Beiträge

Podcast-Folge 98: Apropos … Achtsamkeit für Skeptiker:innen!

Was ist Achtsamkeit? Der Begriff ist ein wenig in Ungnade gefallen. Die einen suchen mit ihrer Hilfe den Seelenfrieden, andere werten sie als „Esoterik-Kram“ ab. Achtsamkeit wird schnell in einen Topf geworfen mit Yoga und Meditation und Übungen, die uns ins Hier und Jetzt tragen und innere Erfüllung bringen sollen. Doch Achtsamkeit ist mehr als die Anwendung bestimmter Techniken. „Sie ist ein langer geistiger Prozess, eine Lebenseinstellung. Sie ist ein Suchen und Finden, eine tiefe Sehnsucht nach den wesentlichen Fragen des Lebens, sagt Renato Kruljac. Er ist Achtsamkeitstrainer und hat nach zwei Jahrzehnten als Führungskraft bei einem internationalen Konzern die Segel gestrichen, um sich der professionellen Achtsamkeitspraxis, fernöstlichen Kampkünsten und psychologischen Methoden zu widmen. Ernsthaft praktiziert, sagt er, ist die Achtsamkeit ein ständiger Begleiter, an der wir wachsen können.

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Podcast-Folge 77: Apropos … Tod!

Im hektischen und meist vollgepackten Alltag vergessen wir oft, dass unser Dasein endlich ist. In der neuesten Folge von Apropos Psychologie! zeigt der Dipl.-Pädagoge, Trainer und Coach Rüdiger Standhardt auf, warum es so wichtig ist, das (Tabu-)Thema Tod nicht auszublenden und sich stattdessen frühzeitig und achtsam damit auseinanderzusetzen. Dabei geht es auch um die essentielle Frage: Erfüllt mich mein Leben so, wie ich es gerade lebe?

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Buch des Monats

Buch des Monats – Februar 2022: „Resilient durchs Studium“ von Rolf Wartenberg

Die Zeit des Studiums bietet Möglichkeiten der Selbstentfaltung, genauso wie sie Rückschläge, Krisen und Belastungen mit sich bringen kann. Um die Möglichkeiten jener Lebensphase voll auszuschöpfen, braucht es Effizienz in guten Zeiten und Resilienz dann, wenn der Druck durch Prüfungen und Leistungsanforderungen steigt oder Rückschläge verkraftet werden müssen. Weiterlesen

Was bedeutet – für Sie persönlich – ein gelungenes Leben?

Raum für Neues

Alle Menschen wünschen sich ein Leben, das ihrer Persönlichkeit, ihren Bedürfnissen und Interessen entspricht. Ein gelungenes Leben also. Was „gelungen“ aber genau bedeutet, entscheidet jeder selbst. Und da beginnt die Herausforderung. Unsere Freiheit beglückt und verunsichert uns zugleich. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken. Unzufriedenheit erfüllt sie, obwohl sie doch scheinbar alles haben, um glücklich zu sein.

Das neue Buch von Andrea Landschof Das bin ich!? richtet sich an Menschen, die Lust auf Veränderung haben und ihre verborgenen Talente entdecken möchten. Es hilft dabei, Lebensgeschichten (und -lügen) zu überprüfen und den Blick zu weiten auf noch nicht genutzte Chancen und Potenziale. Mit Methoden der Transaktionsanalyse gelingt es, unsere Persönlichkeit und unsere Beziehungen zu uns selbst und anderen zu reflektieren, zu verstehen sowie Veränderungen zu initiieren.

 

Lust auf einen ersten (Lese-)Eindruck? Na, dann los …

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Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser,

gehören auch Sie zu den Menschen, die ihren persönlichen und/oder beruflichen Weg aus den Augen verloren haben? Haben Sie das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken? Vielleicht sind Sie unzufrieden und drehen sich im Kreis; wissen nicht, ob Sie gehen oder bleiben sollen und ob die Entscheidung, zu der Sie tendieren, tatsächlich die richtige ist. Sie empfinden Leidensdruck aufgrund der aktuellen Situation und haben dennoch Angst vor einer Veränderung? Sie können nicht genau sagen, was Ihnen fehlt oder woher Ihre Unzufriedenheit rührt? Sie sind unsicher und wissen nicht, was Sie wollen – oder gar können – und wie Sie eine Veränderung initiieren sollen? – Dann begeben Sie sich mithilfe dieses Buches auf eine ganz persönliche Zeitreise und lassen Sie sich überraschen, was in Ihnen steckt!

Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, über welche Möglichkeiten sie verfügen. Unsere frühen Prägungen haben oftmals unsere Potenziale untergraben. Sie wurden verdrängt oder abgespalten, weil sie nicht gefragt, nicht erlaubt oder nicht erwünscht waren. „Kinder mit einem Willen kriegen was auf die Brillen!“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ oder „Sei sittsam und bescheiden, das ist die schönste Zier, dann kann dich jeder leiden, und dieses wünsch ich dir“ sind möglicherweise früh übernommene Glaubenssätze, die uns noch heute beeinflussen und boykottieren können. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen, weil wir den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und Impulsen verloren haben. Wir zeigen keine Gefühle, weil diese uns selbst fremd geworden sind, und verhalten uns anspruchslos und angepasst. So bewegen wir uns jedoch mit angezogener Handbremse durchs Leben. Unsere in uns schlummernden Talente liegen brach. Dabei geht es im Leben doch darum, Veränderungen kraftvoll und selbstbestimmt zu gestalten, gute Entscheidungen zu treffen und neue Pfade zu gehen, zu sich zu stehen, mit Rückschlägen konstruktiv umzugehen, mit unliebsamen Gewohnheiten zu brechen oder gesetzte Ziele zu verfolgen.

Es muss also etwas anders werden, damit sich die Unzufriedenheit in Zufriedenheit und innere Ruhe verwandelt.

Seit über drei Jahrzehnten beschäftige ich mich mit persönlicher und beruflicher Entwicklung. In meiner Arbeit als Beraterin und Ausbilderin begegnen mir viele Menschen, die in Sackgassen feststecken und wieder Vertrauen in ihre eigene Selbstwirksamkeit gewinnen möchten, die sich fragen: „Wer bin ich eigentlich?“ und „Wohin möchte ich mich verändern?“. Sie wünschen sich Gewissheit, all ihre Potenziale und Talente im Leben auszuschöpfen.

Talent meint im Volksmund in der Regel eine besondere Begabung mit hervorstechenden Merkmalen, die nicht selten geldwerte Vorteile bringt. Es herrscht dabei heute noch der Mythos eines begnadeten Genies vor, dem alles ohne Mühen zufliegt. Wenn ich in diesem Buch von Talenten spreche, verbinde ich damit allerdings keine außerordentliche Begabung oder besondere Leistungsvoraussetzung einer Person auf einem bestimmten Gebiet. Es geht nicht um Talente, die sich mit genetischer und sozialisationsbedingter Unterstützung als überdurchschnittliche Fähigkeiten zeigen, die dann durch Übung weiter gefördert werden. So möchte ich Talente an dieser Stelle nicht verstanden wissen, sondern vielmehr als generelle Anlage und die Befähigung eines Menschen, sein Leben mit all seinen Herausforderungen zu meistern und dabei seine Fähigkeit zu denken, zu fühlen und zu handeln zu nutzen, um stimmige Lösungen zu kreieren.

Ich gehe davon aus, dass in jedem von uns von Geburt an ein unverwechselbares Wesensmuster angelegt ist. Wir reifen heran zu dem, was den Kern unserer Identität ausmacht, sofern uns die Gelegenheiten dazu gegeben sind und wir die Chancen nutzen, die uns das Leben bietet. Wir sind nicht nur ein von außen determiniertes Wesen, und wir sind nicht nur abhängig von Genetik und soziokulturellen Faktoren. Wir haben die Wahl, den Spuren unseres Wesens und unserer Talente zu folgen. Dabei muss unsere Talententwicklung nicht zu etwas Spektakulärem führen, wie etwa zu bahnbrechenden physikalischen Erkenntnissen im Ausmaß der Relativitätstheorie oder zu grandiosen Kompositionen wie die von Mozart. Talente auszuleben und sich zu etwas berufen zu fühlen kann auch bedeuten, dass Sie Ihren kreativen oder mathematischen Begabungen nachgeben, dass Sie verantwortungsvoll für Ihre Großmutter sorgen oder eine Familie gründen. Vielleicht entspricht es Ihrem Wesensmuster, eine bestimmte Lebensart zu pflegen oder einem bestimmten Hobby nachzugehen. Um seelisch und körperlich gesund zu bleiben, gilt es, unser Wesen zu respektieren und mit uns in Einklang zu bringen. Manche Prägungen drängen uns jedoch von diesem Kurs ab. Und damit geraten auch unsere Talente aus dem Fokus. Und werden zu sogenannten latenten Talenten. Unter latenten Talenten verstehe ich verdeckte, verhüllte, schlummernde, unbewusste, ungenutzte und im Verborgenen liegende Befähigungen, Anlagen und Potenziale des Denkens, Fühlens und Handelns. Um unsere Authentizität zu wahren, gilt es, unsere in uns schlummernden Talente zu entdecken, zu entwickeln und auszuschöpfen.

Die meisten Menschen tragen eine Sehnsucht in sich, ihr Leben so zu verändern, dass sie das Gefühl haben, „heil“ zu sein, wie es einmal eine Klientin ausdrückte. Dieses Buch ist ein Leitfaden und Arbeitsbuch für Menschen, die ihre eingefahrenen Sackgassen überprüfen und die ihre Blicke auf (nicht genutzte) Chancen und (nicht gelebte) Potenziale richten möchten; Menschen, die Lust auf Veränderung haben; die ihr Leben wieder in Passung mit ihrem Wesenskern bringen und es in Verbindung mit ihren äußeren Umständen gestalten wollen.

Sie werden zu einer persönlichen Zeitreise eingeladen, Ihr Leben im Heute zu reflektieren, mit Erfahrungen von gestern umzugehen und Visionen für morgen zu entwickeln. Und dabei soll die Wahrnehmung des bereits Gelungenen nicht außer Acht gelassen werden. Entdecken Sie Ihre verborgenen Talente, um mit deren Hilfe gute Entscheidungen zu treffen, Ihre persönlichen und beruflichen Herausforderungen zu meistern und stimmige und aktuelle Lösungen für unterschiedliche Problemlagen zu kreieren. Dazu spüren Sie aktuelle Störfaktoren auf und prüfen, was für Sie und Ihre Veränderungsprozesse jeglicher Art hilfreich sein könnte: die Komfortzone verlassen, sich von alten Sehnsüchten verabschieden und unsere Potenziale in den Erinnerungen entdecken. Sie entdecken den roten Faden in Ihrem Leben, der sich als Grundmuster Ihrer Persönlichkeit durch Ihre Biografie zieht und der nicht mehr passende und einschränkende Glaubenssätze zum Vorschein bringt. Sie entlarven Ihre Selbstsabotageaktionen. Das heißt, Sie werfen einen Blick auf Ihre unbewusst und selbst entwickelten „Stolpersteine“, mit denen Sie sich bisher in unterschiedlichen Lebenslagen ein Bein gestellt haben, zum Beispiel, indem Sie immer wieder an den „falschen“ Partner oder in den „falschen“ Job geraten sind. Und Sie erhalten Ideen zur Auflösung dieser Glaubenssätze. Mithilfe dieses Buches finden Sie heraus, warum Sie in bestimmten Situationen immer gleich reagieren, obwohl Sie es eigentlich anders wollen, und welche psychologischen Spiele Sie dabei immer wieder unbewusst spielen. Sie entkräften die Antreiber, die Sie im Alltag stressen, und lernen, was Sie brauchen, um stimmige persönliche und berufliche Entscheidungen treffen zu können. Zum Abschluss erfahren Sie, wie Sie sicher durch Zeiten des Umbruchs und der Veränderung kommen. Für die Übergangsphase werde ich Ihnen zur Unterstützung sechs konkrete Handlungsschritte zur inneren und äußeren Neuentscheidung zur Verfügung stellen, die Sie individuell für Ihren Prozess gestalten können.

Sie werden in diesem Buch immer wieder Ausführungen zur Transaktionsanalyse (TA) finden:

Die TA wurde von dem US-amerikanischen Psychiater und Psychotherapeuten Eric Berne (1919–1970) auf der Basis tiefenpsychologischer und verhaltenstheoretischer Ansätze entwickelt. Die TA fördert die Wahrnehmung des eigenen Erlebens, Denkens und der Emotionen und lädt zur Realitätsüberprüfung ein: Stammt mein Fühlen, Denken und Handeln aus dem Gestern oder ist es stimmig mit mir als Person und mit meiner heutigen Lebenswelt? In einfachen Worten umschrieben, bietet die TA Erklärungen für komplexe Sachverhalte in Ihrem Leben. Sie schärft den Blick für das Wesentliche.

Wenn Transaktionsanalytiker auf soziale Interaktionen oder einzelne Personen schauen, leitet sie die Überzeugung, dass Menschen von ihrem Wesen her in Ordnung sind und jeder die Fähigkeit hat zu denken. Transaktionsanalytiker gehen davon aus, dass es jedem Menschen möglich ist, durch das Nutzen seiner ihm innewohnenden Ressourcen autonome Entscheidungen für sich und andere zu fällen und die Verantwortung für diese Entscheidungen zu tragen. Damit verbunden, leitet sich die Lern- und Veränderungsfähigkeit eines jeden Menschen ab. Die Transaktionsanalyse hat das Ziel, Menschen darin zu unterstützen, ein selbst gestaltetes, selbst verantwortetes und autonomes Leben in Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt zu führen. Dazu benutzen wir unsere Fähigkeit zur Bewusstmachung der momentanen Gegebenheiten und unsere Fähigkeit, aus einer Bandbreite verschiedener energetischer Zustände auszuwählen. Diese als Spontaneität bezeichnete Fähigkeit beinhaltet eine Flexibilität, mit der wir in der Lage sind, Alternativen im Fühlen, Denken und Verhalten zu kreieren und im Hier und Jetzt zu handeln. Wir können frei auswählen und entsprechende unterschiedliche Reaktionsmuster einsetzen, ohne auf festgefahrene Erlebens- und Verhaltensmuster zurückzugreifen. Dabei sind wir bereit, uns auf einen echten emotionalen Kontakt mit anderen Menschen einzulassen. Diese Form von Intimität erlaubt es uns, Beziehungen und Begegnungen mit anderen zu gestalten, die frei von Spielen und Manipulationen sind. Wir können Nähe und Zuwendung geben und annehmen. Autonomie wird als „bezogene Autonomie“, die den Menschen in seiner Verantwortung als Teil der Welt darstellt, angesehen. Die TA bietet Instrumente zur Analyse und stellt Strategien zur Veränderung von inneren und äußeren Prozessen zur Verfügung.

Im Folgenden werden Sie die grundlegenden Konzepte der TA kennenlernen sowie Fallbeispiele, Erfolgsgeschichten, Tests und Anregungen zur Selbstreflexion erhalten, mit deren Hilfe Sie Ihre Verhaltensmuster untersuchen, verstehen und verändern können.

Ebenso kann dieses Buch auch von Beratern und Coaches in der Beratungspraxis eingesetzt und zum Thema persönliche und berufliche (Neu-)Orientierung und Entwicklung genutzt werden.

Je nachdem, an welchem Punkt Sie sich gerade befinden, können Sie das Buch chronologisch oder auch abschnittsweise lesen.

Aus Gründen der Lesefreundlichkeit verwende ich die männliche Form, wenn männliche wie weibliche Personen gemeint sind.

Zum persönlichen Schutz der Klienten sind alle Namen von Personen und Daten, die in diesem Buch als Anwendungsbeispiele verwendet werden, von mir geändert worden.

 

1. Alter Trott oder neue Wege? Wie Veränderung gelingt

 

1.1 Die Komfortzone verlassen

Denken Sie gerade intensiv über Ihre aktuelle private und berufliche Lebenssituation nach? Haben Sie Lust, die Ziele, die Sie verfolgen, zu überprüfen? Glauben Sie, dass in Ihnen noch verdeckt liegende Potenziale schlummern, und möchten Sie Ihren latenten Talenten auf die Spur kommen? Dann sind Sie in guter Gesellschaft! Das Bedürfnis nach Sinnerfüllung in Beruf und Privatleben entspricht inzwischen dem Zeitgeist. Das an sich ist völlig legitim und nachvollziehbar. Im Zeitalter des „Anything goes“ haben wir jedoch fast unendlich viele Wahlmöglichkeiten und stehen vor ganz individuellen Entscheidungen, wie wir unser privates und berufliches Leben gestalten wollen. In unserer mobilen Gesellschaft sind die unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitsformen erlaubt. Lebensläufe sind nicht mehr vorgegeben, und entscheidende Veränderungen sind in jedem Lebensalter möglich. Identitäten können frei gewählt werden und laden Menschen zu stetigen Anpassungsleistungen ein. Was ein gelungenes Leben bedeutet, steht jedem frei, selbst zu entscheiden.

In meiner Arbeit erlebe ich die Freude vieler Frauen und Männer über ihre unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten und gleichzeitig ihre damit verbundene Verunsicherung. Die große Auswahl an Lebensentwürfen bietet uns eine bisweilen verwirrende Vielfalt. Viele scheinen erschöpft zu sein ob des stetigen Entscheidungsdrucks und des empfundenen Zwangs, dauerhaft ihr Wohlgefühl zu maximieren.

Um der Dynamik um uns herum gewachsen zu sein und ihr standzuhalten, ist es hilfreich, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und das Leben so zu gestalten, dass wir im Einklang mit uns selbst und der Umwelt leben. Trotz oder gerade wegen der rasanten Veränderungen im Außen ist es wichtig, eine innere Stabilität zu wahren. Sonst werden wir zum Spielball der äußeren Verhältnisse. Psychische Widerstandsfähigkeit, die sogenannte Resilienz, erlangen wir unter anderem, indem wir uns mit der eigenen Biografie aussöhnen und unsere Potenziale ausschöpfen.

(…)

Das klingt zunächst recht simpel. Wie oft haben Sie schon gehört, dass Sie „einfach nur“ Sie selbst sein sollen und auf sich hören müssen, um ein authentisches Leben führen zu können? Aber so einfach ist es für viele Menschen eben nicht, da ihnen das Entscheidende fehlt: Die Erkenntnis, wer sie sind. Sie kennen ihre Potenziale nicht, und auch ihre inneren Motive sind ihnen fremd.

Um das subjektiv „Beste“ in uns zu entdecken, lohnt es sich, unsere Komfortzonen zu verlassen. Und es lohnt sich, unsere Persönlichkeit infrage zu stellen und lieb gewonnene Gewohnheiten abzulegen. Um Platz machen zu können für das Neue in uns.

Wir können auch als Erwachsene unsere Resilienzfaktoren fördern, wenn wir sie als Kind nicht erworben haben. Beispielsweise können Sie in diesem Buch herausfinden, wie die Muster, mit denen Sie die Welt erfassen, Ihre Reaktionen auf Stress- und Entscheidungssituationen prägen. Ganz im Sinne von Aaron Antonovsky (1997), einem israelisch-amerikanische Medizinsoziologen, geht es darum, Ihr Kohärenzgefühl zu stärken. Das Kohärenzgefühl ist eine Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß Sie ein Gefühl des Vertrauens darauf haben, dass Ereignisse und Dinge, die sich im Lauf Ihres Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit), Ihnen Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen dieser Ereignisse und Dinge zu begegnen (Bewältigbarkeit), und dass diese Anforderungen allesamt Herausforderungen sind, die Ihre Anstrengung und Ihr Engagement wert sind (Sinnhaftigkeit).

Im Zusammenhang mit Persönlichkeits- und Potenzialentwicklung ist auch die Frage interessant, ob unsere Persönlichkeit eigentlich festgelegt ist – oder in welchen Bereichen und in welchem Ausmaß wir uns oder unsere Charaktereigenschaften verändern können. Damit verbunden sehe ich auch die Frage, auf welche Weise wir Menschen an unsere Potenziale herankommen. Können wir überhaupt etwas entwickeln, das nicht da ist? Und wenn es vorhanden ist – als im Verborgenen liegende Ressource angelegt –, wie kommen wir dann an die Potenziale heran und können sie „ent-wickeln“?

Unterschiedliche Erklärungsansätze gehen heutzutage davon aus, dass unsere Persönlichkeit teilweise genetisch verwurzelt und teilweise durch Sozialisation geprägt ist. Ruhen Sie sich bitte nicht darauf aus, dass Sie dieses oder jenes vererbt bekommen haben oder dass Sie unwiderruflich durch Ihre Familie geprägt wurden. Diese Sichtweise würde uns jeglicher Freiheit berauben und uns zu Sklaven unserer Gene und Sozialisation machen. Unsere Persönlichkeit und damit auch unsere Lebensweise wären in diesem Fall durch innere (genetische) und äußere (sozialisierte) Vorgaben (vor-)bestimmt und eingeschränkt. Manche Persönlichkeitsanteile werden sicherlich immer unverändert bleiben. Sie werden als leiser Mensch nicht von heute auf morgen zu einem lauten Menschen werden. Aus einem extravertierten Menschen wird kein introvertierter Mensch. Wir haben aber die Gabe, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften flexibel und zeitlich begrenzt einzusetzen, auch wenn sie unserer Natur wiedersprechen. So mussten Sie vielleicht auch schon einmal vor einer größeren Ansammlung von Menschen eine Rede halten, obwohl Sie solche Auftritte nicht sonderlich mögen. Mir geht es jedoch nicht um solche strategisch konstruierten und zeitlich begrenzten Aktionen, die wider unsere Natur sind. Es geht darum, dass Sie sich Ihren bisherigen Prägungen entgegenstellen und diese hinterfragen. Es ist möglich, über die beiden Einflussfaktoren Gene und Umwelt hinaus unsere individuellen Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu verändern und die darin liegenden Potenziale ans Tageslicht zu bringen.

Lassen Sie uns mit einer Übung zur Potenzialentwicklung beginnen, und spüren Sie nach, ob Ihre Komfortzone dadurch berührt wird.

Bei der folgenden und allen anderen praktischen Übungen in diesem Buch sind Sie eingeladen, in Ihrem eigenen Tempo zu arbeiten und diesem entsprechend Pausen einzulegen, bevor Sie weiterlesen. Manche Fragestellungen und Anregungen benötigen vielleicht ein wenig mehr Zeit, damit das Gelesene und von Ihnen Geschriebene „sacken“ kann. Unterbrechen Sie dann gern die Aufgaben, gehen Sie spazieren oder unterhalten Sie sich mit einem lieben Menschen über Ihre Gedanken. Die Antworten auf die Fragen zur Selbstreflexion und zum Selbstanalysebogen werden Sie zu einer sehr persönlichen Zeitreise einladen. Sie identifizieren Ihre Schwachstellen und neuralgischen Punkte als auch Ihre Stärken und Ressourcen. Gehen Sie bitte nachsichtig und milde mit sich um. Alles, was Sie bisher entwickelt haben, hatte seinen Sinn und Zweck und seine Berechtigung zu seiner Zeit. Ich finde, es verdient eine Würdigung, dass Sie Ihr Leben auf Ihre eigene Art und Weise bis hierhin und heute gestaltet haben.

Die erste Anregung zur Selbstreflexion finde ich sehr wirksam, wenn es darum geht, unsere persönlichen Komfortzonen zu verlassen. Hinterfragen Sie Dinge, von denen Sie glauben, sie nicht zu können, oder von denen Sie glauben, sie tun zu müssen.

 

Anregung zur Selbstreflexion 1:  „Ich kann nicht“ und „Ich muss“

Schauen Sie auf Ihre derzeitige Lebenssituation und auf all das, was Sie meinen, nicht zu können. Typische Antworten wären zum Beispiel: „Ich kann diese Ungerechtigkeiten von X nicht mehr ertragen“ oder „Ich kann nicht Klavier spielen“. Lassen Sie sich Zeit und schreiben Sie so viele Sätze, wie Sie mögen, zu diesem Satzanfang auf.

Ich kann nicht …

Denken Sie nun an Dinge, von denen Sie glauben, dass Sie sie tun müssen. Zum Beispiel: „Ich muss jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen und zur Arbeit gehen“ oder „Ich muss nachgiebiger werden“. Schreiben Sie einfach alles das auf, was Ihnen spontan aus Ihrem privaten und beruflichen Bereich einfällt:

Ich muss …

 

„Ich will nicht“

Wiederholen Sie nun bitte Ihre Ich-kann-nicht-Sätze und ändern Sie sie um in Ich-will-nicht-Sätze (z. B. „Ich will diese Ungerechtigkeiten von X nicht mehr ertragen“).

„Ich entscheide mich“

Wiederholen Sie nun Ihre Ich-muss-Sätze und ändern Sie sie um in Ich-entscheide-mich-Sätze (z. B. „Ich endscheide mich, jeden Morgen um sechs Uhr aufzustehen“).

Welche Auswirkungen hat das Ersetzen der Formulierung „Ich muss …“ durch „Ich entscheide mich …“ für Sie? Was verändert sich dadurch für Sie? Warum ergeben die Änderungen für Sie einen Sinn und warum nicht?

Haben Sie gemerkt, welchen Unterscheid der Austausch von „Ich kann nicht“ durch „Ich will nicht“ macht?

Einige Sätze bleiben natürlich in ihrer Wirkung bestehen und lassen sich durch die neuen Satzanfänge kaum umwandeln (zum Beispiel: „Wir müssen alle sterben“). In meinen Seminaren kommt daher zu Recht immer wieder die Frage auf, ob es nicht auch Muss-Sätze gibt, die bleiben, weil wir keine Wahl haben. Es gibt tatsächlich einige Sätze, bei denen ein „Ich entscheide mich“ infrage zu stellen wäre. So wie in dem angegebenen Beispiel. Doch wir haben trotz aller Bedingtheit immer die Wahl. Auch in größter Eingeschränktheit können wir bis zuletzt entscheiden, wie wir den jeweiligen Situationen begegnen. Beim Thema Sterben wäre es interessant, darüber nachzudenken, wie viel leichter wir „gehen“ könnten, wenn wir uns bewusst dazu entscheiden würden.

Als ich die obige Übung vor vielen Jahren in einem Seminar das erste Mal anbot, formulierte eine Teilnehmerin, die selbst als Trainerin arbeitete, den Satz: „Ich kann nicht vor großen Menschenmengen reden.“ Daraus wurde dann: „Ich will nicht vor großen Menschenmengen reden.“ Ihr fiel ein Stein vom Herzen, weil sie damit eine bewusste Willensäußerung machte, dann eine Entscheidung traf und es somit nicht mehr um ein Defizit ging: Ich will nicht und ich entscheide mich, nicht vor großen Massen von Menschen zu reden, weil es nicht meinem Wesen entspricht. (Eine alternative Formulierung könnte lauten: Ich entscheide mich, wann, wie häufig und wo ich es tue, weil es zu meinem Beruf gehört.)

Ende der 90er-Jahre begannen viele Trainerinnen eine Ausbildung zum „Speaker“ und stürmten auf die großen Bühnen. Dadurch entstand bei vielen Kolleginnen und Kollegen ein großer Erfolgsdruck, es ihnen gleichzutun. So auch bei meiner Teilnehmerin. Wie eine innere Erlaubnis, es auf ihre eigene Art zu tun oder zu lassen, wurde daher die Aussage „Ich will nicht“ empfunden. Sie macht selbstbestimmter. Dieses selbstbestimmte „Ich will nicht“ lag zuvor im Verborgenen und war ein latentes Talent, bevor es zum Vorschein und zum Einsatz kam und dadurch sichtbar wurde. Eine Fähigkeit also, die bis dahin nicht genutzt wurde.

Durch die vorausgegangene Übung wird unsere Komfortzone „irritiert“, und wir werden auf die Macht der Worte aufmerksam gemacht. Durch den Austausch von nur einem Verb können Sie Haltung und Gefühl zu einer Situation oder einer Begebenheit verändern! Und damit auch Ihr Verhalten. Sie bringen sich in Kontakt mit Ihren Potenzialen. In den Sätzen, die mit „Ich will nicht“ und „Ich entscheide mich“ beginnen, zeigt sich Ihre Fähigkeit, bewusst und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Etwas nicht zu wollen entspringt einer anderen Haltung, als etwas nicht zu können. Etwas tun zu müssen beinhaltet eine andere Haltung, als sich für etwas zu entscheiden. Haben Sie bemerkt, dass die Verantwortung und die Entscheidung dafür bei Ihnen liegen? Natürlich ziehen Entscheidungen immer Folgen und Konsequenzen nach sich. Damit dürfen wir umgehen und daraus lernen. Und darum geht es!

(…)

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Das Buch ist ab dem 21. September im Handel erhältlich.

 

Über die Autorin

Andrea Landschof ist Transaktionsanalytikerin, Lehrsupervisorin und Lehrcoach. Als Inhaberin des Beraterwerkes Hamburg, einem Institut für Fort- und Weiterbildung von Berater*innen und Transaktionsanalytiker*innen, begleitet sie seit über 25 Jahren Menschen bei der beruflichen Orientierung.

Borderline – das Chamäleon unter den psychischen Störungen?!

An einer Borderline-Störung leiden nach offiziellen Angaben etwa ein bis fünf Prozent der Bevölkerung. Das Wissen über das Erkrankungsbild ist in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Es gilt inzwischen als gesichert, dass ein Zusammenspiel zwischen genetischen Faktoren und (oftmals) frühen traumatischen Erfahrungen für die Entstehung verantwortlich ist.

Viele Betroffene leiden unter den Symptomen, ohne zu wissen, dass sie krank sind. Unser Autor Dr. Michael Armbrust gibt einen Einblick in das (Er-)Leben eines Borderliners und zeigt Hilfsmöglichkeiten auf.


Borderline oder nicht? Das ist hier die Frage …

Von Dr. Michael Armbrust

 

„Du regst dich immer unglaublich auf!“

„Manchmal bist du von einem Moment auf den anderen ungenießbar!“

„Warum bist du eigentlich immer so misstrauisch allen gegenüber?“

„Deine Launen hält niemand aus!“

 

Manche Menschen werden überdurchschnittlich häufig mit solchen Vorwürfen konfrontiert.

 

„Eigentlich habe ich außer meiner Arbeit nichts vom Leben.“

„Ohne meinen Partner käme ich gar nicht klar.“

„Alle Menschen sind immer ganz gemein zu mir.“

„Eigentlich fühle ich mich nirgends zugehörig.“

„Mein Scheißleben sollte einfach irgendwie beendet sein!“

 

Und manchen Menschen schießen solche Gedanken überdurchschnittlich häufig durch den Kopf.

 

Beides – die Reaktionen der Umwelt und auch das eigene Innenleben – könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese Menschen krank sind, und zwar oftmals, ohne es zu wissen. Die mögliche Diagnose: Borderline-Syndrom.

Manche nennen die Störung auch das Chamäleon unter den psychischen Störungen, weil sie schwer zu fassen ist – für Betroffene und deren Umwelt ebenso wie für die Fachleute.

Offiziell spricht man von einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, die folgendermaßen definiert wird:

Es bestehen tiefgehende und situationsübergreifende Verhaltensmuster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Gefühlen, außerdem eine deutliche Impulsivität. Fünf der nachfolgenden Symptome müssen vorliegen:

  1. Reales oder befürchtetes Verlassenwerden muss unbedingt vermieden werden.
  2. Zwischenmenschliche Beziehungen werden instabil, aber intensiv geführt. Die Bezugsperson wird wechselnd idealisiert oder abgewertet.
  3. Es besteht eine ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes, auch der Selbstwahrnehmung.
  4. In mindestens zwei Lebensbereichen tritt impulsives selbstschädigendes Verhalten auf (Essstörungen, rasantes Fahrverhalten, unvorsichtiges Sexualverhalten etc.)
  5. Suizidversuche oder -drohungen sowie Selbstverletzungsverhalten treten wiederholt auf.
  6. Gefühle und Stimmungen sind instabil und wechseln meist innerhalb von Stunden.
  7. Es besteht ein chronisches Leere-Gefühl.
  8. Unangemessene Wutausbrüche treten auf, und es besteht die generelle Schwierigkeit, Wut zu kontrollieren.
  9. Durch Belastungen werden vorübergehend misstrauische Vorstellungen ausgelöst oder starke dissoziative Symptome. Letzteres meint Erlebnisveränderungen wie ein Neben-sich-Stehen, Änderungen in der Sinneswahrnehmung oder Trancezustände.

All diese Symptome treten auch bei gesunden Menschen gelegentlich auf, sodass einfache Ja-/Nein-Antworten nicht ausreichen, um die Diagnose zu stellen. Auch ist dringend von einer Selbstdiagnose abzuraten. Dazu bedarf es einer wesentlich intensiveren Auseinandersetzung mit der Thematik und der eigenen Biografie, in der Regel im Rahmen einer Diskussion mit einem kompetenten Gesprächspartner. Es muss nämlich nicht nur das Auftreten bestimmter Symptome an sich, sondern auch das Ausmaß des Verhaltens geprüft werden.

Darüber hinaus bleibt zu klären, ob eine andere psychische Störung der Grund für das problematische Verhalten sein kann.

Beruflicher Erfolg als „Symptom“ der Störung?!

Nicht selten sind Menschen mit Borderline beruflich recht erfolgreich. Ihr Weg führt sie aber trotzdem – oder gerade deshalb – immer wieder in Sackgassen. Beispielsweise ist der Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik aufgrund einer Erschöpfungsdepression nicht selten. Weil sie sich völlig verausgabt, weil sie selbstschädigend gearbeitet haben. Ihr Motto lautet: maximaler Einsatz! Überstunden und zu wenig oder gar keine Pausen sind selbstverständlich. Und dennoch finden sie keine Befriedigung, da die Arbeitsleistung „nie reicht“, nie gut genug ist. Dies hängt mit der für diese Störung typischen ausgeprägten Selbstwertproblematik zusammen.

Funktionieren als Lebenszweck

Studien haben ergeben, dass es für Menschen mit einer Borderline-Störung – und folglich großen Identitätsfindungsproblemen – symptomatisch ist, sich in einen Funktionszustand (meist im beruflichen Kontext) zu „flüchten“ und so den Problemen in anderen Lebensbezügen zu entgehen. Dieser Funktionszustand kann auch in der Mutterrolle erfolgen oder in anderen Rollenmodellen. Auch eine Karriere als Sportler oder Balletttänzerin passt hier gut ins Bild.

Entscheidend ist, dass die soziale Rolle möglichst vordefiniert ist, dass sie „nur“ perfekt ausgefüllt werden muss, aber keine eigene Gestaltung erfordert. Dazu wäre es nämlich nötig, sich selbst zu kennen und wertzuschätzen, dass man weiß, was man will, und vor allem mit seinen Gefühlen und Impulsen umgehen zu können. Genau das jedoch nicht zu können ist das Grundproblem bei der Borderline-Störung.

Borderline – die verkannte Krankheit?

Etliche Betroffene sind schon im Jugendalter auffällig und beginnen früh mit der richtigen Behandlung. Ein beträchtlicher Anteil lebt jedoch eher unauffällig bis ins junge und mittlere Erwachsenenalter hinein und führt ein nach außen halbwegs „normales“ Leben. Sie sind sich der tiefgehenden Störung nicht bewusst, da sie ein Leben ohne die krankheitsbedingten Probleme gar nicht kennen. „Es war schon immer so“, und gegen auftretende Symptome wurden wirksame Strategien der Ablenkung entwickelt: Ablenkung vom aktuell unangenehmen Erleben, aber auch Ablenkung und Vermeidung von Selbstwahrnehmung, insbesondere von den eigenen Gefühlen.

Psychosomatische Behandlung als Selbstentdeckung

Viele Betroffene dieser Störung werden erst in einer ambulanten Psychotherapie oder sogar während einer stationären psychosomatischen Behandlung mit der möglichen Diagnose Borderline konfrontiert. Der ursprüngliche Grund für die ärztliche Konsultation sind oft Depressionen, meist kombiniert mit Erschöpfungssymptomen infolge des hohen Einsatzes und der immensen Anpassungsleistung. Niemand soll merken, wie schlecht es ihnen geht. Auch sie selbst möchten es weder spüren noch wahrhaben.

Früher oder später reichen aber die seelischen und körperlichen Kräfte nicht mehr aus, um das Versteckspiel fortzuführen. Manche „tapfere“ Betroffene „schaffen“ es bis in ihre 40er-Jahre, bevor sie „aufgeben“ müssen. Die dann geforderte sogenannte Radikale Akzeptanz, dass „es ist, wie es ist“, und es nun nicht weitergeht, ist ein wesentlicher Teil zu Beginn der Therapie.

Nur Depressionen?

Infolge der seelisch wie körperlich sehr unausgeglichenen und phasenweise extremen Lebensweise kommt es neben den Depressionen auch zu anderen Folgeerscheinungen. Häufig entwickeln sich Angststörungen, vor allem soziale Ängste, Essstörungen oder ein Missbrauch von Substanzen, um die Rollenfunktion aufrechtzuerhalten und die störenden Gefühle wegzudrücken.

Ist Borderline eine Krankheit?

Das Borderline-Syndrom gehört zu den Persönlichkeitsstörungen, die vom Kern her besser Persönlichkeitsentwicklungsstörung genannt werden sollten. Der Begriff Störung bezieht sich dabei auf die „Abweichung von der soziokulturellen Norm“: Die Betroffenen zeigen also Verhaltensweisen, die sich deutlich von den gesellschaftlich vorgesehenen und akzeptierten Verhaltensmustern unterscheiden. Das betrifft Abweichungen in der Regulation der Gefühle, der Beziehungen und der Identitätsbildung. Da die Betroffenen selbst darunter leiden, erhält dieses Symptommuster eine Krankheitswertigkeit.

Die Persönlichkeitsentwicklung ist ein kompliziertes Feld und ein eigenständiger Bereich in der wissenschaftlichen Psychologie. Menschen sind unterschiedlich, und ihre jeweilige Entwicklung ist es auch. Kategoriale Denkansätze („Schubladen“) führen hier eher ins Leere.

In der Psychologie gelten dimensionale Ansätze. Diese erfordern viele Diskussionen und Abstimmungen, erlauben aber eine individuelle Erfassung der Persönlichkeitsentwicklung. Erst wenn ein längeres Leiden auftritt, wird eine Störungsqualität gemäß der oben genannten Abweichung diskussionswürdig, denn emotional-instabile Phasen treten temporär auch im Rahmen einer „normalen“ Entwicklung auf, etwa in der Trotzphase und der Pubertät.

Borderline? Das sind doch die, die sich ritzen

So denken sehr viele Menschen, auch solche mit professioneller Ausbildung. Das klischeehafte Bild vom ritzenden Borderliner muss jedoch revidiert werden. Erkenntnisse auf Basis psychiatrischer und psychotherapeutischer Angebote machen deutlich: Gut ein Drittel der Betroffenen haben mit Selbstverletzungsverhalten keine oder nur sehr kurze Erfahrungen. Eine Senkung der inneren Anspannung – das Hauptmotiv für selbstverletzendes Verhalten – wird mit anderen Techniken erreicht. Techniken, die ebenso ungünstig oder schädigend, aber dafür gesellschaftlich akzeptiert und toleriert sind. Exzessives Arbeiten oder hoher Alkoholkonsum gehören dazu.

Gibt es typische Borderliner?

Nein, da es nur ein gemeinsames Merkmal gibt: die emotionale Instabilität. Diese äußert sich in Stimmungsschwankungen, die gar nicht nach außen dringen müssen, und in einer Impulskontrollstörung, die oft durch anderes Verhalten gedeckelt oder versteckt ist. Das nach außen gezeigte Verhalten kann sehr vielfältig oder sogar variabel sein. Manchmal sind die Betroffenen selbst von sich und ihren starken negativen Impulsen überrascht, etwa wenn sie an Gewicht zunehmen, einen Job verlieren oder den Sport reduzieren müssen.

„Borderliner sind ganz schrecklich!“

Diese vor 30 Jahren in der Psychiatrie entstandene und gerne nach wie vor von den Medien verbreitete Vorstellung ist falsch. Vor allem weil es damals, als die Diagnose eingeführt wurde, noch keine effektiven Behandlungsmethoden gab, waren die professionellen Helfer überfordert und reagierten unangemessen. Die genannte Abwertung der Betroffenen begründet sich also weniger am realen Krankheitsbild, sondern reflektiert viel mehr die Hilflosigkeit der Fachleute und die Schwierigkeiten bzw. Missverständnisse, die als Folge der damaligen Rahmenbedingungen der Psychiatrie auftraten.

Gibt es Hilfe und Unterstützung?

Spätestens in den 90er-Jahren wurden die ersten psychotherapeutischen Methoden zur Behandlung dieser Störung entwickelt. Störungsspezifische Medikamente gibt es bis heute nicht. Die heute als bewährt geltenden Therapiemaßnahmen werden seit etwa zehn Jahren in vielen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken angeboten, in der ambulanten Versorgung leider noch eher spärlich. Einen besonders wichtigen Stellenwert hat die Selbsthilfe, die auch online betrieben werden kann.

Die Prognose der Störung hat sich erheblich verändert: Heutzutage ist ein symptomfreies Leben durchaus realistisch. Der deutliche Rückgang von Fehlverhalten, insbesondere des selbstschädigenden, eine vollschichtige Arbeitsfähigkeit und eine relativ normale Beziehungsfähigkeit sind inzwischen für viele Betroffene gelebter Alltag. Wichtig dafür sind eine möglichst frühzeitige Diagnosestellung und eine störungsspezifische Behandlung, bevor zu viele sekundäre Folgen aufgetreten sind, wie z.B. das Scheitern von Ausbildungen, kontinuierliche Einnahme von Substanzen oder sich wiederholende depressive Phasen.

Auch eine möglichst breite und vorurteilsfreie Aufklärung in der Bevölkerung ist wichtig, um den Betroffenen Scham und Selbstabwertung zu ersparen und insbesondere das (Über-)Leben in den oben beschriebenen Funktionszuständen zu verhindern.

Was kann man selbst tun?

Wenn Sie diesen Beitrag gelesen haben und einen der eingangs aufgeführten Vorwürfe und Gedanken aus Ihrem eigenen Leben kennen oder in Verbinung mit einem anderen, Ihnen nahestehenden Menschen, könnte es ein Hinweis darauf sein, dass eine emotionale Instabilität vorliegt, die möglicherweise jetzt schon belastend ist oder später ein Leiden mit sich bringen wird.

Für sich selbst sollten Sie möglichst ehrlich überlegen, ob Ihre Gefühlsreaktionen möglicherweise öfter zu stark sind und ungemessenes Verhalten bedingen. Dann könnten Sie die oben genannten Symptome für sich kritisch überprüfen.

Mit einer anderen Person, die Ihnen wichtig ist, sollten Sie das Gespräch über deren Verhalten suchen und Ihre Eindrücke mitteilen, auch andeuten, dass möglicherweise ein tiefergehendes Problem besteht, das professioneller Unterstützung bedarf.

Wenn sich die Vermutung erhärtet, sollten Sie eine ärztliche Untersuchung und ggfs. Behandlung in Betracht ziehen.

Ein abwartendes Verhalten, insbesondere im spätpubertären Alter, ist möglich. Zu lange sollte eine Konsultation mit einem Arzt aber nicht auf sich warten lassen, da es inzwischen als gesichert gilt, dass die Störung sich nicht von alleine bessert, sehr wohl jedoch mithilfe gezielter Behandlung.

 

Armbrust_Foto 22.5.2015  Über den Autor

Dr. med. Michael Armbrust ist Chefarzt der Schön Klinik Bad Bramstedt. Zusammen mit Anja Link, Mitbegründerin des Borderline-Trialogs und der Borderline-Trialog Kontakt- und Informationsstelle in Nürnberg, hat er 2015 das Buch „Borderline im Trialog: Miteinander reden – voneinander lernen“ bei Junfermann publiziert.