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Buch des Monats

Buch des Monats – Februar 2022: „Resilient durchs Studium“ von Rolf Wartenberg

Die Zeit des Studiums bietet Möglichkeiten der Selbstentfaltung, genauso wie sie Rückschläge, Krisen und Belastungen mit sich bringen kann. Um die Möglichkeiten jener Lebensphase voll auszuschöpfen, braucht es Effizienz in guten Zeiten und Resilienz dann, wenn der Druck durch Prüfungen und Leistungsanforderungen steigt oder Rückschläge verkraftet werden müssen. Weiterlesen

Podcast-Folge 30: Apropos … Yoga für die Seele!

Stress, Zeitdruck und überhöhte Erwartungen führen dazu, dass sich immer mehr Menschen überfordert fühlen. Symptome der chronischen Erschöpfung, innere Anspannungszustände bis hin zu depressiven Verstimmungen, Ängsten oder Burnout können die Folge sein. Wie Yoga helfen kann, darum geht es in der neuesten Folge von „Apropos Psychologie!“ mit unserem Gast Dr. Maria Wolke. Weiterlesen

Podcast-Episode 22: Apropos … Glück!

Positive Psychologie ist die Wissenschaft vom gelingenden Leben – und die gute Nachricht vorab: das können wir lernen! Was aber ist ein gelingendes Leben? Was macht uns Menschen wirklich glücklich? Weiterlesen

Podcast-Folge 14: Apropos … Resilienz!

Stark und gelassen, mit einer gesunden Portion Optimismus und einer Prise Heiterkeit. Wer so durch Leben gehen kann, den beneiden wir. Tatsächlich scheinen manche Menschen nicht nur ihren Alltag, sondern auch schwierige Lebenssituationen mit einer bewundernswerten Leichtigkeit zu bewältigen. Woher nehmen sie diese Ausgeglichenheit und Gefasstheit? Wie schaffen sie es, sogar schmerzhafte Erlebnisse, die das Leben der meisten von uns zum Erstarren brächten oder ihm zumindest eine ungewollte, neue Richtung aufzwingen würden, hinzunehmen und zu neuer Kraft zu finden?

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„Wir sind aufeinander angewiesen, bedürfen immer wieder der Hilfe anderer“

Traumatherapie-Basics anhand des RebiT-Ansatzes

Der Wunsch nach Unterstützung und Orientierung sowohl bei angehenden als auch bei fortgeschrittenen Traumatherapeuten ist groß. Die spezifischen Bedürfnisse der Klienten und die besonderen Erfordernisse im Therapieprozess machen die Traumatherapie zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Dr. Alice Romanus-Ludewig, Ärztliche Psychotherapeutin aus Hannover, vermittelt in ihren Fachseminaren alles Wesentliche über Trauma, Traumatisierungsfolgen und Grundlagen von traumatherapeutischer Behandlung nach dem sogenannten RebiT-Ansatz. Jetzt hat sie diese Inhalte in einem Buch zusammengefasst.

Liebe Frau Romanus-Ludewig, worum geht es in Ihrem Buch?

In meinem Buch geht es um die resilienz- und bindungsorientierte Traumatherapie, kurz: RebiT. Dieser Therapieansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er – auf der Grundlage der allgemein anerkannten Richtlinien für Traumatherapie – besonders praxistauglich gestaltet ist. Er bietet eine klare Struktur, wie man als Therapeut konkret vorgeht. Natürlich bleibt Raum für die Individualität des Praktizierenden und des Klienten. Hat man ein festes Grundgerüst wird es aber leichter, alles Weitere variabel zu halten, ohne den Überblick zu verlieren. Das ist auch für den Klienten wichtig.

Entstanden ist dieser Ansatz aus dem Wunsch und der Notwendigkeit heraus, an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis Umsetzungshilfen zur Verfügung zu stellen. Das Buch bietet also Antworten auf die Fragen, welche Übungen unverzichtbar und essentiell sind. Was sind die „Basics“ (ich nenne sie die „Big Five“) und wozu dienen sie? Und noch detaillierter: Wenn ich eine bestimmte Übung durchführe – wie gehe ich da Schritt für Schritt vor? Besonders bei der Traumadurcharbeitung ist es sehr hilfreich, anhand eines Beispiels mit Erläuterungen einmal den genauen Ablauf zu verinnerlichen. Dabei wird deutlich, worauf es ankommt, was der Kern des Prozesses ist, und auch, welche „Fallstricke“ es zu meiden gilt.

 

Für wen wird dieses Buch interessant sein?

Für alle Therapeuten – ob angehende, fortgeschrittene oder erfahrene –, die sich für Traumatherapie interessieren. Insbesondere für diejenigen, die schon einmal eine Traumatherapie-Weiterbildung gemacht haben oder diese anvisieren. Sie alle finden in diesem Buch einen guten Überblick über die Traumatherapie-Basics anhand des RebiT-Ansatzes.

Aus meiner Arbeit mit Klienten weiß ich, dass auch viele Traumbetroffene händeringend nach Informationen über Trauma, Traumatisierung und Hilfsmöglichkeiten suchen. Gerade weil nicht ausreichend viele Therapieplätze vorhanden sind, suchen viele Wege, sich selbst zu helfen. So werden sicher auch viele Klienten dieses Buch lesen, und ich glaube, dass für sie ebenfalls viele wertvolle Informationen zu finden sind. Sie gewinnen einen Eindruck davon, wie Traumatherapie aussehen kann und was sie erwartet.

Sowohl Therapeuten als auch Betroffenen bietet dieses Buch den Vorteil, dass es „gespickt“ ist mit Beispielen von Klienten und Klientinnen. Dabei habe ich natürlich solche Beispiele ausgewählt, die möglichst nicht „triggern“, aber trotzdem das Entscheidende deutlich machen.

 

Was enthält das Werk?

Sollte ich auf diese Frage so knapp wie möglich antworten, würde ich sagen: Das Buch enthält einen recht komprimierten Abriss der Theorie zu Trauma, Traumafolgstörungen und Traumaphysiologie sowie die Beschreibung der drei Traumatherapiephasen (Stabilisierungsphase, Phase der Traumakonfrontation und Phase der Trauer und Neuorientierung). Bei der Beschreibung der Traumatherapiephasen geht das Buch darauf ein, wie diese Phasen auf der Grundlage des RebiT-Ansatzes aufgebaut sind, welche Grundelemente sie enthalten und wie sie in der Praxis konkret gestaltet werden können. Außerdem enthält das Buch Abbildungen, Tabellen, Fallbeispiele und Übungen, um die Theorie so anschaulich wie möglich zu machen.

Zusätzlich wird sichtbar gemacht, dass einige Elemente aus der Traumatherapie auch für nichttraumafokussierte Therapien äußerst hilfreich sein können. Dies verwundert nicht, denn es gibt natürlich auch Überschneidungen zwischen dem Erleben von Traumabetroffenen und dem Erleben von Klienten mit anderen Diagnosen, wie z.B. Depressionen oder Burnout, oder mit Beziehungskonflikten.

 

Wie ist das Buch aufgebaut?

Das Buch beginnt, nachdem die Entstehung des RebiT-Ansatzes beleuchtet wurde, mit dem Theorieabriss. Darauf folgt der Praxisteil, der sich mit dem Aufbau und Ablauf der verschiedenen Traumatherapiephasen befasst. Hier steht das ganz konkrete Vorgehen im Mittelpunkt sowie viele Praxisbeispiele. Wer schon länger versucht, sein traumatherapeutisches Wissen in die Praxis umzusetzen, und dabei auf typische Schwierigkeiten stößt, erhält hier Hilfestellung.

In einem letzten Teil geht es noch über die Traumatherapie hinaus. Hier können Leser Ideen sammeln, wie sich einzelne traumatherapeutische Elemente auch sehr gewinnbringend für die allgemeine Psychotherapie anwenden lassen. Dies ist auch deshalb interessant, weil sich traumatherapeutische Prozesse oft aus „normalen“ Psychotherapien entwickeln oder nach Durchlaufen der traumatherapiespezifischen Phasen wieder einmünden in allgemeine psychotherapeutische Prozesse. Einige Gedanken und Modelle – z. B. das BEHAVE-Modell – sind ganz allgemein für Veränderungsprozesse anwendbar und hilfreich.

 

Können Sie das an einem Beispiel, etwa an dem BEHAVE-Modell, konkretisieren?

Veränderung macht lebendig und viele Krisen können nur durch die Bereitschaft zur Veränderung bewältigt werden. Eine Psychotherapie zu machen bedeutet, sich dieser Notwendigkeit zu stellen. Das kostet Energie, weil es in unserer menschlichen Natur liegt, am Gewohnten festzuhalten. Um diesen oft auch anstrengenden und herausfordernden Prozess der Veränderung zu bestehen, braucht es manchmal Unterstützung. Bei der Begleitung zahlreicher Veränderungsprozesse von Klienten habe ich festgestellt, dass es immer wieder ganz typische Phasen sind, die durchlaufen werden. Hilfreich kann daher zum Beispiel sein, für sich zu bestimmen, an welcher Stelle im Veränderungsprozess man steht.

Die unterschiedlichen Phasen habe ich im sogenannten BEHAVE-Modell beschrieben:

B – Benennen des Problems

E – Erkennen des Problems

H – Handlungsoptionen neu kreieren

A – Ausprobieren der Handlungsoptionen

V – Verinnerlichen durch Üben

E – Erfolg erkennen, würdigen und genießen, freiwerdende Energie für neue Ziele nutzen

Jede Phase hat ihre ganz besonderen Herausforderungen und es können phasentypische Blockaden auftreten. In der ersten Phase (Benennen des Problems) besteht die Herausforderung darin, möglichst präzise das Problem bzw. den Kern des Problems zu benennen. In der zweiten Phase (Erkennen des Problems) empfinden Klienten oft eine „Verschlimmerung“, weil sie plötzlich entdecken, dass das Problem möglicherweise in mehreren Lebensbereichen auftritt, und ihnen jetzt erst die Dimension und die unterschiedlichen „Gesichter“ des Problems deutlich werden.

Die dritte und vierte Phase des Veränderungsprozesses sind einerseits sehr kreativ, aber auch anstrengend, weil es darum geht, sich neue Verhaltensweisen innerlich vorzustellen, aber diese dann auch ganz konkret im Alltag auszuprobieren. Hier gilt das Prinzip Trial and Error (Versuch und Irrtum): ausprobieren und dann prüfen, ob die gewählte Strategie funktioniert oder nicht. Funktioniert sie, ist Phase fünf dran (Verinnerlichen durch Üben), funktioniert sie nicht, geht es zurück zu Phase drei und neue Handlungsoptionen müssen kreiert werden.

Phase drei und vier sind das Herzstück des Veränderungsprozesses. Die Gefahr ist, in dieser Phase aufzugeben, zum Beispiel weil die erste Veränderungsvariante nicht funktionierte. In einer Psychotherapie ist hier der Therapeut gefragt, Mut zu machen und zu stärken. Menschen, die zwar nicht in einer Therapie sind, aber an ihrer persönlichen Weiterentwicklung arbeiten, müssen sich hier selbst Mut machen.

Ist dann eine funktionierende Lösung gefunden worden, kann es weitergehen mit der fünften Phase, Verinnerlichen durch Üben. Diese Phase des Verinnerlichens kann sehr lange, teilweise Jahre dauern und endet damit, dass das neue Verhalten „in Fleisch und Blut übergegangen“ ist. Auch hier geben manche den Veränderungsprozess vorzeitig auf, weil sie irritiert sind davon, dass das neue Verhalten selbst nach einer ganzen Weile des Übens noch als anstrengend empfunden wird und nach wie vor ein Widerstand vorhanden ist. Dabei ist das gar nicht verwunderlich: Eingeschliffene Verhaltensweisen sind durch Nervenverschaltungen „im Gehirn eingegraben“. Daher braucht Veränderung ganz einfach Zeit, bis neue Verschaltungen aufgebaut sind.

Wenn der Energieaufwand weniger wird, das neue Verhalten also immer öfter „von alleine“ geschieht und irgendwann zumindest teilweise zur „zweiten Natur“ geworden ist, befindet man sich am Ende des Prozesses. Jetzt ist das Feiern des Erfolges ebenso wichtig wie die Anstrengung während des Prozesses. Nur wenn der Veränderungsprozess so bewusst wahrgenommen und gewürdigt wird, stellt er ein enormes Wachstumspotenzial dar. Ein Gelingen steigert das Selbstwertgefühl und setzt so viel Energie frei, dass oft der nächste Veränderungsprozess in Angriff genommen wird.

Worauf ist bei Ihrem Buch zu achten?

Wie schon erwähnt, soll das Buch bzw. der RebiT-Ansatz beides vermitteln: Die Essenzen, die die traumatherapeutische Grundhaltung ausmacht, also die Fokussierung auf Resilienz und Bindung, sowie die Struktur, das Grundgerüst einer Traumatherapie. Ich würde hier von einer Balance sprechen, die bedeutsam ist. Ohne die traumatherapeutische Grundhaltung, welche die Ressourcen des Klienten im Blick hat und eine vertrauensvolle Beziehung als Voraussetzung erkennt, kann keine Bewältigung des Traumas stattfinden. Da helfen weder Techniken noch Struktur!

Doch ohne sinnvolle Struktur und professionelles Vorgehen hilft auch keine noch so resilienz- und bindungsorientierte Grundhaltung. Beides lässt sich nicht gegeneinander ausspielen. Ich wäre sehr zufrieden, wenn das Buch zu dieser Einsicht beitragen könnte.

 

Wie lautet Ihre Botschaft?

„Habt Mut und macht euch daran, Traumatherapie zu lernen und zu üben, es lohnt sich!“ So ähnlich könnte meine Botschaft auf den Punkt gebracht werden. Das klingt banal, aber Tatsache ist, dass so viel traumatherapeutisches Wissen in den Köpfen von Psychotherapeuten ungenutzt bleibt. Das ist angesichts der zahlreichen, bisher nur unzureichend therapeutisch versorgten Traumabetroffenen sehr schade!

Hoffentlich klingt in dem Buch auch durch, dass Traumatherapie für beide Seiten sehr lohnend ist. Dass wir Fachleute durch das empathische Teilhaben an der Erfahrungswelt traumatisierter Menschen erheblichen Belastungen ausgesetzt sind, ist nicht zu leugnen. Doch die Last dieser Menschen ein Stück mitzutragen und zur Bewältigung beizutragen, empfinde ich als eine zutiefst sinnvolle Aufgabe. Sie erinnert mich in heilsamer Weise auch immer wieder an meine eigene Vulnerabilität und die von uns Menschen allgemein. Wir sind aufeinander angewiesen und bedürfen immer wieder der Hilfe anderer, wenn wir uns weiterentwickeln möchten. Ich bin allen Menschen dankbar, die ich bisher begleiten durfte, durch jeden Einzelnen habe auch ich sehr viel gelernt und mich weiterentwickelt.

 

  Über die Autorin

In ihrer Praxis für Psychotherapie, Traumatherapie und Weiterbildung in Hannover behandelt Alice Romanus-Ludewig Einzelpersonen nach dem tiefenpsychologisch fundiertem Therapieansatz. Im dreiteiligen Traumatherapieseminar werden zudem wesentliche Inhalte über Trauma, Traumatisierungsfolgen und Grundlagen von traumatherapeutischer Behandlung an Fachpersonen vermittelt. Das Seminar richtet sich an Therapeuten und Berater, die mit traumatisierten Menschen arbeiten. Grundlage des Seminars ist der RebiT-Ansatz.

Weitere Informationen erhalten Sie hier und unter https://www.winput-hannover.de/

Im Junfermann Verlag erscheint am 24. Mai Ihr Buch Resilienz- und bindungsorientierte Traumatherapie (RebiT). Ein Handbuch.

Ein Stück weiter in Richtung „widerstandsfähig“ kommen

Mit der Sprungkraft eines Kängurus

Von Melanie Hausler

 „Wie geht’s dir?“, frage ich meinen Kollegen bei einem zufälligen Treffen auf dem Flur. Er antwortet: „Gestresst, wie immer“, zwinkert mir zu und eilt schnellen Schrittes, die Kaffeetasse in der Hand, davon.

So oder so ähnlich laufen täglich unzählige Gespräche ab. Teilweise schwingt zwar noch ein gewisser Humor mit, in der Aussage ist es aber doch bedenklich. Gestresst zu sein ist normal geworden. „Stress“ hat sich als gesellschaftlich äußerst akzeptierter Zustand etabliert. Gestresste Menschen werden häufig als wichtig, erfolgreich oder zumindest sehr fleißig angesehen. In Smalltalks mit Kollegen, Nachbarn und Freunden dreht es sich meist um aktuelle Stressoren, und selbst nach Feierabend fällt es immer mehr Menschen schwer, herunterzufahren und zu entspannen.

Wir alle kennen das Gefühl des Gestresstseins. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie müssten in fünf Minuten unvorbereitet einen Vortrag halten. Wie würden Sie reagieren? Vermutlich würden Ihre Hände kühl und schweißig, das Herz schlüge schneller, die Atmung wäre flacher und beschleunigt und Sie nähmen eine erhöhte Anspannung der Muskulatur wahr. Kein sehr angenehmer Zustand!

Bleiben diese Stresszeiten zeitlich begrenzt, schaden sie uns nicht. Problematisch wird es aber vor allem dann, wenn wir uns ständig gestresst fühlen und zwischen den Stressereignissen kaum Zeit finden, unser System wieder in einen Entspannungszustand zu bringen. Zudem häufen sich nicht selten Stressoren aus verschiedenen Lebensbereichen: im Beruf, in der Beziehung, mit dem Vermieter … Je mehr Stressoren wir gleichzeitig erleben und je weniger wir uns dazwischen wieder entspannen und uns etwas Gutes tun, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit für Burnout, Depressionen, Ängste, Schlafstörungen und Co.

Als Wissenschaftlerin interessiert mich die Frage, wie sich individuelle Stressoren auf der einen und positive Erlebnisse auf der anderen Seite auf die psychische und körperliche Gesundheit sowie das Wohlbefinden auswirken. Eine Kernaussage, die sich auf Basis der wissenschaftlichen Forschung treffen lässt, ist diese:

Durch gezielte Förderung des Wohlbefindens und effektive Stressbewältigung kann sowohl psychischen als auch körperlichen Erkrankungen entgegengewirkt werden.

 

Die Logik unserer Psyche

In meiner psychologischen Praxis begegnen mir die verschiedensten Menschen mit ihren Geschichten. Sie geben mir einen unglaublich spannenden Eindruck in die komplexe Welt der Psychologie. Und jedes Mal aufs Neue fasziniert es mich zu erkennen, welche Logik hinter der individuellen Symptomatik steckt. Denn eins ist gewiss: Es ist immer psycho-logisch. All unsere Gedanken, unsere Gefühle und Verhaltensweisen haben eine Entstehungsgeschichte, die sinnvolle Erklärungen dafür bietet, warum sie sich entwickelt haben. Und nicht nur das. Auch in der aktuellen Lebenssituation gibt es immer Faktoren, die der Symptomatik Sinn verleihen bzw. sie aus gewissen Gründen aufrechterhalten. Ich möchte Ihnen hierfür ein Beispiel geben:

Die 22-jährige Sarah B. berichtet über Angstattacken, die sie ohne erkennbare Auslöser regelmäßig ereilen. Wenn sie die Ängste erlebt, wird ihr schwindelig, ihr Herz klopft rasend schnell, ihr Mund wird trocken und in ihrem Kopf kreisen Gedanken um die Angst, verrückt zu werden. Sie erkennt zunächst keinen erkennbaren Auslöser und erst recht keinen Sinn in ihrer Symptomatik. Nach einigen Sitzungen haben wir folgende Erkenntnisse gewonnen:

  1. Die auslösende Lebenssituation stellt sich wie folgt dar. Sarah B. hat einen Umzug in eine neue Stadt hinter sich, wo sie ein BWL-Studium begonnen hat. Sie erlebt das Studium als sehr anspruchsvoll und hat gleich zu Beginn eine Prüfung nicht geschafft. Sie wohnt in einer Ein-Zimmer-Wohnung und fühlt sich dort recht einsam. Die Panikattacken treten gehäuft vor dem Einschlafen auf, wenn sie über ihre Situation nachgrübelt.
  2. Auf welche Person treffen nun diese Lebensumstände? Sarah B. beschreibt sich als sehr leistungsorientiert. Ihre Eltern haben ihr immer klar vermittelt, dass sie gute Leistungen von ihr erwarten. Wenn sie gute Noten nach Hause brachte, wurde das gemeinsam gefeiert und sie erfuhr Anerkennung und Zuneigung. Im Falle von schlechten Noten entfiel der positive Austausch und stattdessen saß sie alleine in ihrem Zimmer, um zu lernen. Als sie nun in eine neue Stadt zog, reduzierte sich der Kontakt zu den Eltern und ihren Freunden. Sie fuhr zwar regelmäßig nach Hause, aber dennoch war ihr Bedürfnis nach Austausch und Nähe nicht ausreichend erfüllt. Als sie dann auch noch eine schlechte Note erzielte, ging ihr System in Alarmbereitschaft und versetzte ihren Körper in Anspannung. Nun würde sie in nächster Zeit alleine in ihrer Wohnung verbringen müssen, um zu lernen, und die Wochenendbesuche wären nicht mehr so häufig möglich. Darüber hinaus hatte ihre Mutter Sorgen geäußert, ob sie mit dem Studium überfordert sei.
  3. Die Reaktion ihres Systems war eine Steigerung der inneren Anspannung. Als dann eine weitere Prüfung ins Haus stand, überschritt die Anspannung ihre Angstschwelle und sie erlebte ihre erste Panikattacke. Fortan beobachtete sie sich sehr genau und verfiel bei dem geringsten Anzeichen von Unwohlsein (z. B. Übelkeit, Schwindel oder Herzklopfen) in Sorge darüber, ob etwas mit ihr nicht stimme und es zu einer neuen Panikattacke kommen könne – was dann auch zunehmend häufiger der Fall war.
  4. Die Konsequenzen waren nicht nur rein negativ, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten würde. Zwar fühlte sie sich langfristig dadurch massiv in Alltag und Studium eingeschränkt, doch gab es kurzfristig auch positive Konsequenzen. So rief ihre Mutter fast täglich an, um sich nach dem Befinden der Tochter zu erkundigen. Auch war sie nach dem gehäuften Auftreten einiger Panikattacken zur Erholung für ein paar Tage nach Hause gefahren. Dort hatte sie sehr viel Zuneigung und Zuspruch erlebt. Ihre Eltern hatten ihr klargemacht, dass sie wichtiger sei als positive Leistungen und dass sie vor allem auf sich schauen solle. Damit nahmen sie ihr eine große Last von den Schultern, machten aber ihre Anerkennung vom Gesundheitszustand der Tochter abhängig. Wenn nun die Symptomatik verschwinden würde – was dann? Vermutlich wären die Ansprüche – sowohl der Eltern, als auch die eigenen – wieder deutlich höher.

Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, das veranschaulicht, warum sich Symptome entwickeln und auch, warum sie aufrechterhalten werden. Bei Depressionen, Burnout, Schlafstörungen und Co. ist es nicht anders. Jede Person hat eine andere Art und Weise, eine für sie bestmögliche Lösung zu finden, um mit der aktuellen Lebenssituation zurechtzukommen. Dabei ist es sehr wichtig, niemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Weder hat Frau B. ihre Symptomatik „absichtlich“ entstehen lassen, noch sind die Eltern schuld an der Misere. Die Psyche ist viel komplexer.

Viel relevanter ist die Frage, wie sich mit solch komplexen Situationen gut umgehen lässt. Hierfür sind zwei Ansatzpunkte zentral:

  1. Negative Faktoren, Symptome und Unzufriedenheit verringern. Hatten Sie schon mal Angst zu sterben – vielleicht auch nur ganz kurz, etwa weil sie bei einer Wanderung in den Bergen mit dem Fuß abgerutscht sind oder nur durch eine Vollbremsung mit dem Auto knapp einem Unfall entgehen konnten? Um dieses Angstgefühl geht es bei Sarah B. aus dem obigen Beispiel. Grundsätzlich kann man sagen, dass man angstauslösende Situationen nicht gänzlich vermeiden und ihnen dauerhaft einfach aus dem Weg gehen kann. Es gilt vielmehr, Strategien zu entwickeln, um mit der Angst umgehen und ihr mutig begegnen zu können. Es geht also darum, angstfähig zu werden. Es hilft aber langfristig nichts, wenn nur die negativen Faktoren reduziert werden.
  2. Positives stärken. Hinter der Symptomatik steckt auch etwas Positives: Bei Sarah B. ist es der Wunsch nach Zuneigung, nach positiven Beziehungen und nach Liebe. Ein menschliches Grundbedürfnis! Es geht also darum, Wege zu finden, dieses Bedürfnis zu erfüllen und eine gute Balance zwischen Beziehungen auf der einen Seite und Freiheit bzw. Selbstbestimmung auf der anderen Seite herzustellen. Die Lösung wird bei Frau B. nicht sein, das Studium abzubrechen und einfach wieder nach Hause zurückzukehren. Es wird darum gehen, neue Wege zu finden, um dieses Bedürfnis im Hier und Jetzt zu erfüllen.

 

Die Positive Psychologie

Genau hier kommt die positive Psychologie ins Spiel. Die Wissenschaft des gelingenden Lebens dreht sich konkret darum, das positive Erleben – also positive Gefühle und Zufriedenheit – zu erhöhen. Außerdem ist folgende Frage zentral: Welche Stärken und Werte zeichnen uns aus und fördern den Selbstwert unabhängig von Leistungen, Erfolgen oder Misserfolgen? Die Stärken stellen damit eine wichtige Basis für das Wohlbefinden dar.

Es geht aber nicht nur um die positiven Gefühle, sondern auch darum, mit all unseren Gefühlen achtsam umzugehen. Negative Gefühle haben grundsätzlich einen Sinn. Angst ist beispielsweise wie ein Wachhund, der uns vor Bedrohungen warnt. Die Gefahr kann unmittelbar sein oder in der Zukunft befürchtet werden (ein weiteres Nichtbestehen der Prüfung). Manchmal kann der Wachhund aber auch überreagieren und bellen, wenn nur ein kleiner Spatz aus dem Gebüsch fliegt.

 

Das Navigationssystem unserer Gefühle

Ein Bild, das die Funktion der Gefühle anschaulich beschreibt, ist das eines Navigationssystems. Es hilft uns bei der Orientierung, lenkt unsere Aufmerksamkeit und lässt uns wichtige Informationen zukommen. Es zeigt an, welche Straßen gesperrt sind, welche Wege wir besser umfahren sollten, wie lange wir noch bis zu unserem Ziel brauchen und welche Schwierigkeiten auf unserer Reise auftreten können. Und genauso funktionieren auch unsere Gefühle.

 

Positive Gefühle zeigen uns an, dass wir auf dem richtigen Weg sind, während negative Gefühle wie Angst, Wut, Trauer etc. uns darauf aufmerksam machen, dass gerade etwas nicht so gut läuft.

 

Alle Gefühle geben uns (lebens-)wichtige Hinweise auf unsere Bedürfnisse und haben somit einen wesentlichen Anteil an unserem Wohlbefinden.

Ob die Gefühle nun aber angemessen sind oder nicht, hängt stark von der individuellen Situation ab. Während ein heiteres Lachen während der Beerdigungszeremonie eher ungewöhnlich ist, passt es beim gemeinsamen Spieleabend sehr gut. Ebenso ist es mit den negativen Gefühlen.

Angenommen das Gefühl ist passend, dann spielt darüber hinaus die Intensität des erlebten Gefühls eine Rolle. Haben wir beispielsweise gesunden Respekt vor Höhe, ist das durchaus sinnvoll, da wir dadurch während der Bergtour achtsam bleiben und aufpassen, dass wir stets sicheren Tritt haben. Besteht jedoch panische Angst vor Höhen und vermeiden wir sogar in der Folge alle Situationen, die uns mit Höhe konfrontieren könnten, dann ist dies unserem Wohlbefinden nicht mehr dienlich. Im Gegenteil – es ist sogar einschränkend. Bleiben wir beim (Gefühls-)Navigationsbild, dann gibt es folgende Möglichkeiten:

  1. Die Information ist hilfreich und wir reagieren dementsprechend (z. B. schnellere Route wählen und Stau umfahren).
  2. Die Information weist zwar in die richtige Richtung, ist aber zu intensiv (z. B. wird immer wieder auf den Stau hingewiesen, in dem wir uns befinden, es gibt jedoch keine alternative Route).
  3. Die Information ist nicht hilfreich (z. B. wird auf eine gesperrte Straße hingewiesen, die inzwischen schon wieder frei befahrbar ist).

Während es wichtig ist, im Fall 1 dem Gefühl gemäß zu handeln, ist es bei den Fällen 2 und 3 notwendig, das Gefühl zu regulieren bzw. abzuschwächen – zum Beispiel mit den Methoden der Positiven Psychologie. Je nach Ausmaß und Häufigkeit kann darüber hinaus auch eine professionelle Unterstützung Sinn machen.

 

Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen?

Uns allen widerfahren hin und wieder Missgeschicke, Dinge laufen anders als erwartet oder wir machen schmerzhafte Erfahrungen. Das gehört zum Leben dazu. Interessant ist, wie wir mit derartigen Situationen umgehen. Studien haben gezeigt, dass glückliche Menschen bessere Strategien entwickeln, um mit kritischen Lebensereignissen umzugehen, als weniger glückliche (z. B. Tugade & Fredrickson, 2004). Sie verfügen über eine größere Widerstandskraft, die sie dazu befähigt, konstruktiv mit Krisen umzugehen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Die Rede ist von Resilienz.

Ich möchte diesen Umstand am Beispiel des Kängurus verdeutlichen: Kängurus können ganz wunderbar springen. Bei jedem Sprung federn ihre Hinterläufe vom Boden ab wie ein Gummiball. Je mehr sich der Kängurukörper komprimiert, je stärker also die Gelenke belastet und die Muskeln gedehnt werden, desto höher ist die Sprungkraft. Resilienz ist wie diese Sprungkraft. Sie befördert uns wieder nach oben, wenn das Schicksal uns einmal zu Boden geworfen hat. Auch wenn wir Schlimmes erleben, bedeutet das nicht automatisch, dass wir dadurch traumatisiert oder von nun an unglücklich sind. Vermutlich führen wir zwar ein anderes Leben, als wir es ohne dieses Erlebnis getan hätten. Ob dieses Leben jedoch glücklich ist oder nicht, hängt sehr viel mehr von unserer Bewertung, unseren Gefühlen und unserem Verhalten – kurz: unserer Resilienz – ab: Wie wir Dinge einschätzen und welche Konsequenzen wir daraus für unser Leben ziehen, liegt an uns.

Wir alle haben die Möglichkeit, Resilienz zu trainieren und uns auf dem Kontinuum ein Stück weiter in Richtung „widerstandsfähig“ zu bewegen. In diesem Zusammenhang konnte die Bedeutsamkeit positiver Gefühle für die Förderung von Resilienz nachgewiesen werden. Resiliente Menschen nutzen positive Gefühle zum einen dafür, sich schneller von Stress zu erholen, und zum anderen, um Sinn aus negativen Erlebnissen zu schöpfen (Tugade & Fredrickson, 2004). Außerdem nehmen sie bei Stressereignissen oder Problemen nicht ausschließlich die negativen Aspekte wahr, sondern auch positive Facetten, Entwicklungsmöglichkeiten oder Lernchancen. Dies ermöglicht es ihnen, gestärkt aus solchen Erfahrungen hervorzugehen und sogar an ihnen zu wachsen.

Wenn wir einmal hinfallen, ist es wichtig, erst einmal innezuhalten und herauszufinden, worüber wir gestolpert sind. Vor allem dann, wenn uns das regelmäßig passiert, macht es sehr viel mehr Sinn, sich mit dem Hindernis auseinanderzusetzen, als jeden Tag aufs Neue über die Türschwelle zu stolpern. Der nächste Schritt ist dann zweifelsohne, wieder aufzustehen und sich mit Mitgefühl zu begegnen, anstatt sich Vorwürfe zu machen. Ist dies geschehen, können Sie mutigen Schrittes weitergehen – und wie ein Känguru mit einem kraftvollen Sprung über künftige Hindernisse hinwegspringen. Denken Sie daran: Glückliche Kängurus springen höher!

  

Über die Autorin

Dr. Melanie Hausler, Klinische und Gesundheitspsychologin, Trainerin für Positive Psychologie, Promotion in Psychologie zum Thema „Wohlbefinden verstehen und fördern“. Sie ist Glücksforscherin an der Medizinischen Universität Innsbruck und in freier Praxis tätig. Ihr Buch Glückliche Kängurus springen höher: Impulse aus Glücksforschung und positiver Psychologie erscheint am 22. März 2019 im Junfermann Verlag. Weitere Informationen über Melanie Hausler erhalten Sie hier.

 

Quelle

Tugade, M. M. & Fredrickson, B. L. (2004): Resilient Individuals Use Positive Emotions to Bounce Back From Negative Emotional Experiences. Journal of Personality and Social Psychology, 86(2), 320–333. http://doi.org/10.1037/0022-3514.86.2.320.

Psychische Verletzungen behandeln und emotionale Widerstandsfähigkeit verbessern

Die sieben Angewohnheiten emotional gesunder Menschen

Von Guy Winch

Die meisten von uns achten sehr auf ihre Gesundheit und behandeln Angriffe auf ihr körperliches Wohlergehen unverzüglich. Wir ziehen uns warm an, wenn wir eine Erkältung vermuten, behandeln Kratzer und Wunden mit antibakterieller Salbe und Pflastern, und wir halten uns von Wundschorf fern, damit Verletzungen in Ruhe heilen können. Obwohl wir uns psychische Wunden genauso oft zuziehen wie körperliche, sind wir in dieser Hinsicht deutlich weniger proaktiv. Wir schützen unser psychisches Wohlergehen in geringerem Maße als unser körperliches. Indem Sie sich die folgenden sieben Angewohnheiten aneignen und häufig auftretende psychische Verletzungen sofort „behandeln“, unterstützen Sie Ihre mentale Gesundheit und verbessern Ihre emotionale Widerstandsfähigkeit.

  1. Nach einer Niederlage die Kontrolle zurückgewinnen: Niederlagen verzerren unsere Wahrnehmung, was dazu führt, dass unsere Ziele außer Reichweite und unsere Fähigkeiten unzulänglich erscheinen. Wenn wir das Gefühl haben, unseren Erfolg kaum beeinflussen zu können, verlieren wir unsere Motivation. Gewöhnen Sie sich an, diese automatische irreführende Reaktion zu ignorieren, und machen Sie stattdessen eine Liste mit all den Faktoren, die Sie auf dem Weg zu Ihrem Ziel kontrollieren können (z. B. Arbeitseinsatz, Vorbereitung, Planung, verschiedene Herangehensweisen, die Sie hätten wählen können, usw.). Denken Sie dann darüber nach, wie Sie jeden dieser Faktoren verbessern können. Auf diese Weise beugen Sie nicht nur negativen Sinnestäuschungen vor, sondern erhöhen außerdem Ihre Chancen auf zukünftigen Erfolg.
  2. Den Sinn in Verlust und Trauma sehen: Menschen, die sich von Verlust oder Trauma emotional nicht unterkriegen lassen und erfolgreich weiterleben, unterscheiden sich in einem wesentlichen Aspekt von anderen: Sie sind in der Lage, ihrer Erfahrung einen Sinn abzugewinnen. Dieser Prozess nimmt Zeit in Anspruch, genauso wie das Trauern und das sich Anpassen an eine neue Realität. Sie werden Ihr Leben und die Menschen darin jedoch neu zu schätzen lernen, wenn Sie sich daran gewöhnen, nicht nur das Verlorene zu sehen, sondern auch zu erkennen, was Sie gewonnen haben. Sie werden wichtige Entscheidungen treffen und Wert, Sinn und Bedeutung finden können, wo Ihnen dies zuvor unmöglich erschien.
  3. Den Drang zu grübeln unterdrücken: Wenn wir über beunruhigende Ereignisse grübeln, gewinnen wir selten Einsicht in diese. Stattdessen spulen wir in unserem Kopf beunruhigende oder ärgerliche Szenarien immer wieder ab, was unseren Drang zu grübeln nur noch verstärkt. Dadurch fühlen wir uns schlechter. Gewöhnen Sie sich daran, den Teufelskreis des Grübelns sofort zu unterbrechen – wie verlockend er auch erscheinen mag. Dies gelingt am besten, indem Sie sich mit einer Tätigkeit ablenken, die Ihre volle Konzentration in Anspruch nimmt – z. B. mit einer Runde Sudoku, indem Sie versuchen, sich an die genaue Reihenfolge aller S-Bahn-Stationen auf Ihrem Heimweg zu erinnern, oder eine fesselnde TV-Sendung anschauen.
  4. Selbstwertgefühl stärken: Unser Selbstwertgefühl schwankt für gewöhnlich, was dazu führt, dass wir uns an einigen Tagen besser als an anderen fühlen. Viele Menschen sind jedoch sehr selbstkritisch, wenn sie sich schlecht fühlen, d. h., sie greifen ihr eigenes Selbstwertgefühl an, obwohl es bereits am Boden liegt. Um Ihre psychische Gesundheit zu verbessern, sollten Sie Ihr Selbstwertgefühl als „emotionales Immunsystem“ betrachten, das es zu stärken gilt, wenn es angeschlagen ist. Der beste Weg, ein verletztes Selbstwertgefühl zu „heilen“, besteht darin, Mitgefühl mit sich selbst zu haben. Wenn Sie also einmal wieder selbstkritische Gedanken hegen, überlegen Sie sich, was Sie in einer ähnlichen Situation zu einem guten Freund sagen würden. Schreiben Sie eine E-Mail, in der Sie Mitgefühl und Unterstützung ausdrücken. Lesen Sie diese E-Mail dann, als hätte jemand anders sie Ihnen geschickt.
  5. Das Selbstwertgefühl nach Zurückweisung stärken: Zurückweisungen sind so schmerzhaft, dass wir die Schuld oft bei uns selbst suchen, um unsere emotionalen Schmerzen zu verstehen. Wir glauben, dass wir sehr schwach/erbärmlich/ein Verlierer/wertlos/zerbrechlich/nicht liebenswert/… sein müssen, um uns so verletzt fühlen zu können. Zurückweisung schmerzt nicht deshalb, weil etwas mit uns nicht stimmt, sondern aufgrund der Funktionsweise unseres Gehirns. Die beste Möglichkeit, emotionalen Schmerz zu lindern und das Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, besteht darin, eigene Aspekte und Qualitäten zu bestärken, die Sie wertschätzen (z. B. Loyalität, Mitgefühl, Kreativität oder eine gute Arbeitseinstellung). Legen Sie eine Liste solcher Eigenschaften an, wählen Sie ein oder zwei Aspekte aus und erklären Sie kurz schriftlich, warum Ihnen diese Qualitäten wichtig sind.
  6. Einsamkeit durch Identifizieren von selbstschadenden Verhaltensweisen bekämpfen: Chronische Einsamkeit tritt sehr viel häufiger auf, als wir annehmen, und hat katastrophale Auswirkungen auf unser emotionales und körperliches Wohlergehen. Wenn wir uns einsam fühlen, versuchen wir oft, das Risiko weiterer Zurückweisungen zu minimieren, indem wir uns unbewusst selbstschadend verhalten und die Möglichkeit sabotieren, neue Kontakte zu knüpfen und alte zu stärken. Der beste Weg Einsamkeit zu bekämpfen, besteht darin, sich anzugewöhnen, selbstschadende Verhaltensweisen zu identifizieren und herauszufordern. Legen Sie eine Liste der Ausreden an, mit denen Sie bisher vermieden haben, in sozialen Situationen die Initiative zu ergreifen (z. B. Ich kenne niemanden bei dem Fest, warum sollte ich also gehen? Die rufen mich nie an, warum sollte ich es dann bei ihnen versuchen? Sie sind wahrscheinlich zu beschäftigt, um sich mit mir zu treffen. Ich kann mich doch nicht einfach selbst einem Unbekannten bei einer Party vorstellen.). Listen Sie nun die Menschen auf, in deren Gesellschaft Sie sich in der Vergangenheit wohlgefühlt haben (durchsuchen Sie Telefon-, E-Mail- und Facebook-Kontakte), und nehmen Sie jeden Tag mit einer oder zwei Personen Kontakt auf, um sich zu verabreden. Wiederholen Sie dies, bis Ihr Kalender voll ist. Fordern Sie sich dazu heraus, nicht auf die Ausreden von Ihrer Liste zurückzugreifen, wenn Sie sich unwohl fühlen.
  7. Beschädigte Beziehungen reparieren, um überhöhte Schuldgefühle abzulegen: Überhöhte Schuldgefühle entstehen, wenn unsere Handlungen oder Untätigkeit eine andere Person (häufig eine enge Freundin oder einen nahen Verwandten) verletzt haben und diese Person uns dafür nicht vergeben hat. Dies ist hauptsächlich auf unzulängliche Entschuldigungen zurückzuführen und nicht auf die Unfähigkeit der anderen Person, ihren Schmerz zu verarbeiten. Die entscheidende Eigenschaft einer wirkungsvollen Entschuldigung – etwas, das wir häufig vergessen – ist Empathie. Um die Vergebung einer anderen Person zu erhalten, müssen Sie es sich zur Aufgabe machen, stets eine wirkungsvolle Entschuldigung vorzubringen, wenn Sie etwas falsch gemacht haben. Dabei ist es wichtig, der Person das Gefühl zu geben, dass Sie vollkommen verstehen, was sie empfindet und welche Auswirkungen Ihr Verhalten auf sie hatte. Durch den Ausdruck angemessener Empathie erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Gegenüber Ihre Entschuldigung als aufrichtig empfindet und Ihnen wirklich vergibt. Ihre Schuldgefühle werden kurz darauf verschwinden.

(Übersetzt von Julia Welling)

Winch_Guy Über den Autor

Guy Winch, Ph.D., ist Psychotherapeut in eigener Praxis in New York und Mitglied der American Psychological Association. Von seinen Büchern ist „Emotionale Erste Hilfe“ das erfolgreichste. Es wurde in 20 Sprachen übersetzt.

(Die englische Version des Blogbeitrags ist hier zu finden.)

 

 

Vertrauen Sie darauf, sich selbst helfen zu können

Ende Mai erscheint unser Spitzentitel Emotionale Erste Hilfe. Wie wir mit seelischen Verwundungen im Alltag umgehen können. Wie ein Medizinschränkchen mit Verbandszeug, Salben und Schmerzmitteln, die bei der Behandlung körperlicher Alltagsverletzungen zum Einsatz kommen, möchte dieses Buch eine Hausapotheke für die kleineren seelischen Verletzungen sein, mit denen wir im täglichen Leben konfrontiert sind.

Winch_Guy  Guy Winch, der Autor des Buches, ist Psychotherapeut in eigener Praxis in New York und sehr erfolgreich als Vortragsredner, u.a. für die Organisation TED. In einem Interview spricht er über die Idee zum Buch, über Psychohygiene und emotionale Widerstandsfähigkeit.

 

Die Grundidee Ihres Buches – „Wir können emotionale Wunden ebenso behandeln wie kleinere physische Verletzungen, wir müssen nur lernen wie“ – erscheint so einleuchtend, hilfreich und einfach, dass ich mich frage, warum niemand zuvor auf diese Idee gekommen ist. Woher nahmen Sie die Inspiration zu Ihrem Buch?

Die Patienten in meiner Privatpraxis verbrachten oft ganze Sitzungen damit, relativ unbedeutende Situationen zu besprechen, in denen sie zurückgewiesen wurden, Misserfolge erfahren oder andere emotionale Wunden erlitten hatten. Dabei wurde mir klar, dass sie ihre Gefühle völlig falsch verarbeiteten. Sie kritisierten sich selbst, vermieden gewisse Emotionen, zogen sich zurück oder fühlten sich hilflos. Da ich mich gewöhnlich auf dem neuesten Stand halte, was wissenschaftliche Studien angeht, wusste ich, dass Strategien existierten, mit deren Hilfe sie sich besser fühlen würden. Es verging jedoch eine ganze Weile, bevor ich ernsthaft in Betracht zog, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben, da ich davon ausging, dass jemand anderes dies bereits getan hatte. Ich begann also nach einem solchen Buch zu suchen, konnte aber keines finden. Daraufhin schlug ich meiner Agentin die Idee vor, und auch sie war erstaunt, dass noch niemand daran gedacht hatte. Ich machte mich sofort an die Arbeit.

Emotionale Erste Hilfe befasst sich mit sieben alltäglichen Verletzungen und deren Heilung: Zurückweisung, Einsamkeit, Verlust/Trauma, Schuldgefühle, Grübeln, Niederlage und schwaches Selbstwertgefühl. Welche dieser Verletzungen ist Ihrer Meinung nach am schwierigsten zu heilen?

Ich beginne mein Buch mit dem Kapitel über Zurückweisung, da dies nicht nur die häufigste emotionale Verletzung darstellt, sondern auch die schmerzhafteste. Verlust und Trauma können selbstverständlich um einiges niederschmetternder sein als Zurückweisung, treten aber sehr viel seltener auf. In den Studien zu Zurückweisung, die ich in meinem Buch zitiere, fühlten die Teilnehmer auch dann noch den emotionalen Schmerz, nachdem sie herausgefunden hatten, dass die Verletzung nicht echt war – dass es sich lediglich um einen wissenschaftlichen Mitarbeiter handelte, der die Teilnehmer zurückzuweisen vorgab.

Welche Strategie schlagen Sie für die Behandlung von Zurückweisung vor?

Die Behandlung von Zurückweisung muss auf mehrere Weisen gleichzeitig angegangen werden: Es gilt, nicht nur das „Bluten“ zu stoppen, das durch selbstkritische Gedanken entsteht, sondern auch das Selbstwertgefühl neu aufzubauen und mit Menschen in Kontakt zu treten, die Sie wertschätzen, um das Gefühl dazuzugehören wiederherzustellen. Deshalb erschien es mir überaus wichtig, die genaue Art der mentalen Wunden darzustellen, die wir uns zuziehen, damit der Leser versteht, was er oder sie behandeln muss.

Ihr Buch enthält viele interessante und bewegende Fallbeispiele – vor allem die Geschichte von David, einem behinderten Studenten, der es schafft, seine lebenslange Isolation zu überwinden. Sind Sie der Meinung, dass die eine oder andere Behandlung aus Ihrem Buch immer funktioniert, oder sind Ihnen Menschen bekannt, denen es nicht gelang?

Ähnlich wie Schmerzmittel funktionieren auch die Behandlungsweisen aus meinem Buch nicht zuverlässig bei allen Menschen. Doch indem die Leser verschiedene Behandlungen ausprobieren und so herausfinden, was bei ihnen persönlich wirkt, können sie sich ihr eigenes, persönliches mentales Erste-Hilfe-Schränkchen oder Werkzeugkästchen zusammenstellen. Zudem bauen die Leser durch das Wiederholen der Techniken eine emotionale Widerstandsfähigkeit auf. Ein weiterer wichtiger Vorteil besteht darin, dass die Leser darauf vertrauen, sich selbst helfen zu können, wenn einmal etwas nicht gelingt – auch wenn es für eine Weile schmerzt.


 

Hier können Sie Guy Winch auf der Bühen bei einer TED-Veranstaltung sehen, wo er über Psychohygiene spricht:

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Ich habe gehört, dass Ihr Buch in den USA großen Erfolg genossen hat. Welche Rückmeldungen haben Sie von Ihren amerikanischen Lesern erhalten? Haben ihnen Ihre Behandlungsvorschläge geholfen?

Ich erhalten jeden Tag einige E-Mails und Tweets von Menschen, denen das Buch geholfen hat. Die Rückmeldungen kommen jedoch aus der ganzen Welt, da es in 20 Sprachen übersetzt worden ist. Vor einigen Monaten sandte ich ein Gratisexemplar an eine Person, die mir aus einem Flüchtlingscamp geschrieben hatte. Er schickte mir ein Foto von dem Buch, als es angekommen war. Für mich bestätigt dies nur einmal wieder, wie universell Menschen Gefühle erleben – ungeachtet dessen, woher wir stammen, welcher Kultur oder Ethnie wir angehören oder welchen sozioökonomischen Status wir haben, teilen wir die gleichen emotionalen Reaktionen. In dieser Hinsicht sind wir alle gleich.

Welchen Einfluss auf den deutschsprachigen Raum erhoffen Sie sich von der Übersetzung Ihres Buches?

Ich habe viele E-Mails von Menschen erhalten, die um eine deutsche Übersetzung baten. Deshalb weiß ich, dass Bedarf besteht und die Leser sich darauf freuen. Ich hoffe, dass die deutsche Ausgabe eine breitere, wissenschaftlich fundierte Diskussion über Gefühle und den Umgang mit ihnen anregt. Wir tendieren dazu, zu glauben, dass alles, was unser Verstand uns mitteilt, richtig und wahr ist. Doch wie die Leser meines Buches feststellen werden, führt uns unser Verstand oft in die Irre. Wir müssen verstehen lernen, warum, wann und wie dies geschieht, damit wir nicht auf Weisen reagieren, die uns oder anderen schaden.

Ein sehr optimistischer Unterton durchzieht Emotionale Erste Hilfe – die Hoffnung, dass die Anwendung der von Ihnen propagierten psychohygienischen Praxis zu einem glücklicheren, zufriedeneren Leben führen kann. Sehen Sie Ihr Buch als einen großen Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel?

Absolut. Das war das Ergebnis, das ich mir während des Schreibens erhoffte. Mein TED-Talk (siehe Video oben) hat ebenso zu diesem Ziel beigetragen, da er großen Erfolg hatte und im ersten Jahr mehr als drei Millionen Mal angeschaut wurde. Meiner Meinung nach ist das Priorisieren der psychischen Gesundheit, das Erlernen mentaler Hygiene, das Erreichen besseren emotionalen Wohlergehens und insbesondere die Weitergabe dieses Wissens an Kinder eines der wichtigsten Dinge, die die Menschheit auf der ganzen Welt verbreiten sollte.

Ihr Buch in seiner jetzigen Form wurde bereits im Jahre 2013 veröffentlicht. Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen? Planen Sie, ein zweites Buch zu schreiben, oder sind Sie der Ansicht, mit diesem alles Notwendige niedergeschrieben zu haben?

Ich arbeite an einem neuen Buch, das sich jedoch noch in einem sehr frühen Stadium befindet. Ich spreche sehr oft auf Konferenzen und schreibe regelmäßig Beiträge für psychologytoday.com. Zusätzlich arbeite in an einer App, die auf meinem Buch basiert und dieses Jahr herauskommen wird – wahrscheinlich auch auf Deutsch. Darüber hinaus stelle ich gerade ein Science-Fiction-Jugendbuch fertig, das eine Zukunft schildert, in der Wissenschaftler die Arbeitsweise unseres Gehirns vollkommen entschlüsselt haben und die Menschen daher emotional sehr viel höher entwickelt sind. Es geschehen also gerade sehr viele spannende Dinge in meinem Leben.

Vielen Dank!

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Das Interview führte Dr. Stephan Dietrich.

Übersetzerin: Julia Welling

Was bedeutet Scheitern?

Mit Misserfolgen und Rückschlägen leben lernen

Von Prof. Dr. Jutta Heller

Niemand scheitert gern – ohne Scheitern kommt aber keiner durchs Leben. Ist es nicht an der Zeit zu lernen, wie wir besser damit umgehen können?

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Prof. Dr. Jutta Heller in einem Vortrag zu Scheitern und Resilienz: „Zusammengehörigkeit im Scheitern”

Sportjournalisten verwenden das Wort „scheitern” scheinbar routiniert in ihren Artikeln: Im Jahr 2015 ist beispielsweise nicht nur der FC Bayern München an Barcelona „gescheitert“ (www.focus.de vom 13.05.15), sondern auch Schalke 04 an sich selbst (www.derwesten.de vom 12.04.15). Hamburg scheiterte mit seiner Bewerbung für die Ruder-WM 2019, und die Hamburger Olympia-Befürworter sowieso. Im Sport braucht es also nicht viel, um gleich als „gescheitert“ zu gelten. Ganz so schnell wird das Label in der Wirtschaft oder im Privaten nicht verpasst, aber dennoch: Wenn Sie mal ganz ehrlich mit sich sind – haben Sie selbst auch solche Projekte? Die für Sie ein Scheitern darstellen, weil sie einfach nicht mehr „auf einen grünen Zweig“ zu bringen sind, und die Sie noch nicht als „Erfahrung“ abhaken können? Denn das ist ja ein ganz wichtiger Punkt am Scheitern: Sobald wir es akzeptiert und verarbeitet haben, empfinden wir es nicht mehr als solches.

Wirtschaftliches und persönliches Scheitern ist noch immer ein Tabuthema. Zwar ist es in letzter Zeit etwas „gesellschaftsfähiger“ geworden – nicht zuletzt durch erfolgreiche Bücher wie Gescheiter scheitern (Burmeister und Steinhilper, 2011), Berichte in diversen Zeitschriften zu gemeisterten Krisen oder das Durchführen sogenannter „Fail Nights“ (siehe unten). Es wird aber noch immer, im Gegensatz zum Erfolg, „für sich“ behalten. Dabei ist es ein so wichtiges und zentrales Thema, das uns alle betrifft. Manche früher, manche später, manche öfter und manche seltener, aber ganz ohne die Erfahrung, auch einmal gescheitert zu sein, kommt niemand durchs (Berufs-)Leben.

Das Scheitern feiern?

In den Fail Nights erzählen Menschen in einem kathartisch wirkenden Auftritt vor einem großen Publikum von ihrem Scheitern und werden dafür gefeiert. Dabei fällt oft der Name Max Levchin. Ich wünschte mir, dass Scheitern immer so ablaufen würde wie bei ihm. Max Levchin, Mitgründer von PayPal, erzählt von seinen Misserfolgen so: „Das erste Unternehmen, das ich gegründet habe, ist mit einem großen Knall gescheitert. Das zweite Unternehmen ist ein bisschen weniger schlimm gescheitert, das dritte ist auch anständig gescheitert, aber das war irgendwie okay. Ich habe mich rasch erholt, und das vierte Unternehmen überlebte bereits. Nummer fünf war dann PayPal“ (Quelle: brandeins 11/2014).

Für Levchin ist sein Scheitern inzwischen nicht viel mehr als eine Anekdote auf dem Weg zum Gründer eines der erfolgreichsten Internet-Unternehmen.

Verantwortung übernehmen

Aber es geht nicht darum, Scheitern so umzudeuten, dass es in die eigene Erfolgsgeschichte passt. Es geht darum, die Verantwortung für das Scheitern zu übernehmen, den eigenen Anteil am gescheiterten Projekt anzuerkennen und den der anderen – und an dem Gefühl, gescheitert zu sein, nicht zu zerbrechen. Gerade im Berufsleben definieren wir uns oft über das Ergebnis anstatt über unseren Einsatz, und leider werden wir auch von außen oft daran gemessen. Da kann es einen schon aus der Bahn werfen, wenn ein wichtiges Projekt misslingt – gerade wenn das auch noch öffentlich, vor dem eigenen Team, Kolleg(inn)en oder Kund(inn)en passiert.

Der Wirtschaftspsychologe Jörg Bauer von der Hochschule Fresenius hat in einer Studie die Reaktionen auf eine extreme Erfahrung des Scheiterns untersucht, nämlich wie Topmanager reagieren, wenn sie gekündigt werden. Er konnte vier Phasen der psychischen Verarbeitung unterscheiden. Die erste Phase ist der „Blitz und Absturz“: Der Manager ahnt bereits, dass ihm das Ende seines Arbeitsverhältnisses bevorsteht, will dies aber noch nicht wahrhaben. In der zweiten Phase „Ruhe vor dem Sturm“ sind die Verbitterung über die erfahrene Ungerechtigkeit und die Überzeugung, bald alles wieder im Griff zu haben, vorherrschend. Erst in der dritten Phase, „Der lange Regen“, kommt für die ehemaligen Topmanager die harte Erkenntnis, dass sich die Jobsuche trotz vorheriger herausragender Leistungen und guter geschäftlicher Beziehungen schwierig gestalten wird. Phase vier – „Die Wolken brechen auf“ – beschreibt den Weg aus der Krise, wenn eine Neuorientierung und eine Versöhnung mit dem eigenen Scheitern stattfinden.

Eine heftige Reaktion auf das Scheitern ist normal und wohl unvermeidlich. Wie können wir aber mit unserem Scheitern umgehen, um nicht persönlichen Schaden daran zu nehmen? Wenn wir es schaffen, uns selbst zu verzeihen, uns nach der negativen Erfahrung noch zu schätzen und zu vertrauen, dann kann so ein Misserfolg unsere Selbstwirksamkeit enorm stärken. Dann können wir nämlich potentiellen zukünftigen Situationen, in denen etwas missrät, gelassener entgegenblicken, weil wir sicher wissen: Ich kriege es hin, danach wieder aufzustehen und weiterzumachen. Dann haben wir für die Zukunft eine wertvolle Ressource mehr: eine gestärkte Resilienz (lesen Sie hier mehr zum Konzept der Resilienz).

Verantwortung heißt auch Eigenverantwortung

Misserfolge sind extreme Lebenserfahrungen. Und gerade im Angesicht eines scheinbar übergroßen, unlösbaren Problems oder eines gescheiterten Projekts wird es Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Nun haben gerade reflektierte, erfolgreiche Menschen, Führungskräfte und andere, die wichtige Entscheidungen treffen müssen, meist nicht das Problem, dass sie die Verantwortung für alle Fehlentscheidungen zu leicht von sich weisen. Ganz im Gegenteil: Der selbst gemachte Druck, für alles alleine verantwortlich zu sein, trägt sogar noch erheblich zum Gefühl des Gescheitertseins bei. Was wir dabei leicht ignorieren: Wir haben auch eine Verantwortung uns selbst gegenüber! Eigen-Verantwortung ist ein wichtiger Schlüssel zur Resilienz und bedeutet, dass wir erst einmal dafür sorgen müssen, funktionsfähig zu bleiben oder wieder zu werden – im Beruf, aber auch im Privatleben. (Im Übrigen: Lässt sich das überhaupt so genau trennen? Wenn es uns schlechtgeht, wird meist beides zum anstrengenden Kampfschauplatz.)

Misserfolge und große Krisen können uns so weit blockieren, dass wir selbst unsere elementaren Bedürfnisse vernachlässigen: essen, trinken, schlafen, Bewegung, soziale Bindung. Solche Erfahrungen werfen uns aus der Bahn, wir werden (zunächst) handlungsunfähig. In ihrem emotionalen Verlauf sind heftige Rückschläge mit traumatischen Erlebnissen vergleichbar, wenn natürlich auch in einer anderen Größenordnung. Deswegen begegnen wir solchen Situationen am besten mit einem der Traumatherapie entliehenen „Erste-Hilfe-Paket“: Zuerst müssen wir uns stabilisieren, bevor wir die Erfahrung bearbeiten und letztendlich integrieren können. Stabilisieren kann im Moment einer schweren Krise bedeuten, sich Routinen zu schaffen, die Sicherheit und Halt geben. Jeden Tag zur selben Zeit aufstehen, jeden Tag zur Arbeit gehen, jeden Abend einen heißen Tee mit Honig trinken – das gibt einen äußeren Rahmen, an dem wir uns orientieren können, und nimmt uns die Last zusätzlicher Entscheidungen. Menschen sind verschieden, manche brauchen in dieser Zeit der Stabilisierung viel Kontakt zu anderen, um die Erfahrung in Gesprächen zu reflektieren oder sich einfach abzulenken. Andere igeln sich ein, brauchen vor allem Ruhe und Geborgenheit in einem vertrauten Zuhause. Gönnen Sie es sich, Ihren Bedürfnissen in dieser Situation nachzugeben! Wichtig dabei ist, sich bewusst zu sein, dass diese Phase nicht Resignation oder „Aufgeben“ bedeutet, sondern den ersten Schritt auf dem Weg zur Verarbeitung Ihres Scheiterns markiert. Erst mit etwas Abstand kann dann das erste Nachdenken, das Überprüfen der gemachten Erfahrung gelingen. Im Nachhinein betrachten viele Menschen die Erfahrungen ihres Scheiterns als wichtig und wertvoll, weil sie etwas daraus gelernt haben oder weil es eine entscheidende Weichenstellung für eine positive Entwicklung war – siehe Max Levchin mit PayPal. Und so manches Mal zeigt uns ein Scheitern sogar auf, dass wir stärker sind als gedacht, und führt dazu, dass wir beim nächsten Mal mutiger und gelassener agieren. Wir können nämlich nicht immer beeinflussen, was uns geschieht, aber es liegt in unserer eigenen Verantwortung, wie wir das Geschehen wahrnehmen, bewerten und darauf reagieren.

„Es ist niemals die Umgebung; es sind niemals die Ereignisse in unserem Leben, sondern die Bedeutung, die wir damit verknüpfen – wie wir sie interpretieren – das entscheidet darüber, wer wir heute sind und wer wir morgen sein werden.“

(Tony Robbins)

 

  Über die Autorin:

Prof. Dr. Jutta Heller steht für „Resilienz“, dem Fachbegriff für innere Stärke. Die Dinge akzeptieren, wie sie sind, Eigenverantwortung übernehmen, seelische Widerstandskraft entwickeln: Das sind die Kernelemente ihres überzeugenden Konzepts, mit dem sie seit über 25 Jahren Menschen aus den unterschiedlichsten Kontexten zu ihren mentalen Ressourcen führt. Neben ihrer selbständigen Beratungstätigkeit ist sie Professorin für Training & Business Coaching in der wirtschaftspsychologischen Fakultät an der Hochschule für angewandtes Management Erding. Prof. Dr. Heller ist auch Organisatorin des jährlichen Coaching-Kongresses in Erding.

Seit 2015 gibt Prof. Heller ihre Expertise in einer Zertifikatsausbildung weiter. Die Ausbildung umfasst u.a. Grundlagen zu Resilienz, Tests und Resilienzmodelle, individuelle Resilienz (zu diesem Bereich gehört die in diesem Beitrag behandelte Eigenverantwortung), organisationale Resilienz und Konzepte für Coaching, Training und Gesundheitsmanagement.

Mehr Informationen erhalten Sie unter www.juttaheller.de

 

Resilienz – Licht in unserer Seele

Von Fabienne Berg

Stellen Sie sich vor, Sie stehen wochentags am Abend in der Küche und sind gerade dabei, Tomaten für eine Soße klein zu schneiden. Die Spagetti sind bereits im Topf und im Hintergrund verliest ein Radiosprecher die Katastrophen aus aller Welt.

Plötzlich geht über Ihnen die Deckenlampe aus. Der Nachrichtensprecher verstummt mitten im Satz und der Kühlschrank hört auf zu brummen. Stromausfall. Ausgerechnet jetzt! Aber kein Wunder – heute war schon den ganzen Tag der Wurm drin: Ärger bei der Arbeit, Stau auf der Autobahn, eine Nachzahlung im Briefkasten und jetzt scheint es noch nicht einmal mit dem Abendessen zu klappen.

Sie verharren einen Augenblick und lauschen in die Dunkelheit. Aber außer dem Pfeifen des Windes, der den Novemberregen gegen die Fensterscheiben treibt und Ihrem eigenen Herzschlag ist nichts zu hören. Dann denken Sie an das Naheliegende. Irgendwo hier in den Schubläden müssten Teelichter und ein Feuerzeug sein. Aha. Gefunden! Sie zünden ein Teelicht an und gehen zum Sicherungskasten. Doch da scheint alles in Ordnung zu sein. Vermutlich ist die ganze Straße, wenn nicht sogar das ganze Viertel betroffen. Sie beschließen, während Sie mit dem Teelicht in der Hand durch den Flur in Richtung Badezimmer tappen, das heutige Datum unter der Kategorie „Nicht mein Tag“ abzuhaken und ins Bett zu gehen. Doch kurz vor der Badezimmertür gibt die kleine Flamme ihren Geist auf und der Docht erlischt.

Na, toll. Sie machen vorsichtig wieder kehrt und tasten sich zurück in Richtung Küche. Küchentüre öffnen, Schublade finden und ein neues Teelicht anzünden. Besser zwei. Sicher ist sicher. Also drei. Das sieht schön aus! Vier. Das macht Spaß, ist fast wie Weihnachten. Apropos: Wo ist eigentlich die hübsche Kerze, die Sie letztes Jahr geschenkt bekommen haben? Sie machen sich im Wohnzimmer auf die Suche. Die Kerze finden Sie nicht. Dafür eine Postkarte aus Lissabon, die Ihnen eine alte Schulfreundin im Sommer geschickt hatte. Was die wohl macht? Sie legen die Karte auf den Wohnzimmertisch und suchen nach weiteren Kerzen. Eine viertel Stunde später leuchtet das ganze Wohnzimmer. Schön sieht das aus und der Raum fühlt sich irgendwie ganz warm an. Sie machen es sich auf der Couch bequem und nehmen die Postkarte in die Hand. Als Motiv hat der Fotograf das Castelo de Sao Jorge gewählt. In natura ist es steinfarben. Jetzt im Kerzenschein schimmert es golden.

Sie versuchen sich zu erinnern. Hatten Sie sich eigentlich für die Karte bedankt? Nein. Warum eigentlich nicht? Vermutlich war wie meistens zu viel los gewesen und die Karte ist irgendwie untergegangen. Ihr Handy liegt neben Ihnen auf dem Tisch. Ihre Freundin nimmt nach dem dritten Läuten ab und freut sich total über Ihren Anruf. Sie führen ein sehr nettes Gespräch. Später wählen Sie noch eine Nummer. Die vom Lieferservice eines portugiesischen Restaurants. Ihre Freundin hat Ihnen ein Gericht empfohlen und der Fisch schmeckt wirklich großartig.

Und noch etwas später kommt Ihnen die Idee, bei Ihrer Nachbarin nachzufragen, ob alles in Ordnung ist. Normalerweise haben Sie sich nicht so viel zu sagen. Und wenn ja, dann geht es meistens darum, dass Sie Ihr Auto aus der Einfahrt wegparken sollen oder die Nachbarin bemängelt, dass Sie gelegentlich vergessen die Haustür abends abzuschließen. Komisch, dass Sie gerade jetzt an sie denken müssen. Und noch merkwürdiger, dass die alte Dame ganz aus dem Häuschen ist, als Sie sich nach ihr erkundigen. Offenbar passiert ihr das nicht so häufig.

Möglicherweise kommen Ihnen noch ganz andere Ideen, wie Sie den Abend ohne Strom verbringen. Vielleicht nehmen Sie bei Kerzenschein ein duftendes Schaumbad oder laden jemanden zu sich ein. Oder etwas ganz anderes. Etwas später, kurz bevor Sie schlafen gehen wollen, geht auf einmal das Licht in der Küche und im Flur an. Der Kühlschrank fängt nach einem verschluckenden Geräusch wieder an zu brummen und im Radio spielen sie gerade einen alten Song, den Sie über alles lieben. Sie gehen noch einmal ins Wohnzimmer und blicken auf das flackernde Kerzenmeer. Auf dem Tisch liegen die Postkarte aus Lissabon, zwei leere Schachteln vom Portugiesen und daneben steht eine Flasche Pfälzer Wein. Den wollte Ihnen Ihre Nachbarin unbedingt mitgeben, weil sie sich so sehr über Ihren Besuch gefreut hat.

Dieser Abend wird Ihnen noch Jahre später in Erinnerung sein. Nicht so sehr als der Abend, an dem bei Ihnen der Strom ausfiel; vielmehr als jener besondere Abend, an dem Sie sich dafür entschieden haben, ein Licht anzuzünden.

Wenn es Zeiten in unserem Leben gibt, in denen wir das Gefühl haben, dass um uns herum alles dunkel ist, so kann ein noch so kleines Licht viel bewirken.

Wenn wir uns allein und traurig fühlen, kann uns ein einziger mitfühlender Satz wie ein Leuchten in der Dunkelheit sein.

Und wenn wir seelisch frieren, kann uns der Gedanke an ein Licht der Hoffnung innerlich wärmen und uns neuen Mut schenken.

Zwei Lichter oder besser drei oder vier besitzen die Kraft, die Dunkelheit zu vertreiben und unsere Situation in einem ganz neuen Licht zu betrachten.

Dieses neue Licht kann uns Handlungsspielräume und Möglichkeiten eröffnen, an die wir bislang vielleicht noch nie gedacht hatten.

Nichts anderes ist Resilienz.

Resilienz bedeutet, da ein Licht zu entzünden, wo es dunkel bei uns ist.

Resilienz bedeutet, darauf zu vertrauen, dass es Lösungen für unsere Schwierigkeiten gibt und diese Haltung kann uns dabei helfen, den Lösungen Schritt für Schritt näher zu kommen.

Resilienz ist die Verbindung aus positiver innerer Einstellung und praktischer Handlungskompetenz. Wir akzeptieren, was nicht geht; suchen nach Lösungen, statt zu klagen; lassen los, was uns schadet; schlagen neue Wege ein, wo alte versagen und gehen optimistisch unseren Weg, anstatt uns zu sehr auf das Negative zu konzentrieren und es dadurch über Gebühr mächtig werden zu lassen.

Nach einem Stromausfall geht gewöhnlich irgendwann das Licht auch wieder an. Nicht von allein, sondern weil die Stadtwerke den Fehler behoben haben. Auch das Leben geht irgendwie immer weiter. Doch dafür, wie es uns dabei geht, ist ganz entscheidend, wie wir unser Leben empfinden. Normalerweise wird nicht wie von Zauberhand das Licht wieder angeknipst, wenn wir das Leben als dunkel und kalt wahrnehmen. Damit wir das Leben als hell, warm und glücklich empfinden, braucht es ein Licht in uns selbst. Ein Licht, das unsere Seele wärmt; ein inneres Feuer, das uns Motor ist für unsere Träume und Wünsche und das uns immer weitermachen lässt.

In uns allen gibt es dieses Licht.

Es kann von innen entzündet und von außen inspiriert und berührt werden.

Das Leben ist voll von Ereignissen, die wir weder vorausahnen noch beeinflussen können. Schlimme Erlebnisse, die uns mit voller Wucht treffen, können und schmerzen, genauso wie die schönen Situationen und Augenblicke, die uns für immer im Gedächtnis bleiben.

Diese schönen Momente gilt es wahrzunehmen und sich von ihnen inspirieren und berühren zu lassen. Sie können uns dabei helfen, das Licht unserer Seele immer intensiver und wahrhaftiger zum Leuchten zu bringen.

Und wenn dann irgendwann mal wieder der Strom ausfällt, wird es nie wirklich dunkel sein.