neuerkrankungen jährlich in Deutschland ausgeht, wird deutlich, dass es inzwischen Hunderttausende von Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die tagtäglich genau das leisten: Leben mit oder nach Krebs.

Diese Zahlen sind natürlich sehr beeindruckend und ermutigend. Aber sie machen die Problematik für jede einzelne erkrankte Person nur bedingt kleiner. Schließlich weiß niemand, ob er oder sie – auch bei allerbesten Wahrscheinlichkeitsvorhersagen – zu der großen Mehrheit derer gehört, die es schaffen oder nicht. Statistiken erlauben nur eine Aussage für das gesamte Kollektiv; sie geben Wahrscheinlichkeiten. Sie sagen aber letztlich nichts über den tatsächlichen individuellen Verlauf. Diese Unsicherheit bleibt jeder einzelnen betroffenen Person und muss über lange Zeit immer wieder neu bewältigt werden – eine erhebliche psychische Belastung. Sie kommt hinzu zu all den Beschwernissen der Erkrankung selbst und den Behandlungen wie Operation, Chemotherapie, Bestrahlung, medikamentöse Therapien und den Behandlungsfolgen. Dieses Gesamtpaket von Belastungen ist eine große Aufgabe, die es zu meistern gilt.

Erinnerung an die Endlichkeit

Die Krebserkrankung macht uns damit etwas bewusst, was wir im Alltag zwar alle wissen, aber gerne beiseiteschieben und am liebsten vergessen: Das Leben ist verletzlich und begrenzt. Wir wissen alle, dass wir irgendwann von dieser Welt gehen müssen, aber niemand weiß, wann der Zeitpunkt ist. Das gilt für alle Menschen: Kranke und Gesunde. Insofern stellt uns die Krebserkrankung nicht tatsächlich vor neue Fragen; sie macht uns die Kernfragen des Lebens nur messerscharf bewusst und präsent: Wie gestalte ich mein Leben? Wie gelingt es mir, gut zu leben? Was ist mir wichtig und was nicht? Was ist mein Weg in diesem Leben?

Mit der Krankheit leben lernen

So ist Krebs immer auch eine Frage an das Wie in unserem Leben. Schon bald geht es nicht mehr nur darum, ob wir überleben, sondern darum, möglichst gut zu überleben. Das ist die Frage nach der Lebensqualität. Jetzt beginnt die große Aufgabe, die Krebserkrankung in das alltägliche heutige Leben zu integrieren. Es nutzt nichts, damit zu hadern, dass ich die Erkrankung habe oder hatte. Ich muss mich entscheiden: Will ich lernen mit ihr und den Auswirkungen und vielleicht auch Einschränkungen zu leben und das möglichst gut? Oder will ich zulassen, dass ich mir mit Grübeln und düsteren Gedanken das Heute schwermache – schwerer als es ist. Dann würde ich mir selbst ein Stückchen von dem Leben, was möglich wäre, nehmen.

Krebs ist eine Lebenskerbe, so wie es so einige Kerben und Einschnitte in jedem Leben gibt. Das Entscheidende ist die Art, wie wir damit umgehen. Wir können die Einschnitte und Verletzungen beklagen, bejammern, begrübeln. Oder wir können lernen, sie neu zu füllen mit guten Inhalten. Und dazu gehören die Fragen: Was gibt meinem Leben Sinn? Was erfüllt mich? Wofür kann ich mich begeistern? Was bewegt mich? Was ist mir wirklich wichtig?

Der Einfluss der Gedanken

Ein entscheidender Faktor für diese Bewältigungsaufgabe sind unsere Gedanken und unsere Bewertungen. Sie entscheiden ganz wesentlich mit darüber, wie wir uns fühlen. Wenn ich mich ständig in einem gedanklichen „oh wie schrecklich“ bewege, werde ich mich auch schrecklich fühlen, bedrückt, deprimiert. Und dieses miserable Gefühl wird einhergehen mit entsprechend schlechter körperlicher Befindlichkeit. Wenn ich hingegen Platz einräume für Gedanken wie „Was geht trotzdem?“ oder „Ich will das Heute auskosten, so gut es geht“, kann ich gegensteuern; die Gefühle stabilisieren sich und auch dem Körper geht es besser. Unsere Gedankenwelt hat einen großen Einfluss auf unser Befinden. Diese stärkende Sichtweise ist nicht selbstverständlich. Wir müssen sie üben – aber unser Gehirn lernt schnell. Je öfter wir diese freundlichen Gedanken benutzen, umso mehr werden sie neuronal vernetzt und damit gefestigt, und unser Gehirn bevorzugt die gut trainierten Gedankengänge. Wir müssen nur die richtigen Bahnen legen.

Selbstfürsorge

Eine weitere Stärkung für das Leben mit der Krankheit ist die Art und Weise, wie ich mit mir selbst umgehe. Wenn ich achtsam, fürsorglich und liebevoll mit mir bin und meine Aufmerksamkeit auf kleine angenehme, wohltuende Aspekte des Heute lenke, werde ich mich besser fühlen. Dann bin ich gut versorgt und (von mir selbst) geliebt. Wenn ich bewusst für die Gegenwart lebe, erfahre ich ein erfülltes Heute. Das gibt mir morgen gute Erinnerungen. Und gute Erinnerungen an das Gestern sind Stärkung für jetzt und heute. Daraus ziehen wir Kraft und Zuversicht für morgen und die Zukunft. Also lohnt es sich, zu überlegen, was mir heute gut tut, was mir Kraft gibt (ohne mich zu verausgaben), und es auch umzusetzen.

Leben mit dem Sonnenblumenprinzip

Niemand weiß, was morgen kommt, die Zukunft ist uns allen letztlich unbekannt, aber das Jetzt und Heute – das erleben wir gerade. Und das gestalten wir selber mit. Also: Gestalten wir es doch so gut und erfüllt wie irgend möglich. Genau dies besagt das Sonnenblumenprinzip. Genau wie diese großen und kraftvollen Blumen, die sich im Tagesverlauf immer dem Licht zuwenden und ihm folgen, so haben auch wir die Möglichkeit, für Stärkung und vielleicht sogar Aufblühen zu sorgen. Wir müssen es nur genauso machen: dem Licht zuwenden, dem was uns Wärme gibt und uns kräftigt. Und das sind oft ganz kleine Dinge: ein Lächeln, eine freundliche Geste, eine angenehme Melodie, der Duft einer Blüte, ein Streicheln, ein Foto, vielleicht sogar nur eine Farbe, das Sonnenlicht oder auch ein Regentropfen im Gesicht. All das sagt mir: Ich lebe! Und das ist wunderbar.

Auch wenn unser Körper vielleicht eingeschränkt oder reduziert ist, die Welt unserer Vorstellungskraft steht uns voll zur Verfügung. So ist es für viele Menschen gerade bei Krankheit, Schmerz und schlechter körperlicher Verfassung eine Möglichkeit, mit der Hypnose in die Welt der Phantasie zu reisen. Dort können wir uns trösten und stärken, uns aufbauen oder einfach auch nur erholen. So können wir uns selbst in Eigenregie immer wieder Sonnenstrahlen in die Tage und Nächte holen.

Ein guter Start in den Tag

Es hat sich für viele Betroffene sehr bewährt, jeden Tag mit einer Mini-Trance zu beginnen: ein innerer kleiner Ausflug an einen guten stärkenden Ort, vielleicht an den Lieblingsstrand oder in einen wunderschönen Garten, vielleicht zum Regenbogen oder ein erfrischendes Bad im See. Und dazu ein kleines vollständiges Lächeln um Mund und Augen auf das Gesicht legen – manchmal kommt es schon von ganz allein bei der stärkenden schönen Phantasie. Und diese angenehme Vorstellung wird dann verbunden mit einem Leitsatz, einem Motto, wie „Ich sorge für mich“ oder „Ich mach was aus heute“ oder „Mir geht es gut“.

Prinzip der kleinen Schritte

Entscheidend ist es, sich für jeden Tag ganz bewusst kleine positive Dinge vorzunehmen. Das können winzig kleine Aktivitäten sein, aber solche, die mich mit Freude erfüllen. So sind es viele kleine Schritte, die uns stärken. Und kleine Schritte gelingen leichter als große. Der Alltag besteht schließlich auch im Wesentlichen nur aus vielen Kleinigkeiten. Es geht darum, sie wahrzunehmen und zu würdigen und die angenehmen und schönen Momente zu vermehren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt dabei ist: Nicht nur das, was ich bekomme, sondern auch das, was ich gebe, kann mich stärken. Wenn ich etwas zu geben habe, macht mich das für irgendjemand anderen wichtig und wertvoll, und das wiederum erfüllt mich selbst und stärkt mich.

Grundlagen für jedes Leben

All diese Strategien sind natürlich nicht nur für Menschen mit oder nach einer Erkrankung hilfreich. Sie sind universell gültig, auch für Gesunde. Nur jetzt werden sie besonders gebraucht und müssen ganz bewusst eingesetzt werden. Aber sie sind Grundlagen für ein zufriedenes Leben überhaupt. Erkrankungen machen uns die Notwendigkeit nur deutlicher.

Das klingt alles so einfach, aber natürlich ist es manchmal auch ziemlich schwer. Es ist klug, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, beispielsweise in einer psychoonkologischen Beratung oder Behandlung. Denn es sind mitunter tiefgreifende Veränderungen unseres Umgangs mit uns selbst notwendig. Es geht darum, wie es der berühmte Psychoonkologe LeShan ausdrückte, die Melodie des eigenen Lebens zu finden. Und jeder Tag stellt uns wieder neu vor dieselbe Aufgabe, und so können wir sie auch nur erfüllen: Tag für Tag, immer wieder neu.


  Über die Autorin:

Dr. phil. Sigrun Kurz, Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin, arbeitet in eigener Praxis in Bremen. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit schweren körperlichen oder chronischen Erkrankungen, psychosomatischen Störungen und Unfallfolgen.

Im Junfermann Verlag ist von ihr das Buch Verborgene Kräfte wecken. Stärkende Selbsthypnose bei Krebs erschienen.

Mehr über die Autorin erfahren Sie hier

„Morgen wird alles besser sein“ – Resilienz und positive Traumafolgen

Von Fabienne Berg
Jede Medaille hat zwei Seiten. Auch ein Trauma. Natürlich gibt es massive Folgestörungen, unter denen Betroffene lange, manchmal ihr ganzes Leben zu leiden haben. Doch selbst die schrecklichsten Erfahrungen können positive Wendungen im Leben bewirken. Wie das möglich ist, möchte ich zunächst mithilfe einer Geschichte zeigen. Es würde mich freuen, wenn meine anschließenden Gedanken zur Idee des posttraumatischen Wachstums Sie anregen würden, sich mit mir darüber auszutauschen.

 

Peters Geschichte

Peter war bereits schwer krank, als ich zum ersten Mal bei ihm und seiner Familie zum Kaffee eingeladen war. Die Diagnose: Knochenkrebs im Endstadium. Ein Todesurteil. Trotzdem saß Peter aufrecht in seinem Krankenbett und sang fröhliche Lieder. Wir saßen um das Bett herum, aßen selbstgebackenen Kuchen und sangen mit. Einige Monate später erlag Peter im Alter von 86 Jahren seinem Leiden. Auf seiner Beerdigung sangen wir Peters Lieblingslieder. Das war sein Wunsch gewesen. Wir sollten nicht weinen, sondern ihn in glücklicher Erinnerung behalten.

Auch vor seiner schlimmen Erkrankung im hohen Alter war Peters Leben mehr als nur einmal von Grenzsituationen und Todesnähe geprägt gewesen. Wie so viele musste er als junger Mann in den Krieg ziehen und für Nazi-Deutschland kämpfen. Einen Krieg, gegen den Peter bereits in seinen politischen Anfängen einen tiefen Widerwillen verspürte. Sein damaliger Arbeitgeber, eine große staatliche Bank, drängte Peter mehrfach, der NSDAP beizutreten. Peter lehnte ab. Kurze Zeit darauf wurde er zum Wehrdienst eingezogen und nach nur vierwöchiger Ausbildung dem Pionier-Panzer-Bataillon 40 zugeordnet, das an Feldzügen in Holland, Belgien, Frankreich, Polen und an der Schlacht von Stalingrad beteiligt war. Seine Frau und seine kleine Tochter blieben zurück.

 

Stalingrad

Der im August 1942 begonnene Angriff auf Stalingrad führte auf beiden Seiten zu hohen Verlusten. In einer Gegenoffensive der Roten Armee im November 1942 wurden die 6. Armee und Teile der 4. Panzerarmee eingekesselt und weitgehend von jedweder Versorgung abgeschnitten. Hitler befahl mehrfach, Ausbruchsversuche zu unterlassen und die Stellung zu halten. Die meisten von Peters Kameraden, die nicht durch „Feindeshand“ ums Leben kamen, starben an Kälte, Mangelernährung und Krankheiten, die sich unter den Soldaten rasch verbreiteten. Ende Januar 1943 wurden Kapitulationsverhandlungen mit der Roten Armee aufgenommen und die wenigen Überlebenden des Panzer-Bataillons 40 wurden dem Zug der sowjetischen Kriegsgefangenen zugeführt, der Peter endlos erschien. Nahezu 100 000 deutsche Soldaten gingen bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Ungefähr 6000 überlebten diese; einer von ihnen war Peter.

Was Peter während des Krieges und in der daran anschließenden Gefangenschaft an Grausamkeiten und Unmenschlichkeit erleben und mit ansehen musste, lässt sich kaum in Worte fassen. Erst nach seiner Pensionierung war er in der Lage, vorsichtig und sehr allgemein darüber zu sprechen. Über den Krieg selbst, über die ständige Angst vor Gewalt und Tod und die Sorge und die Sehnsucht nach der Familie und dem Frieden.

 

Kriegsgefangenschaft

Eine Begebenheit, die sich während seiner Zeit in sowjetischer Gefangenschaft ereignete, war Peter jedoch in ganz besonderer Erinnerung geblieben.

Wie viele Kriegsgefangenen musste Peter im Steinbruch arbeiten. Die Arbeit war hart, die Versorgung vollkommen unzureichend. Auch hier sah er viele Menschen sterben. An Hunger, Erschöpfung, Selbstmord und Krankheiten. Auf die Frage, wie lange die Gefangenschaft andauern würde, wurde Peter und seinen Mitgefangenen lediglich mitgeteilt, dass sie „so lange gefangen bleiben müssten, bis sie alles wieder aufgebaut hätten, was die Faschisten zerstört hatten“.

Ab und zu eilten sowjetische Frauen am Steinbruch vorbei. Meist bepackt, mit gesenktem Blick und von eigenen Sorgen geplagt. An einem besonders kalten Tag blieb jedoch eine von ihnen am Steinbruch stehen. Sie hatte Mitleid mit den Zwangsarbeitern und steckte Peter und einem Mitgefangenen ein Stück Brot zu. Dabei sagte sie: „Morgen wird alles besser sein“ und eilte weiter. An diesen Satz klammerte sich Peter fortan jeden Tag. Fünf Jahre lang sprach er ihn mehrfach zu sich selbst und versuchte auch den anderen Mitgefangenen Hoffnung zu vermitteln, indem er versicherte, dass bald alles besser würde.

Irgendwann war tatsächlich „morgen“ und Peters Name wurde auf die Liste der Heimkehrer gesetzt.

 

Heimkehr

Als Peter 1948 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, war er schwer krank, vollkommen entkräftet. Und er fühlte sich fremd – seiner Frau gegenüber, seiner Tochter und seiner Heimatstadt, die zu großen Teilen zerstört war.

An großartige ärztliche Versorgung oder gar Psychotherapie war damals nicht zu denken. Nach nur sechs Monaten wurde Peter von einem Amtsarzt gesundgeschrieben und sollte sich bei seinem früheren Arbeitgeber zurückmelden: bei jener Bank, die ihn damals so sehr gedrängt hatte, der Partei beizutreten. In der Geschäftsleitung saßen noch dieselben Männer wie vor dem Krieg: einflussreiche Nazi-Bonzen in feinen Anzügen, die den Krieg nur vom Hörensagen kannten. Höhnisch erklärten sie Peter, dass die letzte freie Stelle an ein ehemaliges Parteimitglied vergeben worden und für ihn „leider“ kein Platz mehr frei sei.

Als Peter uns diese Erinnerung erzählte, fügte er hinzu: „Ich war schockiert und fassungslos. Gleichzeitig fiel es mir wie Schuppen von den Augen und mir wurde klar: So läuft das System. Ich war froh über diese Klarheit, denn so wusste ich, dass ich einen ganz anderen Weg gehen muss.“

 

Engagierter Pädagoge

Den ging er. Konsequent. Von einem Nachbarn hatte Peter gehört, dass händeringend Lehrer gesucht würden, da sehr viele im Krieg gefallen oder nicht mehr arbeitsfähig waren. So kam es, dass Peter sich als Hilfslehrer meldete und an verschiedenen Schulen in ganz unterschiedlichen Fächern eingesetzt wurde.

Das Zusammensein mit den Kindern bereitete ihm große Freude und Peter empfand seine Arbeit als ausgesprochen sinnvoll. Einige Zeit später nahm Peter neben dem Schuldienst ein Studium auf. Er wurde „richtiger“ Lehrer und bildete sich später zum Sonderschulpädagogen weiter. Die Verfolgung geistig und körperlich beeinträchtigter Menschen unter Hitler hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben und ihn lange Zeit nicht losgelassen. Also machte er sich auf, beeinträchtigte Kinder und Jugendliche aus ihrer Isolation heraus in die Schulen zu holen. 1963 wurde er Rektor einer Sonderschule und 1976 mit dem Verdienstorden der BRD für die besondere Förderung von Lernbehinderten ausgezeichnet. Für seine Schüler und deren Eltern war Peter während seiner gesamten Dienstzeit der „liebe Direktor“. Beim Schulamt aber war er „gefürchtet“, da er sich auch entgegen jedweder Sparpolitik hartnäckig stets für die Interessen der Schüler und seine Schulpolitik eingesetzt hatte.

 

Was bedeutet Peters Geschichte?

Ich kenne Peters Familie nun schon seit vielen Jahren. Ihn selbst habe ich nur kurz gekannt. Bei jeder Begegnung erlebte ich ihn als einen ausgesprochen offenen, herzlichen und toleranten Menschen, der immer ein nettes Wort und ein offenes Ohr für alle Menschen in seinem Umfeld hatte.

Seine Geschichte hatte mich beeindruckt und fasziniert, schon lange bevor ich mich mit dem Thema Resilienz auseinanderzusetzen begann. Dieser Mann hatte es nicht nur geschafft, den Krieg und die Gefangenschaft zu überstehen, sondern hatte, um mit Kästner zu sprechen, aus den Steinen, die ihm in den Weg gelegt worden, etwas Schönes gebaut.

Wie war ihm das gelungen? War Peter eine jener Ausnahmepersönlichkeiten, die über weitaus mehr Willensstärke und Durchhaltevermögen verfügen als die meisten von uns? Oder ist seine Geschichte im Kern vielleicht gar nicht so selten?

 

Posttraumatisches Wachstum

In der Psychologie gibt es einen Begriff für diese Art der positiven Traumafolge: posttraumatisches Wachstum. Häufig wird er als eine Art Gegenstück zu den posttraumatischen Belastungsstörungen „gehandelt“. Mit posttraumatischem Wachstum beschreibt man die Folgen eines möglichen positiven inneren Transformatiosprozesses, den traumatisierte Menschen im Zuge der Beschäftigung mit ihrem Trauma durchlaufen und aus dem sie am Ende als gestärkt und gereift hervorgehen. Eine schöne Vorstellung.

Trotzdem wird dem posttraumatischen Wachstum bei weitem nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie den posttraumatischen Störungen. Ich habe mal stichprobenartig nachgefragt: Von 17 Traumabetroffenen, die ich angeschrieben hatte, kannten 17 den Begriff der Belastungsstörungen, aber nur eine wusste etwas mit posttraumatischem Wachstum anzufangen. Schade, wie ich finde.

Und ich frage mich: Wissen vielleicht andere Menschen, die ich nicht direkt befragen konnte, etwas über Wachstum als Traumafolge? Sind Sie mit dem Konzept vertraut? Was meinen Sie dazu?

 

Was mir geholfen hätte

Ich kann nur für mich sprechen, aber mir hätte es damals große Hoffnung und Mut gemacht, wenn mir jemand gesagt hätte, dass es nicht nur Belastungsstörungen, sondern vielleicht auch positive Folgen geben kann. Auch wenn ich darunter zu leiden hätte, nicht so belastbar wie andere Menschen meines Alters zu sein: Später könnte ich mir dennoch meiner Stärken und Prioritäten bewusst werden und würde vielleicht so einen Weg finden, trotz verringerter Belastbarkeit glücklich und berufstätig zu sein.

Bestimmt hätte ich mich auch sehr darüber gefreut, nicht nur etwas über sehr wahrscheinliche Schwierigkeiten zu hören, künftig Vertrauen aufzubauen. Es hätte mir geholfen, um die Möglichkeit zu wissen, langsamer an Beziehungen und Freundschaften heranzugehen und so auf behutsame Weise sehr enge und langjährige Verbindungen einzugehen.

Und ganz sicher wäre es mir im Gedächtnis geblieben, wenn ich gehört hätte, dass ich möglicherweise den kleinen Dingen im Leben und dem Leben selbst in mit einem ganz intensiven Gefühl der Dankbarkeit und Wertschätzung begegnen würde. Durch meine Heilung war mir schließlich das Leben zurückgegeben worden.

Was hätte Ihnen geholfen? Was hätten Sie sich an meiner Stelle gewünscht?

 

Beide Seiten der Medaille sehen

All diese Aspekte können Ausdruck posttraumatischen Wachstums sein. Und selbst wenn nicht alle Punkte auf jeden gleichermaßen zutreffen mögen und auch wenn es daneben Belastungsstörungen gib: Ich finde, es sollten beide Seiten der Medaille, beide Formen möglicher Traumafolgen Beachtung finden. Hoffnung ist ein kostbares Gut. Gerade in Situationen, die schwierig sind und in denen mit raschen positiven Ergebnissen nicht zu rechnen ist. Hätte Peter damals keine Hoffnung mehr in sich gespürt, so hätte er die schlimmste Zeit in seinem Leben nicht überlebt. Weder hätte er eine Sonderschule geleitet und Freude und Sinn darin gefunden, noch hätte er seine Tochter und seine Enkeltöchter aufwachsen sehen und nach 1948 ein ein glückliches Leben führen können.

 

Unsere Seele zu nähren und ihr Hoffnung zu schenken, gerade dann, wenn sie es am nötigsten braucht – nichts anderes ist Resilienz zu üben. Wir verleugnen das Dunkel nicht, aber wir glauben trotzdem an das Licht. Und auch wenn es uns manchmal sehr lange so vorkommt, dass die Dunkelheit größer ist als das Licht, so kann es uns helfen darauf zu vertrauen, dass mit jeder noch so kleinen positiven Entscheidung für unser Leben das Licht immer heller und größer wird und selbst aus der schwärzesten Nacht ein neuer Tag entsteht.

Ein neuer Tag – das ist morgen. Und morgen kann alles schon besser sein.

 

Ich würde mich sehr freuen, weitere Geschichten und Erfahrungen zu hören. Mögen Sie mir etwas mitteilen, vielleicht auch Gedanken zum Thema positive Traumafolgen?

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Fabienne Berg hat Sprach- und Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt außeruniversitäre Erwachsenenbildung studiert. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Traumabewältigung befasst sie sich vor allem mit den Auswirkungen seelischer Verletzungen sowie mit den Zusammenhängen von Heilung und Selbstfindung. Besonders liegt ihr am Herzen, andere Menschen für ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu sensibilisieren und sie auf ihrem Heilungsweg zu unterstützen und zu stärken.

Bei Junfermann sind ihre Bücher Mut, Kraft und Liebe wünsche ich dir  (2012) und Übungsbuch Resilienz (2014) erschienen.

Resilienz – das Schlimme mit dem Guten heilen

Elisabeth war, als ich sie vor über zehn Jahren in einer Beratungseinrichtung kennenlernte, 61 Jahre alt und befand sich damals am gefühlten Tiefpunkt ihres Lebens. Als Kind misshandelt worden, setzte sich die Gewalt durch ihren Mann in ihrer ersten Ehe fort und Elisabeths Leben zog wie ein schlechter Traum all die Jahre an ihr vorbei. Nachdem ihr Mann nach Jahren der Alkoholabhängigkeit gestorben war, brachen die Wunden der älteren und jüngeren Vergangenheit in ihr auf und der Schmerz schien zunächst größer zu sein als ihre Kraft. Nach einem glücklicherweise erfolglosen Suizidversuch und einem daran anschließenden Klinikaufenthalt begann Elisabeth eine Therapie zu machen und sich nach mehr als sechs Jahrzehnten für sich selbst und das Leben zu öffnen.

Als Elisabeth und ich uns kennenlernten, war ich eine junge Frau von 26 Jahren. Ich weiß noch genau, wie traurig ich lange Zeit darüber gewesen war, keine wirkliche Kindheit und Jugend gehabt zu haben. Dennoch konnte ich mich mit der Vorstellung trösten, auch nach der Aufarbeitung meiner Vergangenheit sehr wahrscheinlich noch den größten Teil meines Lebens vor mir zu haben. Wie aber musste sich jemand fühlen, der wie Elisabeth den größeren Teil seiner Lebenszeit bereits hinter sich hatte und diese Zeit alles andere als glücklich gewesen war?

Ich war sehr überrascht über ihre Reaktion auf meine vorsichtige Frage, ob es nicht vielleicht besser für sie gewesen wäre, wenn all der Schmerz nicht hochgekommen wäre.

„Nein! Im Gegenteil! Ich bin so froh darüber. Nun kann ich endlich anfangen zu leben.“ Mit 61 Jahren anfangen zu leben.

Zwei Jahre später erfüllte sich Elisabeth ihren Lebenstraum. Sie verkaufte alles, was sie besaß und kaufte sich ein kleines Haus an der Nordsee. „Weißt du, in der Stadt hatte ich immer das Gefühl zu ersticken. Hier an der See bekomme ich endlich wieder Luft!“

Einige Zeit darauf bekam ich einen Brief von der Nordsee mit einem Foto von Elisabeth, wie sie vor ihrem neuen Haus stand. Sie war kaum wieder zu erkennen – so sehr strahlte sie.

Nach zwei weiteren Jahren bekam ich wieder Post von ihr. Es war eine Einladung – zu Elisabeths Hochzeit! Auf einer Wattwanderung hatte sie die Liebe ihres Lebens kennengelernt. Mit 64! Ich folgte ihrer Einladung – und kann mich nicht entsinnen, je zuvor eine so schöne und so glückliche Braut gesehen zu haben.

Elisabeths Geschichte hatte mich damals tief berührt und mir großen Mut gemacht, auch an meine eigene Heilung zu glauben.

Jahre später, im Zusammenhang mit den Recherchearbeiten für mein Resilienzbuch, hatte ich Elisabeth befragt. Was war es bei ihr gewesen, das sie wieder zurück ins Leben geholt hatte? Sie erzählte mir, dass sie während des Klinikaufenthalts nach ihrem Suizidversuch immer wieder ein bestimmtes Bild gemalt hatte: von einem Haus am Meer. Eine Ärztin in der Klinik und auch andere Patientinnen hatten sie daraufhin auf ihr Bild angesprochen und immer wenn Elisabeth anfing, von dem Haus am Meer zu erzählen, spürte sie in sich so etwas wie ein Aufglimmen von Hoffnung, ein Gefühl von neuem Lebensmut. In vielen Gesprächen und Übungen mit ihrer späteren Therapeutin begann Elisabeth zu verstehen, dass es an ihr lag, ob sich der Traum vom Haus am Meer erfüllen würde oder nicht. Sie lernte, was es heißt, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und wollte alles loslassen, was sie von „ihrem Haus am Meer“ trennte. Also sah sie ihrer Vergangenheit ins Auge: den Schlägen in ihrer Kindheit, den Übergriffen ihres Onkels und dem Horror ihrer ersten Ehe.

„Das war wirklich eine harte Zeit. Ich habe so viel geweint. Und wenn ich dachte, ich schaffe es nicht, dann habe ich das Bild hervorgeholt – von meinem Haus am Meer. Von meinem neuen Leben. Im Grunde vom Leben überhaupt.“

Ohne sich dessen bewusst zu sein, ist Elisabeth auf ihre Art dem Konzept der Resilienz gefolgt: Sie verband sich mit einer Zukunftsvision, die in ihr ein Gefühl des Friedens und des Glücks auslöste und setzte mithilfe ihrer Therapeutin alles daran, dieses Glück wahr werden und die Vergangenheit loszulassen. Sie war kein Opfer mehr; sie war eine Frau, die ihren Weg ging.

Resilienz zu üben bedeutet nicht nur, unsere Seele zu stärken; es bedeutet gleichzeitig auch, dem Leben entgegenzugehen; dem Leben zu vertrauen lernen. Ganz gleich, wie alt wir sind, woher wir kommen und was wir erlebt haben. Vor dem Leben mitsamt seinen Krisen sind wir alle gleich. Ich glaube ganz fest daran, dass wir lernen können dem Leben zu vertrauen. Dass in jedem von uns sozusagen „ein ganz persönliches Haus am Meer“ schlummert. Dass es immer Hoffnung gibt und dass wir das Schlimme mit dem Guten heilen können.

Elisabeth sagte in dem Zusammenhang zu mir: „Ich bin so froh darüber, dass ich jetzt hier bin. Jeder Tag in meinem neuen Leben kommt mir vor wie ein ganzer Monat des Glücks und jeder Monat zählt für ein ganzes Jahr. Wenn man mich am Ende meines Lebens danach fragen sollte, so kann ich sagen, dass ich in viel stärkerem Maße glücklich in meinem Leben war als ich traurig gewesen bin.“

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Fabienne Berg hat Sprach- und Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt außeruniversitäre Erwachsenenbildung studiert. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Traumabewältigung befasst sie sich vor allem mit den Auswirkungen seelischer Verletzungen sowie mit den Zusammenhängen von Heilung und Selbstfindung. Besonders liegt ihr am Herzen, andere Menschen für ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten zu sensibilisieren und sie auf ihrem Heilungsweg zu unterstützen und zu stärken.

Bei Junfermann sind ihre Bücher Mut, Kraft und Liebe wünsche ich dir  (2012) und Übungsbuch Resilienz (2014) erschienen.