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Ein Stück weiter in Richtung „widerstandsfähig“ kommen

Mit der Sprungkraft eines Kängurus

Von Melanie Hausler

 „Wie geht’s dir?“, frage ich meinen Kollegen bei einem zufälligen Treffen auf dem Flur. Er antwortet: „Gestresst, wie immer“, zwinkert mir zu und eilt schnellen Schrittes, die Kaffeetasse in der Hand, davon.

So oder so ähnlich laufen täglich unzählige Gespräche ab. Teilweise schwingt zwar noch ein gewisser Humor mit, in der Aussage ist es aber doch bedenklich. Gestresst zu sein ist normal geworden. „Stress“ hat sich als gesellschaftlich äußerst akzeptierter Zustand etabliert. Gestresste Menschen werden häufig als wichtig, erfolgreich oder zumindest sehr fleißig angesehen. In Smalltalks mit Kollegen, Nachbarn und Freunden dreht es sich meist um aktuelle Stressoren, und selbst nach Feierabend fällt es immer mehr Menschen schwer, herunterzufahren und zu entspannen.

Wir alle kennen das Gefühl des Gestresstseins. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie müssten in fünf Minuten unvorbereitet einen Vortrag halten. Wie würden Sie reagieren? Vermutlich würden Ihre Hände kühl und schweißig, das Herz schlüge schneller, die Atmung wäre flacher und beschleunigt und Sie nähmen eine erhöhte Anspannung der Muskulatur wahr. Kein sehr angenehmer Zustand!

Bleiben diese Stresszeiten zeitlich begrenzt, schaden sie uns nicht. Problematisch wird es aber vor allem dann, wenn wir uns ständig gestresst fühlen und zwischen den Stressereignissen kaum Zeit finden, unser System wieder in einen Entspannungszustand zu bringen. Zudem häufen sich nicht selten Stressoren aus verschiedenen Lebensbereichen: im Beruf, in der Beziehung, mit dem Vermieter … Je mehr Stressoren wir gleichzeitig erleben und je weniger wir uns dazwischen wieder entspannen und uns etwas Gutes tun, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit für Burnout, Depressionen, Ängste, Schlafstörungen und Co.

Als Wissenschaftlerin interessiert mich die Frage, wie sich individuelle Stressoren auf der einen und positive Erlebnisse auf der anderen Seite auf die psychische und körperliche Gesundheit sowie das Wohlbefinden auswirken. Eine Kernaussage, die sich auf Basis der wissenschaftlichen Forschung treffen lässt, ist diese:

Durch gezielte Förderung des Wohlbefindens und effektive Stressbewältigung kann sowohl psychischen als auch körperlichen Erkrankungen entgegengewirkt werden.

 

Die Logik unserer Psyche

In meiner psychologischen Praxis begegnen mir die verschiedensten Menschen mit ihren Geschichten. Sie geben mir einen unglaublich spannenden Eindruck in die komplexe Welt der Psychologie. Und jedes Mal aufs Neue fasziniert es mich zu erkennen, welche Logik hinter der individuellen Symptomatik steckt. Denn eins ist gewiss: Es ist immer psycho-logisch. All unsere Gedanken, unsere Gefühle und Verhaltensweisen haben eine Entstehungsgeschichte, die sinnvolle Erklärungen dafür bietet, warum sie sich entwickelt haben. Und nicht nur das. Auch in der aktuellen Lebenssituation gibt es immer Faktoren, die der Symptomatik Sinn verleihen bzw. sie aus gewissen Gründen aufrechterhalten. Ich möchte Ihnen hierfür ein Beispiel geben:

Die 22-jährige Sarah B. berichtet über Angstattacken, die sie ohne erkennbare Auslöser regelmäßig ereilen. Wenn sie die Ängste erlebt, wird ihr schwindelig, ihr Herz klopft rasend schnell, ihr Mund wird trocken und in ihrem Kopf kreisen Gedanken um die Angst, verrückt zu werden. Sie erkennt zunächst keinen erkennbaren Auslöser und erst recht keinen Sinn in ihrer Symptomatik. Nach einigen Sitzungen haben wir folgende Erkenntnisse gewonnen:

  1. Die auslösende Lebenssituation stellt sich wie folgt dar. Sarah B. hat einen Umzug in eine neue Stadt hinter sich, wo sie ein BWL-Studium begonnen hat. Sie erlebt das Studium als sehr anspruchsvoll und hat gleich zu Beginn eine Prüfung nicht geschafft. Sie wohnt in einer Ein-Zimmer-Wohnung und fühlt sich dort recht einsam. Die Panikattacken treten gehäuft vor dem Einschlafen auf, wenn sie über ihre Situation nachgrübelt.
  2. Auf welche Person treffen nun diese Lebensumstände? Sarah B. beschreibt sich als sehr leistungsorientiert. Ihre Eltern haben ihr immer klar vermittelt, dass sie gute Leistungen von ihr erwarten. Wenn sie gute Noten nach Hause brachte, wurde das gemeinsam gefeiert und sie erfuhr Anerkennung und Zuneigung. Im Falle von schlechten Noten entfiel der positive Austausch und stattdessen saß sie alleine in ihrem Zimmer, um zu lernen. Als sie nun in eine neue Stadt zog, reduzierte sich der Kontakt zu den Eltern und ihren Freunden. Sie fuhr zwar regelmäßig nach Hause, aber dennoch war ihr Bedürfnis nach Austausch und Nähe nicht ausreichend erfüllt. Als sie dann auch noch eine schlechte Note erzielte, ging ihr System in Alarmbereitschaft und versetzte ihren Körper in Anspannung. Nun würde sie in nächster Zeit alleine in ihrer Wohnung verbringen müssen, um zu lernen, und die Wochenendbesuche wären nicht mehr so häufig möglich. Darüber hinaus hatte ihre Mutter Sorgen geäußert, ob sie mit dem Studium überfordert sei.
  3. Die Reaktion ihres Systems war eine Steigerung der inneren Anspannung. Als dann eine weitere Prüfung ins Haus stand, überschritt die Anspannung ihre Angstschwelle und sie erlebte ihre erste Panikattacke. Fortan beobachtete sie sich sehr genau und verfiel bei dem geringsten Anzeichen von Unwohlsein (z. B. Übelkeit, Schwindel oder Herzklopfen) in Sorge darüber, ob etwas mit ihr nicht stimme und es zu einer neuen Panikattacke kommen könne – was dann auch zunehmend häufiger der Fall war.
  4. Die Konsequenzen waren nicht nur rein negativ, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten würde. Zwar fühlte sie sich langfristig dadurch massiv in Alltag und Studium eingeschränkt, doch gab es kurzfristig auch positive Konsequenzen. So rief ihre Mutter fast täglich an, um sich nach dem Befinden der Tochter zu erkundigen. Auch war sie nach dem gehäuften Auftreten einiger Panikattacken zur Erholung für ein paar Tage nach Hause gefahren. Dort hatte sie sehr viel Zuneigung und Zuspruch erlebt. Ihre Eltern hatten ihr klargemacht, dass sie wichtiger sei als positive Leistungen und dass sie vor allem auf sich schauen solle. Damit nahmen sie ihr eine große Last von den Schultern, machten aber ihre Anerkennung vom Gesundheitszustand der Tochter abhängig. Wenn nun die Symptomatik verschwinden würde – was dann? Vermutlich wären die Ansprüche – sowohl der Eltern, als auch die eigenen – wieder deutlich höher.

Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, das veranschaulicht, warum sich Symptome entwickeln und auch, warum sie aufrechterhalten werden. Bei Depressionen, Burnout, Schlafstörungen und Co. ist es nicht anders. Jede Person hat eine andere Art und Weise, eine für sie bestmögliche Lösung zu finden, um mit der aktuellen Lebenssituation zurechtzukommen. Dabei ist es sehr wichtig, niemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Weder hat Frau B. ihre Symptomatik „absichtlich“ entstehen lassen, noch sind die Eltern schuld an der Misere. Die Psyche ist viel komplexer.

Viel relevanter ist die Frage, wie sich mit solch komplexen Situationen gut umgehen lässt. Hierfür sind zwei Ansatzpunkte zentral:

  1. Negative Faktoren, Symptome und Unzufriedenheit verringern. Hatten Sie schon mal Angst zu sterben – vielleicht auch nur ganz kurz, etwa weil sie bei einer Wanderung in den Bergen mit dem Fuß abgerutscht sind oder nur durch eine Vollbremsung mit dem Auto knapp einem Unfall entgehen konnten? Um dieses Angstgefühl geht es bei Sarah B. aus dem obigen Beispiel. Grundsätzlich kann man sagen, dass man angstauslösende Situationen nicht gänzlich vermeiden und ihnen dauerhaft einfach aus dem Weg gehen kann. Es gilt vielmehr, Strategien zu entwickeln, um mit der Angst umgehen und ihr mutig begegnen zu können. Es geht also darum, angstfähig zu werden. Es hilft aber langfristig nichts, wenn nur die negativen Faktoren reduziert werden.
  2. Positives stärken. Hinter der Symptomatik steckt auch etwas Positives: Bei Sarah B. ist es der Wunsch nach Zuneigung, nach positiven Beziehungen und nach Liebe. Ein menschliches Grundbedürfnis! Es geht also darum, Wege zu finden, dieses Bedürfnis zu erfüllen und eine gute Balance zwischen Beziehungen auf der einen Seite und Freiheit bzw. Selbstbestimmung auf der anderen Seite herzustellen. Die Lösung wird bei Frau B. nicht sein, das Studium abzubrechen und einfach wieder nach Hause zurückzukehren. Es wird darum gehen, neue Wege zu finden, um dieses Bedürfnis im Hier und Jetzt zu erfüllen.

 

Die Positive Psychologie

Genau hier kommt die positive Psychologie ins Spiel. Die Wissenschaft des gelingenden Lebens dreht sich konkret darum, das positive Erleben – also positive Gefühle und Zufriedenheit – zu erhöhen. Außerdem ist folgende Frage zentral: Welche Stärken und Werte zeichnen uns aus und fördern den Selbstwert unabhängig von Leistungen, Erfolgen oder Misserfolgen? Die Stärken stellen damit eine wichtige Basis für das Wohlbefinden dar.

Es geht aber nicht nur um die positiven Gefühle, sondern auch darum, mit all unseren Gefühlen achtsam umzugehen. Negative Gefühle haben grundsätzlich einen Sinn. Angst ist beispielsweise wie ein Wachhund, der uns vor Bedrohungen warnt. Die Gefahr kann unmittelbar sein oder in der Zukunft befürchtet werden (ein weiteres Nichtbestehen der Prüfung). Manchmal kann der Wachhund aber auch überreagieren und bellen, wenn nur ein kleiner Spatz aus dem Gebüsch fliegt.

 

Das Navigationssystem unserer Gefühle

Ein Bild, das die Funktion der Gefühle anschaulich beschreibt, ist das eines Navigationssystems. Es hilft uns bei der Orientierung, lenkt unsere Aufmerksamkeit und lässt uns wichtige Informationen zukommen. Es zeigt an, welche Straßen gesperrt sind, welche Wege wir besser umfahren sollten, wie lange wir noch bis zu unserem Ziel brauchen und welche Schwierigkeiten auf unserer Reise auftreten können. Und genauso funktionieren auch unsere Gefühle.

 

Positive Gefühle zeigen uns an, dass wir auf dem richtigen Weg sind, während negative Gefühle wie Angst, Wut, Trauer etc. uns darauf aufmerksam machen, dass gerade etwas nicht so gut läuft.

 

Alle Gefühle geben uns (lebens-)wichtige Hinweise auf unsere Bedürfnisse und haben somit einen wesentlichen Anteil an unserem Wohlbefinden.

Ob die Gefühle nun aber angemessen sind oder nicht, hängt stark von der individuellen Situation ab. Während ein heiteres Lachen während der Beerdigungszeremonie eher ungewöhnlich ist, passt es beim gemeinsamen Spieleabend sehr gut. Ebenso ist es mit den negativen Gefühlen.

Angenommen das Gefühl ist passend, dann spielt darüber hinaus die Intensität des erlebten Gefühls eine Rolle. Haben wir beispielsweise gesunden Respekt vor Höhe, ist das durchaus sinnvoll, da wir dadurch während der Bergtour achtsam bleiben und aufpassen, dass wir stets sicheren Tritt haben. Besteht jedoch panische Angst vor Höhen und vermeiden wir sogar in der Folge alle Situationen, die uns mit Höhe konfrontieren könnten, dann ist dies unserem Wohlbefinden nicht mehr dienlich. Im Gegenteil – es ist sogar einschränkend. Bleiben wir beim (Gefühls-)Navigationsbild, dann gibt es folgende Möglichkeiten:

  1. Die Information ist hilfreich und wir reagieren dementsprechend (z. B. schnellere Route wählen und Stau umfahren).
  2. Die Information weist zwar in die richtige Richtung, ist aber zu intensiv (z. B. wird immer wieder auf den Stau hingewiesen, in dem wir uns befinden, es gibt jedoch keine alternative Route).
  3. Die Information ist nicht hilfreich (z. B. wird auf eine gesperrte Straße hingewiesen, die inzwischen schon wieder frei befahrbar ist).

Während es wichtig ist, im Fall 1 dem Gefühl gemäß zu handeln, ist es bei den Fällen 2 und 3 notwendig, das Gefühl zu regulieren bzw. abzuschwächen – zum Beispiel mit den Methoden der Positiven Psychologie. Je nach Ausmaß und Häufigkeit kann darüber hinaus auch eine professionelle Unterstützung Sinn machen.

 

Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen?

Uns allen widerfahren hin und wieder Missgeschicke, Dinge laufen anders als erwartet oder wir machen schmerzhafte Erfahrungen. Das gehört zum Leben dazu. Interessant ist, wie wir mit derartigen Situationen umgehen. Studien haben gezeigt, dass glückliche Menschen bessere Strategien entwickeln, um mit kritischen Lebensereignissen umzugehen, als weniger glückliche (z. B. Tugade & Fredrickson, 2004). Sie verfügen über eine größere Widerstandskraft, die sie dazu befähigt, konstruktiv mit Krisen umzugehen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Die Rede ist von Resilienz.

Ich möchte diesen Umstand am Beispiel des Kängurus verdeutlichen: Kängurus können ganz wunderbar springen. Bei jedem Sprung federn ihre Hinterläufe vom Boden ab wie ein Gummiball. Je mehr sich der Kängurukörper komprimiert, je stärker also die Gelenke belastet und die Muskeln gedehnt werden, desto höher ist die Sprungkraft. Resilienz ist wie diese Sprungkraft. Sie befördert uns wieder nach oben, wenn das Schicksal uns einmal zu Boden geworfen hat. Auch wenn wir Schlimmes erleben, bedeutet das nicht automatisch, dass wir dadurch traumatisiert oder von nun an unglücklich sind. Vermutlich führen wir zwar ein anderes Leben, als wir es ohne dieses Erlebnis getan hätten. Ob dieses Leben jedoch glücklich ist oder nicht, hängt sehr viel mehr von unserer Bewertung, unseren Gefühlen und unserem Verhalten – kurz: unserer Resilienz – ab: Wie wir Dinge einschätzen und welche Konsequenzen wir daraus für unser Leben ziehen, liegt an uns.

Wir alle haben die Möglichkeit, Resilienz zu trainieren und uns auf dem Kontinuum ein Stück weiter in Richtung „widerstandsfähig“ zu bewegen. In diesem Zusammenhang konnte die Bedeutsamkeit positiver Gefühle für die Förderung von Resilienz nachgewiesen werden. Resiliente Menschen nutzen positive Gefühle zum einen dafür, sich schneller von Stress zu erholen, und zum anderen, um Sinn aus negativen Erlebnissen zu schöpfen (Tugade & Fredrickson, 2004). Außerdem nehmen sie bei Stressereignissen oder Problemen nicht ausschließlich die negativen Aspekte wahr, sondern auch positive Facetten, Entwicklungsmöglichkeiten oder Lernchancen. Dies ermöglicht es ihnen, gestärkt aus solchen Erfahrungen hervorzugehen und sogar an ihnen zu wachsen.

Wenn wir einmal hinfallen, ist es wichtig, erst einmal innezuhalten und herauszufinden, worüber wir gestolpert sind. Vor allem dann, wenn uns das regelmäßig passiert, macht es sehr viel mehr Sinn, sich mit dem Hindernis auseinanderzusetzen, als jeden Tag aufs Neue über die Türschwelle zu stolpern. Der nächste Schritt ist dann zweifelsohne, wieder aufzustehen und sich mit Mitgefühl zu begegnen, anstatt sich Vorwürfe zu machen. Ist dies geschehen, können Sie mutigen Schrittes weitergehen – und wie ein Känguru mit einem kraftvollen Sprung über künftige Hindernisse hinwegspringen. Denken Sie daran: Glückliche Kängurus springen höher!

  

Über die Autorin

Dr. Melanie Hausler, Klinische und Gesundheitspsychologin, Trainerin für Positive Psychologie, Promotion in Psychologie zum Thema „Wohlbefinden verstehen und fördern“. Sie ist Glücksforscherin an der Medizinischen Universität Innsbruck und in freier Praxis tätig. Ihr Buch Glückliche Kängurus springen höher: Impulse aus Glücksforschung und positiver Psychologie erscheint am 22. März 2019 im Junfermann Verlag. Weitere Informationen über Melanie Hausler erhalten Sie hier.

 

Quelle

Tugade, M. M. & Fredrickson, B. L. (2004): Resilient Individuals Use Positive Emotions to Bounce Back From Negative Emotional Experiences. Journal of Personality and Social Psychology, 86(2), 320–333. http://doi.org/10.1037/0022-3514.86.2.320.

„Es braucht häufig mehr als drei tiefe OMs oder ein paar positive Gedanken, um glücklich zu werden!“

„Immer mit der Ruhe! Wie Sie Ihr Gehirn zur Gelassenheit erziehen“ von Doris Iding und Nanni Glück ist ein Ratgeber und Rettungsanker in stürmischen Zeiten. Für Menschen, die spüren, dass sie sich in all dem Multitasking und To-do-Listen-Abhaken selbst verlieren; die Entschleunigung suchen und sich nach innerer Ausgeglichenheit sehnen.

Wir sprachen mit den Autorinnen über unsere „gestresste Gesellschaft“, Achtsamkeit und Selbstmitgefühl – und über das Glück …

   Interview Teil I – mit Autorin Doris Iding

Liebe Frau Iding, Sie bieten regelmäßig Yoga- und Achtsamkeitsretreats an. Die Teilnehmenden möchten lernen, wieder zur Ruhe zu kommen, und wünschen sich, Hektik und Stress einmal ganz hinter sich zu lassen. Welchen Eindruck haben Sie: Wie gestresst ist unsere Gesellschaft?

Doris Iding: Ich habe das Gefühl, dass die Menschen immer rast- und ruheloser werden. Stress gehört zum Lebensgefühl dazu. Sie fühlen sich von den steigenden Anforderungen im Privat- und Arbeitsleben häufig überfordert und sind dabei, auszubrennen, oder haben häufig auch schon ein Burn-out hinter sich.

 

In Ihrem aktuellen Buch „Immer mit der Ruhe!“ nennen Sie Achtsamkeit als den ersten Schlüssel zur Gelassenheit. Was genau verstehen Sie unter Achtsamkeit, und wie kann sie helfen, im Alltag besser mit Stress und Druck umzugehen?

Doris Iding: Achtsamkeit ist im herkömmlichen Sinne (basierend auf Buddha) eine Meditationspraxis, die uns darin unterstützt, unseren Geist zu erforschen und uns nicht mehr von den darin entstehenden Gedanken beherrschen zu lassen. So richtig salonfähig wurde Achtsamkeit aber erst durch Dr. Jon Kabat-Zinn, der die Achtsamkeit durch MBSR in Stresskliniken brachte und in den letzten zehn Jahren auch in die Gesellschaft. Durch die Achtsamkeit im Kontext von MBSR lernt man, die Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen kennenzulernen und sich nicht mehr mit ihnen zu identifizieren.

Achtsamkeit ist aber auch gleichzeitig eine Lebensweise. Sie soll uns darin unterstützen, dass wir erkennen, dass es keine äußeren Stressoren gibt, sondern dass wir es selbst sind, die uns den Stress machen.

Achtsamkeit ist auch ein Mittel, das uns darin unterstützt, den Autopiloten auszustellen, um das Leben wieder mit all unseren Sinnen zu erleben und zu genießen. Und zwar von Moment zu Moment.

 

Seit Ihrem 15. Lebensjahr beschäftigen Sie sich schon mit Meditation und Yoga und seit vielen Jahren leiten Sie entsprechende Seminare im Bereich Achtsamkeit und Entspannungstechniken. Wie viel Übung braucht jemand, der bisher noch keine Berührung damit hatte, um diese Techniken für sich nutzbar zu machen?

Doris Iding: Das ist schwer zu sagen, weil jeder Mensch ganz einzigartig ist und ich hier keine falschen Erwartungen wecken möchte. Es gibt Menschen, die lernen die Meditation kennen und genießen es bereits von Anfang an, 30 Minuten zu meditieren. Andere Menschen sind schon mit drei Minuten überfordert. Ich versuche, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, und ihnen auch die Zeit und den Raum zu geben, den sie brauchen. Durch die permanente Nutzung von Handys sind die meisten Nervensysteme allerdings heute immer weniger in der Lage, lange in der Stille zu verweilen. Gleichzeitig aber wächst das Bedürfnis nach Stille immer mehr.

Jeder, der anfängt zu praktizieren, sollte sich zuerst einmal überlegen, wie viel er realistisch in seinen Alltag integrieren kann, ohne sich noch zusätzlichen Stress zu machen.

 

Interessant ist, dass Sie Selbstmitgefühl als eine weitere Komponente zur Stressreduktion thematisieren. Was genau meinen Sie damit?

Doris Iding: Es ist mittlerweile erwiesen, dass es keine äußeren Stressoren gibt, sondern dass wir selbst es sind, die sich den Stress machen. Für den inneren Stress ist in erster Linie der „innere Antreiber“ verantwortlich, der auch gerne als „innerer Kritiker“ bezeichnet wird. Dieser Anteil ist nie zufrieden. Ich arbeite in meinen Kursen mit so vielen wundervollen Menschen zusammen und 99,9 Prozent haben einen solchen inneren Kritiker, der ihnen das Leben zur Hölle machen. Entwickeln wir aber Selbstmitgefühl mit uns und schließen wir Freundschaft mit diesem inneren Kritiker, dann wird das Leben leichter. Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir mit einem offenen Herzen auf uns selbst schauen und das wertschätzen, was wir alles leisten. Und das ist bei uns allen mehr als genug. Es bedeutet, dass wir mehr auf die eigenen Bedürfnisse eingehen und uns selbst mit genauso viel Liebe und Geduld begegnen wie den Menschen, die wir lieben – oder aber mit denen wir arbeiten.

Erfahrungsgemäß ist aber das Selbstmitgefühl das, was uns allen am schwersten fällt. Ich bin in meinem Leben schon so vielen spirituellen Lehrern, Meistern und Therapeuten begegnet. Sie alle hatten ein offenes Herz für ihre Patienten und Klienten. Aber sich selbst gegenüber waren die meisten sehr fordernd und sehr anspruchsvoll.

Prof. Dr. Luise Reddemann hat einmal gesagt, dass der innere Kritiker unkündbar ist und dass wir gut daran tun, uns mit ihm anzufreunden. Diese Aussage kann ich auch nur unterstreichen.

 

Das Besondere am Buch ist auch sein ganzheitlicher Ansatz. Es wird auf neurologische Grundlagen ebenso eingegangen wie auf spirituelle Wege. Für wie wichtig erachten Sie Spiritualität für ein gesundes Leben? Und wie kann sie helfen, besser mit den Höhen und Tiefen des Lebens zurechtzukommen?

Doris Iding: Spiritualität ist für mich die Basis eines gesunden Lebens. Nur dann, wenn wir uns mit unserem innersten Wesen verbinden, können wir ein vollkommen selbstbestimmtes Leben führen. Der Benediktinermönch Willigis Jäger hat einmal gesagt, dass es darum gehe, ganz Mensch zu werden. Dieser Aussage kann ich ebenfalls zustimmen. Spiritualität bedeutet für mich übrigens u. a., dass wir uns der Verbundenheit mit allem und der Vergänglichkeit von allem bewusstwerden. Wenn wir dies tun, dann müssen wir nicht mehr so gegen das Leben selbst ankämpfen. Dann wird vieles leichter. Spiritualität bedeutet für mich aber auch, dass wir uns mit etwas verbinden, das größer ist als wir selbst. Das heißt, dass wir uns nicht immer für den Mittelpunkt der Welt halten, sondern ein Teil davon sind. Das kann manchmal sehr erleichternd sein. Und gleichzeitig bedeutet es auch, dass wir uns mit dem Göttlichen (als dem, was Größer ist als wir selbst) verbinden UND gleichzeitig unsere Kontonummer nicht vergessen. Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh sagt dazu: Es geht (bei der Spiritualität) nicht darum, auf dem Wasser zu wandeln, sondern darum, Schritt für Schritt auf der Erde zu gehen. Diese Aussage unterstreiche ich gerne.

 

Angenommen, die Mitarbeiterin eines großen Unternehmens, deren Wochen voll durchgetaktet sind, oder eine dreifache Mutter, die „das erfolgreiche Familienunternehmen“ führt, bittet Sie um Tipps zur Stressreduktion. Was antworten Sie denen?

Doris Iding: Innehalten. Bewusst einatmen. Bewusst ausatmen. Und dann eins nach dem anderen erledigen. Es ist eben diese so einfache (!!) Kombination aus innehalten UND atmen, die uns maßgeblich dabei helfen kann, raus aus dem Kopf – dem Gedankenkarussell – und rein in den Körper zu kommen.

 

Sie litten selbst einmal an einer Angststörung. Was glauben Sie: Wie sehr haben Stress und (Leistungs-)Druck in Ihrem Leben dabei eine Rolle gespielt?

Doris Iding: Die Ursache für die Angsterkrankung lag in einer generalisierten Angsterkrankung, die wiederum ihre Wurzeln in meiner Kindheit hatte. Ich habe meine Angsterkrankung – und einen Umgang damit – in meinem Buch Die Angst, der Buddha und ich beschrieben. Darin habe ich postuliert, dass man meditieren kann UND psychisch erkranken kann, dass man Yoga machen kann UND unter Ängsten leiden kann. Noch heute bekomme ich Leserbriefe als Reaktion auf dieses Buch und viele Menschen sind froh, dass ich mit diesem Buch ein Tabu in der spirituellen Szene gebrochen habe. Leider wird hier nämlich der Irrglaube verbreitet, dass man sich glücklich denken und dehnen kann. Das ist allerdings nicht der Fall. Wir sind so multidimensional und komplex, dass es häufig mehr braucht als drei tiefe OMs oder nur ein paar positive Gedanken, um glücklich zu werden.

 

Finden Leser*innen in Ihrem Buch auch konkrete Präventionsmaßnahmen, um sich vor der Entstehung von Ängsten und Depressionen zu schützen? Inwiefern?

Doris Iding: Leider ist es häufig so, dass wir erst wach werden, wenn wir bereits unter Ängsten leiden oder Depressionen uns das Leben schwermachen. In dem Buch gibt es aber viele Übungen, die einen Menschen darin unterstützen, besser mit Ängsten und mit Depressionen umzugehen. Es sind wundervolle und sehr wirksame Übungen. Sie haben allerdings nur einen Haken: Man muss sie regelmäßig machen. Der Neuropsychologe Rick Hanson sagt: Wir können unser Gehirn und unseren Geist ändern. Aber nur wir selbst können dies tun. Dieser Aussage stimme ich zu. Wir können noch so viele Seminare besuchen und noch so viele kluge Bücher lesen. Wenn wir nicht wirklich regelmäßig üben, wird sich langfristig nicht viel ändern. Nehmen wir uns hingegen täglich die Zeit für eine Meditation, dann können wir inneren Frieden erlangen.

 

Welche Botschaft möchten Sie Menschen, die an einer Angststörung erkrankt sind, mit auf den Weg geben? Gibt es etwas, das Hoffnung macht, wenn man den Mut verloren hat?

Doris Iding: Wenn wir unseren Ängsten ins Gesicht schauen, ihnen einen Namen geben und sie liebevoll und mitfühlend in den Arm nehmen, dann können wir sie überwinden. Das weiß ich. Alles, was es braucht, ist etwas Geduld. Der Buddha hat gesagt: ‚Egal, wie schwer das gestern war, wir können heute neu anfangen.‘ Und eine weitere Aussage von ihm lauter: ‚JEDER Mensch kann inneren Frieden erfahren.‘ Für mich wurde besonders die zweite Aussage von Buddha zu einem Mantra, das ich mir während meiner eigenen Angsterkrankung täglich gesagt habe. Ich habe mir gesagt: Wenn Buddha also tatsächlich meint, dass JEDER es kann, dann kann ich es auch! Das war gut. Auch diese Aussagen kann ich unterstreichen und bestätigen. Aber auch hier gilt: Wir können unsere Ängste überwinden. Aber nur wir selbst können es!

 

Was tun Sie selbst, um in akuten Stresszeiten zur Ruhe zu kommen? Haben Sie einen Erste-Hilfe-Plan?

Doris Iding: Ich habe keinen ersten Hilfe-Plan, sondern einen Erste-Hilfe-Koffer. Je nach Gelegenheit nehme ich mir das passende Werkzeug. Meine Lieblingsmethode: Da ich für mein Leben gerne esse, praktiziere ich in solchen Momenten die Essmeditation. Ich verwöhne mich mit einem guten Essen und nutze es, um wirklich mit allen Sinnen bei der Sache zu sein. Ansonsten hilft es mir immer und überall, mich über die Atmung wieder zu erden. Ich atme ganz bewusst in die Füße langsam aus. Und wenn es ganz arg ist, dann lege ich noch eine Hand auf das Dekolleté und eine Hand auf den Bauchraum. Indem ich langsam ausatme, wird der Parasympathikus aktiviert, und wenn ich mich selbst berühre, wird Oxytocin ausgeschüttet. Das ist ein Hormon, dass uns Vertrauen vermittelt. Und dann gibt es natürlich noch viele andere kleine Übungen in dem Buch.

 

Haben Sie vielen Dank für das nette Gespräch, Frau Iding!

 

Über die Autorin

Doris Iding ist Meditations-, MBRS-, Achtsamkeits- und Yogalehrerin. Sie arbeitet als Seminarleiterin und gibt Achtsamkeitsseminare in Firmen und mit Privatpersonen. Sie ist auch Buchautorin sowie Redakteurin der Zeitschrift Yoga aktuell. Darüber hinaus bildet sie seit vielen Jahren angehende Yogalehrer im Bereich Achtsamkeit und Yoga-Philosophie aus. 18 ihrer Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt.

Ihr Buch „Immer mit der Ruhe! Wie Sie Ihr Gehirn zur Gelassenheit erziehen“, das sie mit Mitautorin Nanni Glück zusammen verfasst hat, erschien im Mai 2018 im Junfermann Verlag.

Weitere Informationen über die Autorin und ihre Angebote finden Sie unter www.glueckundachtsamkeit.de/ und www.vomglueckderkleinendinge.blogspot.de/

 

Yoga – das Wundermittel gegen Stress?

Innehalten und durchatmen: Yoga gegen Stress

Von Maria Wolke

Das Telefon klingelt, die Arbeit ruft, das Baby schreit und das Haus muss auch noch geputzt werden … Ommmmm … Der Stress im Alltag und im Beruf lässt nie lange auf sich warten.

Noch vor zehn Jahren hätte ich in einer solchen Situation die „Fassung verloren“, hätte versucht, um jeden Preis die Ansprüche meiner Umwelt zu erfüllen, und mich dabei früher oder später vor lauter Stress selbst verloren.

Dann begegnete mir der Yoga.

Bild 1

Heute atme ich in „taffen Zeiten“ einige Male tief ein und aus, senke meinen Oberkörper nach vorne (vgl. Bild oben) und schließe für einen kurzen Augenblick meine Augen. Ich „erde“ mich. Mittels einfacher Yoga-Techniken habe ich gelernt, wieder „bei mir“ anzukommen und zu spüren, „wenn das Fass überläuft“.

So, wie es mir noch vor zehn Jahren erging, geht es tagtäglich vielen Menschen. Sie werden Auf Schritt und Tritt mit Überlastung, Unzufriedenheit und Stress konfrontiert. Das Gefühl der Überforderung und der Eindruck, „das alles“ nicht mehr zu schaffen, sind keine seltenen Phänomene mehr. Genau da beginnt der Stress, uns krank zu machen.

Aber was ist eigentlich Stress?

Stress ist die Antwort unseres Organismus auf alle aufwühlenden Ereignisse aus der Umwelt. Dabei können sowohl positive Erlebnisse (wie die Begegnung mit der Person des Begehrens) als auch die überraschende Konfrontation mit Gefahr (wie die Begegnung mit einer Schlange) eine psychobiologische Stressreaktion auslösen. Die Symptome gleichen einander: Das Herz beginnt zu pochen, wir schwitzen, sind wie „versteinert“, wie auf der „Lauer“. Diese Symptome haben wir dem Sympathikus zu verdanken, dem Bereich des vegetativen Nervensystems (VNS), der uns gewissermaßen aufstachelt und der vor allem dann aktiv wird, wenn wir aufgeregt sind oder uns in Gefahr befinden. Langfristig überfordert diese starke körperliche Notfallreaktion den Organismus und wirkt destabilisierend. Der langandauernde Überschuss der Stresshormone im Blut stört das subtile Gleichgewicht der körperinternen Vorgänge und beeinflusst die Herzfrequenz, den Blutdruck und alle anderen wichtigen Körperfunktionen ungünstig. Gerät dieses subtile Gleichgewicht immer wieder durcheinander, werden wir krank.

Die Folgen von chronischem Stress

Viele Menschen sind täglich ungesunden Lebens- und Arbeitsverhältnissen ausgesetzt. Sie stehen „unter Strom“, hetzen von Termin zu Termin oder leiden still zu Hause vor sich hin, da sie es nicht schaffen, sich aus einer ungesunden familiären Konstellation zu lösen. Diese alltäglichen, oftmals als „normal“ akzeptierten Belastungen erzeugen Stress im Körper und haben langwierige, teilweise gravierende Folgen. Meist sind es zuerst leichte, fast unmerkliche Anzeichen wie ein veränderter flacher Atem, innere Angespanntheit, Nervosität und stärkeres Schwitzen, die uns aufhorchen lassen sollten. Der Körper schlägt Alarm und möchte uns darauf aufmerksam machen, dass es zu viel ist. Langfristig ignoriert kann die Stressbelastung, durch den Schaden, den sie im Körper und im Gehirn anrichtet, manifeste körperliche und psychische Erkrankungen verursachen:

körperlichen Langzeitfolgen von Stress Psychische Langzeitfolgen von Stress

unterschiedliche Herzkrankheiten

Arthritis

ein beschleunigter Alterungsprozess

Fettleibigkeit

diffuse körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen

ständiges Grübeln

Entscheidungsschwäche

Konzentrationsschwierigkeiten

Gereiztheit und/oder Aggressivität

übermäßige, oft unbegründete Ängste

Depressionen

Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen

ständige Müdigkeit

gestörtes Essverhalten

reduzierte sexuelle Lust

Die Forschung beweist: Yoga „entstresst“ und entschleunigt!

„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ sagt das bekannte Sprichwort … Und ja – es ist tatsächlich möglich, sich mittels einfacher körpereinbeziehender Techniken aus dem Stress-Kreislauf zu befreien. So konnten auch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen beweisen: Der Yoga lindert den Stress. Er gibt Kraft und Selbstvertrauen und macht langfristig zufriedener und gesünder.

Yoga ist nicht gleich Entspannung

Bis heute gehen viele Menschen davon aus, dass die positiven Effekte des Yoga vor allem auf seine entspannende Wirkung zurückzuführen sind. Yoga ist allerdings nicht gleich Entspannung. So konnten unter anderem australische Wissenschaftler zeigen, dass einfache Entspannungstechniken bei Stress nicht die gleiche Wirkung haben wie der 5000 Jahre alte Yoga. Das ist auch leicht nachvollziehbar, betrachtet man etwas ausführlicher die uralten philosophischen Grundlagen des antiken Yoga. Die körperliche Yogapraxis – die Yoga Asana – sollen den Praktizierenden körperlich und psychisch auf das lange Verweilen im Meditationssitz (Lotussitz) während der Meditation vorbereiten. Pranayama – die Atemübungen des Yoga – wirken zentrierend und disziplinieren den Körper und den Geist. Die Meditation (das Nach-innen-Wenden der Aufmerksamkeit) ist wohl die ursprünglichste Form des Yoga. Sie führt dazu, dass wir uns kennenlernen, und stärkt über die bewusste Ausrichtung der Aufmerksamkeit die Fähigkeit, die eigenen Emotionen und Handlungen zu kontrollieren. In der Meditation lernen wir, zum Beispiel durch die Beobachtung des eigenen Atems (siehe unten), uns auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Wir lernen zu sein, ohne zu tun … – gar nicht so leicht vorstellbar, oder? Sind die meisten von uns doch eher ein gestresstes Rumrennen anstelle von Interozeption (wie es in der Fachsprache heißt) gewöhnt.

Meditation fördert einen konstruktiven Umgang mit Stress

Entgegengesetzt zu dem, was uns im Alltag begegnet (Schnelligkeit, Lautstärke, Druck, Hektik), wirkt die Meditation unter anderem durch die bewusste Konfrontation mit der Stille. Wir setzen uns dabei in Ruhe hin, sorgen dafür, dass uns weder die Kinder noch das Handy stören, und schließen für einen kurzen Augenblick unsere Augen. Ein Gedanke wird dem nächsten folgen. So ist nun mal die Natur des Geistes. Deswegen ist Meditation mit Mentaltraining vergleichbar. Erst bei wiederholter Übung werden wir immer und immer besser. Mit jedem wiederholten Meditationsversuch werden wir immer mehr begreifen, was unter Meditation „gefühlt“ verstanden werden kann.

Atemmeditation

Eine Möglichkeit, die Meditation zu erlernen, bietet das Beobachten des eigenen Atems. Indem wir spüren, wie sich mit jedem Einatmen die Bauchdecke hebt und mit jedem Ausatmen wieder senkt, konzentrieren wir unsere gesamte Aufmerksamkeit weg vom Stress – hin zu uns selbst und unserer Körpermitte. Langfristig eröffnet uns diese Übung einen Weg, über die Steuerung der Aufmerksamkeit einen anderen, neuen Umgang mit dem, was uns begegnet und belastet, zu erlernen. Kombinieren wir diese Atemtechnik mit dem Ujjayi Pranayama (vgl. unten), werden wir relativ schnell merken, wie der „Krieg im Kopf“ einer angenehmen inneren Ruhe weicht. Seit vielen Jahren atme ich in Situationen, die mich emotional berühren Ujjayi. Ganz unbemerkt für mich. Egal wo ich mich auch befinde, habe ich in dieser Atemtechnik ein Instrument gefunden, welches mich zuverlässig und immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt und beruhigt.

Das Ujjayi Pranayama

Während wir Ujjayi atmen, verschließen wir aktiv den Kehlkopfbereich und kontrollieren so bewusst den Ein- und Ausatemvorgang. Ein vergleichbares Gefühl im Kehlkopfbereich kann zu Beginn der Praxis mechanisch, durch das Absenken des Kopfes (vgl. Bild 2 und 3) erzeugt werden. Das durch die Kopfsenkung verursache sachte „Rauschgeräusch“ (Haaaaa) ist einzigartig und lässt uns spüren, was unter „Ujjayi-Atmung“ zu verstehen ist. Eine weitere Möglichkeit, Ujjayi zu erlernen, bietet die Vorstellung, einen Spiegel bei geschlossenem Mund anzuhauchen, sodass dieser beschlägt … Haaaaa … Haben Sie es geschafft, das Rauschgeräusch zu erzeugen, verbleiben Sie für ca. 5 Minuten in diesem Pranayama.

Die Wirkung der Ujjayi-Atmung auf den Körper und den Geist ist auch der Wissenschaft nicht neu. Seit vielen Jahren empfehlen immer mehr Yoga-Kenner und -Erforscher die Ujjayi-Atmung zur Linderung von Depressionen und Stresssymptomen.

Bild 2   Bild 3 

(Bild 2 und 3)

Auch Yoga Asana lindern die körperliche Antwort auf Stress

Auch die körperlichen Stellungen des Yoga, die Yoga Asana, beeinflussen die neurophysiologischen Vorgänge im Gehirn und im Körper. Sie wirken genau dort, wo der Stress das innere Gleichgewicht bedroht, und beruhigen die auf Hochtouren laufenden Prozesse des Vegetativen Nervensystem (VNS). In akuten Stressphasen sollten deshalb vor allem die Asana praktiziert werden, die den Sympathikus hemmen und den Gegenspieler, also den Parasympathikus (den Bereich des VNS, der uns beruhigt), aktivieren können. Besonders geeignet dazu sind ausatmungsfördernde Asana wie zum Beispiel:

  1. Paschimottan asana (die sitzende Vorwärtsbeuge)

Bild 4   Bild 5

Paschimopttanasana – Variation 1 + 2

  1. Adho Mukha Svanasana (der herabschauende Hund)

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Adho Mukha Svanasana – Variation 1 + 2

  1. Hasta Hada Asana (die Vorwärtsbeuge im Stehen)

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Hasta Pada Asana – Variation 1 – 3

Die genannten Asana entspannen den Körper und den Geist und bringen innerhalb von Minuten den gesamten Organismus zur Ruhe. Die deutlichsten Effekte können vor allem dann erreicht werden, wenn die dargestellten Asana bis zu 2 Minuten gehalten werden.

Während der Yoga-Asana-Praxis ist es wichtig, auf sich selbst und seinen Körper zu achten. Werden die körpereigenen Grenzen nicht respektiert, kann der Yoga schaden. So sollten die dargestellten Asana bei chronischen Beschwerden in der Lendenwirbelsäule und bei starkem Bluthochdruck nur unter der Aufsicht eines erfahrenen Lehrers praktiziert werden.

Yoga – das Wundermittel im Umgang mit Stress?

„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“

(Georg Christoph Lichtenberg)

Und das bestätigen auch all die großen philosophischen Schriften: Es kann anders und besser werden, wenn wir aktiv handeln! Gerade chronisch gestresste Menschen sollten, wann auch immer sie 60 Sekunden „Luft haben“, die Augen schließen und in Ruhe ein- und ausatmen. Diese einfache Übung macht Praktizierende langfristig stressresilienter (widerstandsfähiger). Ohne den eisernen Willen, sich besser fühlen zu wollen, und ohne die konsequente Bemühung, in die entsprechende Richtung zu handeln (zum Beispiel durch Yoga), wird sich im eigenen Leben nichts verändern. Auf alles andere haben wir keinen Einfluss.

MERKE: Wir können die Umwelt nicht verändern. Aber wir können lernen zu entscheiden, wie und ob wir auf die Ereignisse um uns herum reagieren wollen.

 

Wolke_Maria  Über die Autorin

Dr. Maria Wolke ist Mama, Autorin und Yogatherapeutin. Sie lebt und arbeitet in Deutschland und Spanien und vermittelt international die Wege des Yoga bei psychischen und körperlichen Leiden. In diesem Frühjahr erscheint bei Junfermann ihr Buch: „Yoga für die Seele – Psychische Erkrankungen umfassend behandeln“.

Mini-Training für eine ausgeglichene Psyche

Was können Sie für Ihr seelisches Gleichgewicht tun?

Ein Ergänzungsbeitrag zum Buch „Stark im Job“ von Dr. Anne Katrin Matyssek

Sie wünschen sich innere Ausgeglichenheit? Ihre Psyche soll in Balance bleiben? Dann ist es unverzichtbar, dass Sie sich regelmäßig genug Ich-Zeit gönnen. Ich-Zeiten sind Zeiträume, die Sie ganz nach eigenen Wünschen gestalten. Sie erfüllen keine Anforderungen, brauchen auf niemanden Rücksicht zu nehmen, Sie tun einfach das, wozu Sie Lust haben. Ich-Zeit will in der Regel hart erkämpft sein. Dieser Beitrag möchte Sie ermutigen, diesbezüglich besser für sich zu sorgen. Wie ein Mini-Seelen-Fitness-Training gibt er Tipps, wie Sie diese wertvolle Auszeit am besten nutzen – und er erklärt, warum wir sie überhaupt brauchen.

Ich-Zeit für inneres Gleichgewicht

Vor allem Frauen wissen es: Wer immer nur für andere da ist, wird auf Dauer krank. Wir brauchen ab und zu Zeit für uns selbst. Sonst werden wir unruhig und sind irgendwann nicht mehr wir selbst. Wir ruhen nicht mehr in uns, werden hibbelig und dünnhäutig. Man sagt: Wer zu selten in sich geht, gerät leichter außer sich. Er fährt aus der Haut und fühlt sich ständig angegriffen.

Kennen Sie das von sich? Dass Sie ohne genügend Ich-Zeit reizbar werden?

Es sorgt für seelische Stabilität, wenn wir Zeit mit uns selber verbringen, ohne die Anforderungen anderer Menschen zu erfüllen. So finden wir innere Ruhe, und echte Erholung wird möglich. Es ist also wichtig für Ihre Gesundheit, dass Sie sich immer wieder mal zurückziehen. Aus der Distanz heraus ordnen Sie Ihre Prioritäten. Sie wissen wieder, was Ihnen wichtig ist. Dieser Abstand stärkt Ihre Psyche. Und er sorgt dafür, dass Sie sich wieder stärker Ihrer selbst bewusst sind – also selbstbewusst im besten Sinne des Wortes.

Ich-Zeit als Grundrecht

Wer kleine Kinder hat, empfindet Ich-Zeit häufig als Luxus. So erzählte kürzlich eine junge Mutter, dass sie seit zwei Jahren nicht mehr allein auf dem WC gewesen sei – außer nachts, wenn ihre Kinder schliefen. Der Nachwuchs „verfolgt“ sie auf Schritt und Tritt. Für junge Eltern ist Ich-Zeit rar. Auch wenn man die Zeit mit seinem Kind noch so sehr genießt, für die innere Ausgeglichenheit ist es unverzichtbar, wenigstens ein paar Minuten pro Tag für sich zu haben.

Wie viel Zeit für sich brauchen Sie? Haben Sie das Gefühl, dass es genug ist?

Jeder Mensch hat das Recht, auch Zeit mit sich allein zu verbringen. Um wie viele Stunden pro Woche es sich hierbei handelt, variiert von Mensch zu Mensch. Außerdem ist es davon abhängig, in welcher Lebensphase man sich gerade befindet. Während Eltern häufig das Gefühl haben, ständig zu wenig Zeit zu haben, fühlen Rentner sich eher zeit-reich. Statt allgemeingültiger Regeln sollte das individuelle Empfinden als Maßstab angelegt werden.

Manchem reicht eine halbe Stunde pro Woche, bei anderen muss es mehr sein. Entscheidend dabei ist, dass die Zeit, die man mit sich selbst verbringt, als genussvoll empfunden wird.

Ich Zeit als Genuss-Zeit

Es geht bei der Ich-Zeit nicht einfach nur darum, keinen Anforderungen nachzukommen oder allein zu sein. Sondern wichtig ist, die freie Zeit auch tatsächlich als Luxus zu empfinden und zu erleben. Gönnen Sie sich in Ihrer Ich-Zeit, Dinge zu tun, die Ihnen guttun. Ob das eine Tasse Tee bei Kerzenlicht ist, ein heißes Bad oder sogar ein Massagetermin, ist quasi egal. Hauptsache, Sie verstehen diese bewusst geplanten Erlebnisse als Geschenk an sich selbst. Und Sie sind mit voller Aufmerksamkeit dabei. Dann ist Ihre Ich-Zeit das, was die Super-Nanny wohl als „Qualitätszeit“ bezeichnen würde.

Genießen Sie Ihre Ich-Zeit?

Natürlich könnten Sie in dieser Zeit auch fernsehen. Für manche Menschen ist das ein Genuss. Und auch Videospiele empfinden viele Männer als entspannendes Vergnügen – auch wenn Frauen das wohl nie nachvollziehen können … Aber auch beim Genuss gilt: Jede Jeck ist anders. Ob eine Tätigkeit tatsächlich erholsam war, erkennt man häufig daran, wie man sich danach fühlt. Hören Sie auf Ihre innere Stimme. Tun Sie einfach, was Ihnen guttut. Wann, wenn nicht jetzt?

Alleinsein wieder lernen

Manchen Menschen fällt es schwer, mit sich allein zu sein. Für sie ist die Herausforderung, sich mehr Ich-Zeit zu gönnen, fast schon eine Überforderung. Sie lenken sich lieber ab, zappen im Fernsehen von Kanal zu Kanal, gönnen sich keine Ruhe, sind quasi hektisch-agitiert. Bisweilen werden damit Probleme verdrängt und man nimmt sich die Chance, wieder in Kontakt zu kommen mit den eigentlichen inneren Bedürfnissen.

Was tun Sie in Ihrer Ich-Zeit? Reizüberflutung? Oder „nichts“?

Um überhaupt zu wissen, was einem im Leben fehlt und ob man zufrieden ist, braucht man ab und zu Rückzugszeiten ohne Reizüberflutung. Sprich: ohne Fernsehen, ohne Internet, ohne Smartphone. Erst aus diesem Abstand heraus, wird es möglich, innere Wünsche und eigene Ziele zu reflektieren. Auch Partnerschaften erfahren häufig eine neue Qualität, wenn es beiden Partnern gelingt, ab und zu mit sich allein zu sein. Aus der Distanz heraus wird der andere noch attraktiver.

Ich-Zeit aktiv erkämpfen

Wenn Sie sich in Zukunft Zeit für sich selbst gönnen, rechnen Sie am besten nicht mit Applaus! Wenn Ihre Umgebung es noch nicht gewohnt ist, dass Sie sich zurückziehen und alleine Zeit verbringen, wird sie zumindest verwundert reagieren. Es kann sogar sein, dass Sie mit Widerständen rechnen müssen, wenn Sie plötzlich Zeit für sich beanspruchen. Viele Familienmitglieder haben sich regelrecht daran gewöhnt, dass zum Beispiel die Mutter rund um die Uhr verfügbar ist. Es handelt sich also um einen Lernprozess für alle.

Wie reagiert Ihre Umwelt, wenn Sie sich Ihre Ich-Zeit gönnen?

Trotzdem sollten Sie daran arbeiten, Ihre Ich-Zeit zu erkämpfen. Auch wenn Sie belächelt oder gar angegriffen werden, sollten Sie es sich wert sein. Am besten machen Sie von Anfang an deutlich, dass sie in Zukunft vorhaben, sich öfter mal so eine kleine Auszeit zu gönnen. Bauen Sie darauf, dass sich Ihre Familienmitglieder im Laufe der Zeit daran gewöhnen werden 🙂

Ganz einfache Ich-Zeit-Tipps

Wenn Sie einmal ausprobieren möchten, wie es ist, wenn Sie sich für bestimmte Zeitintervalle einmal nicht ablenken lassen: Testen Sie doch mal, wie es sich anfühlt, auf der Heimfahrt von der Arbeit das Radio ausgeschaltet zu lassen. Ihre Gedanken werden also nicht abgelenkt. Sie können sie schweifen lassen. Und wer weiß, vielleicht tauchen ja Gedanken in ihrem Bewusstsein auf, mit denen Sie so nicht gerechnet hätten. Und falls diese Herausforderung noch zu groß für Sie sein sollte, dann schalten Sie das Radio einfach wenigstens bis zur nächsten Ampel aus.

Wollen Sie das mal ausprobieren?

In dieser Zeit können Sie zum Beispiel den vergangenen Arbeitstag noch einmal Revue passieren lassen. Das hilft nicht nur beim Abschalten und Hinter-sich-Lassen der Arbeit, sondern es bereitet Sie auch auf einen erholsamen entspannten Feierabend vor. Falls Ihnen wichtige Dinge einfallen sollten, die Sie nicht vergessen möchten, notieren Sie sie einfach mithilfe der Diktierfunktion Ihres Handys.

Ich-Zeit für Eltern – vorm Heimkommen

Falls daheim kleine Kinder auf Sie warten (klein geht mindestens bis 14), müssen Sie das gedankliche Abschiednehmen vom Arbeitstag schon beendet haben, wenn Sie die Schwelle übertreten. Denn sobald Sie die Tür hinter sich geschlossen haben, sind Sie ganz als Mutter oder Vater gefragt. Dann sind die Gedanken an die Arbeit vermutlich verschwunden, aber nur vorübergehend. Mit ziemlicher Sicherheit werden sie wiederkommen, sobald Sie endlich zur Ruhe kommen. Meistens erst, wenn die Kinder schon im Bett sind.

Ist das bei Ihnen auch so? Dann sollten Sie daran arbeiten.

Das heißt für Sie, dass Sie idealerweise schon vor dem Heimkommen eine Mini-Auszeit in Form einer Ich-Zeit nehmen sollten. Also ein kurzes Intervall, indem Sie den bisherigen Tag noch einmal in Gedanken durchgehen. Vielleicht fahren Sie kurz mit dem Auto an den Straßenrand schalten den Motor aus, essen einen Apfel und machen sich vielleicht Notizen über Dinge, die nicht verloren gehen dürfen. Vielleicht – falls Sie das nicht schon bei der Arbeit getan haben – erstellen Sie einen Plan für morgen.

Zusammenfassung anhand eines Übersichtsbildes

 

Ihre Ich-Zeit ist quasi der Stamm des Baumes, den Sie hier sehen.

  • Erst in der Ich-Zeit haben Sie den nötigen Abstand, um sich an Ihren bisherigen Erfolgen zu erfreuen. Wer im Stress ist, kommt gar nicht dazu, an Erfolgserlebnisse zu denken.
  • Und auch erst aus der Distanz heraus wird uns klar, wo in unserem Leben die Felsen liegen, die uns Stabilität verleihen.
  • In der Ich-Zeit fallen uns vielleicht auch Menschen ein, die uns unterstützen könnten, beispielsweise beim Ermöglichen von noch mehr Ich-Zeit.
  • Ich-Zeit macht es erforderlich, dass wir unserer Umgebung klare Grenzen setzen. Die Kraft dazu finden wir häufig erst, wenn wir uns kurz zurückziehen.
  • Der Blick aufs Positive ist im Stress oft verstellt. Aber wenn wir mit uns allein sind, fällt uns wieder ein, wo unsere Kraftquellen liegen.
  • Nicht zuletzt kommen wir leichter wieder zur Ruhe, wenn wir uns kurz zurückziehen. Wir atmen dann unwillkürlich tiefer ein und länger aus. Das beruhigt Körper und Seele.

 

 

 

   Über die Autorin:

Dr. Anne Katrin Matyssek

Die Diplom-Psychologin und approbierte Psychotherapeutin (Studium und Promotion an der Universität zu Köln) beschäftigt sich seit 1998 mit Betrieblichem Gesundheitsmanagement. Ihr Ziel: Förderung der seelischen Gesundheit durch mehr Wohlbefinden im Job. Ihr Buch „Stark im Job“ gibt Anregungen, um die seelische Gesundheit in der Arbeitswelt zu schützen.

Weitere Informationen erhalten Sie unter http://www.do-care.de

 

Atmung als Energiequelle

KörperSprache, wenn es mal hoch hergeht: Energiegewinnung über den Körper

Von Sabine Mühlisch

Spannung und Entspannung liefern für unsere Körper eine natürliche Balance für endlose Energie – wenn wir angemessen atmen! Der Atem ist unsere vitalste Energiequelle, denn über den Atemvorgang unseres Körpers wird dieser biologisch mit Energie versorgt, es werden Ablagerungen und Gifte verbrannt und ausgeschieden. Die Lunge ist nach der Haut das größte Organ des Körpers. Je wirksamer wir atmen, desto frischer und gesünder bleiben die Zellen unseres Körpers.

Auf der geistigen und psychischen Ebene ist der Atem Träger von Lebensenergie (Prana). Durch das Ein und Aus der Atembewegung sind wir mit dem Rhythmus, dem Pulsieren des Lebens, verbunden. In der Art und Weise, wie wir den Strom des Lebens in uns aufnehmen und wieder loslassen, spiegeln sich viele unserer Gedanken und Einstellungen zum Leben. Indem wir anders atmen, leben wir anders.

Über den Atem können wir unsere Emotionen beeinflussen. Oft entstehen Atemstörungen durch unterdrückte Gefühle, durch Unterdrückung von ursprünglichen Lebensprozessen in uns selbst. Je freier wir atmen, desto freier sind wir in unseren Gefühlen und unserem Handeln.

Veränderung unseres natürlichen Atems

Wenn wir ein Baby beobachten, sehen wir, wie entspannt und tief es atmet. Beim Einatmen wölbt sich sein Bauch, beim Ausatmen wird er wieder flach. Seine Lunge füllt sich vollständig mit Luft. Sein Atem fließt frei und überall hin. Wenn ein Baby schreit, schreit es von Kopf bis Fuß, und wenn es lacht, lacht jede Stelle seines Körpers mit. Es zeigt alle seine Gefühle und hält keinen Impuls zurück.

Viele Menschen verlernen das natürliche Atmen, auf Grund der Bedingungen und Einstellungen (Glaubenssätzen) mit denen sie aufwachsen. Wenn wir den Atem anhalten oder sehr flach atmen, nehmen wir unsere Gefühle nicht mehr so deutlich wahr. Im Laufe der Zeit wird es allmählich zu unserer festen Gewohnheit, nicht zu weinen und nicht wütend zu werden. Wir lernten schon als Kinder, die Kontrolle zu behalten.

Oft zählt Traurigkeit zu den unerwünschten Gefühlen, manchmal ist es die Wut, manchmal die Lust, die unterdrückt wird. Unterdrückung bzw. Abwertung bedeutet das Eingreifen in die ursprüngliche Einheit von Körper, Atem, Seele und Geist.

So wird im Körper eine erhöhte Spannung aufgebaut, Verhärtungen entstehen, die Atmung kommt ins Stocken. Parallel zur Entwicklung einer psychischen Struktur in jedem von uns, entwickelt sich entsprechend unserer Atem-Muster eine individuelle Körperstruktur. Zur Verdeutlichung: Mit einer Körperhaltung mit vorgezogenen Schultern und rundem Rücken ist wenig Platz im Brustkorb für die Einatmung. Eine schlechte Voraussetzung, um Gefühle von Stärke, Sicherheit oder Mut ausleben zu können.

Der Körper lügt nicht, und die verdrängten Teile/Gefühle unseres Selbst machen sich irgendwann einfach bemerkbar durch schmerzende oder erkrankende Körperstellen, durch Gefühlsausbrüche, die zum Zusammenbruch führen oder durch Lebenskrisen.

Verbundenes Atmen statt „selbst gemachter“ Stress

Abwertung, Unterdrückung und Widerstand bewirken beim Energie- und Atemstrom im Körper Störungen und Hindernisse, die sich in verschiedenen Formen von Atemhemmungen niederschlagen. Sie beeinträchtigen Ihre Wahrnehmung der aktuellen Situation und begrenzen die vorhandenen Möglichkeiten, damit angemessen umzugehen.

Durch die bewusste Verbindung der Einatmung mit der Ausatmung – in einem entspannten Rhythmus – werden solche Atemhemmungen wahrnehmbar. Dieses verbundene kreisförmige Atmen lenkt die eigene Aufmerksamkeit vollständig auf die Gegenwart in unserem Körper und hilft uns, mit dem Bewusstsein ganz in der Gegenwart und im Körper anwesend zu sein (Hier und Jetzt!).

Damit entsteht ein Kontakt mit unserem körperlichen Gefühl und den damit verbundenen Gedanken und Emotionen. Der verbundene Atem bringt das hervor, was gerade ist, und macht es uns bewusst. Jede Einzelheit im Körper wahrzunehmen und dabei vollkommen entspannt zu sein, bedeutet, JA zu sagen zu dem, was ist, und es urteilslos anzunehmen.

Dieses Annehmen ist ein aktiver innerer Vorgang, indem wir aufhören, etwas abzuwerten oder überhaupt zu bewerten! Dann entsteht Integration. Durch die bewusste Aufmerksamkeit auf die Atmung identifizieren wir uns nicht mehr mit den vorbeikommenden Gedanken und Gefühlen. Wir beobachten uns selbst aus der Perspektive „außerhalb“.

Die Kraft (Energie), die mit den Urteilen und Emotionen blockiert war, wird wieder freigesetzt. Dadurch entstehen für die jetzige Lebenssituation angemessene Wahlmöglichkeiten – ohne Stress!

Es sind keine anderen Ergebnisse zu erwarten, wenn man die Dinge immer wieder auf dieselbe Art und Weise tut. Raus aus dem alten Trott, aus den alten Schuhen! Und dazu reicht es schon, jeden Tag eine winzige Kleinigkeit zu verändern. Nicht beim Partner! Nicht beim Chef! Nicht bei den Kunden! BEI SICH SELBST.

Also: Atmen Sie JETZT ein paar Minuten bewusst ein und aus. Und erst recht, wenn es das nächste Mal wieder hoch hergeht!

Energiesteuerung der Umgebung mit KörperSprache

Sie können die KörperEnergie und damit Ihre Gelassenheit steuern. In einer hektischen, aufgeregten oder auch aggressiven Situation können Sie dies auch und gerade für Ihre Umgebung tun:

Nehmen wir einmal an, ein wichtiger Termin für Ihren Chef steht an und er sucht schon seit einiger Zeit nach den erforderlichen Unterlagen, die aber scheinbar spurlos verschwunden sind. Gereizt, ungeduldig und angriffslustig stürmt er nun in Ihr Büro und beschuldigt Sie, die Unterlagen verlegt zu haben.

Klar, dass Sie sofort in die sprachliche Verteidigung gehen, da Sie wissen, die Unterlagen bereits zurechtgelegt zu haben. Stopp! Bevor Sie irgendetwas sagen, stehen Sie bitte auf,

nehmen eine objektive gerade Haltung ein (besonders auf das angemessenen Maß Ihres Standpunktes achten!),

lassen die Arme hängen,

atmen und

schauen Ihren Chef ganz leicht lächelnd in die Augen.

Halten Sie dies ein paar Atemzüge aus.

Erst wenn Sie merken, dass die Spannung Ihres Chefs weicht – und das wird sie tun! – stellen Sie eine kluge Frage: „Sie haben sicher schon auf dem Sideboard nachgeschaut …?“, und

gehen ruhig, weiterhin bewusst atmend ins Zimmer und holen die Unterlagen.

Trauen Sie sich es auszuprobieren – es wirkt Wunder!

Nehmen wir an, der Gesprächspartner kommt scheinbar uninteressiert oder leicht muffelig auf sie zu. Agieren? Oder Reagieren?

In Sekundenschnelle ist Ihre bis eben noch vorhandene gute Laune getrübt und aus den wahrgenommen Signalen funkt ihr Gehirn: „Achtung, der will bestimmt nicht mit mir sprechen, und besonders sympathisch bin ich ihm auch nicht.“ Aus diesen Gedanken wird ebenso schnell Ihr negatives Gefühl. Schon hat sich Ihr eben noch vorhandenes, leichtes Lächeln verzogen und ihre Mundwinkel zeigen tendenziell nach unten: Sie machen das Sauergesicht! Natürlich haben Sie jetzt die gleiche Ebene zu ihrem Gegenüber, aber ein freudvolles, erfolgreiches Gespräch lässt sich jetzt nicht führen. Außerdem werden Sie durch Ihre äußere und innere Haltung die Prophezeiung erfüllen: „Der will ja doch nicht …“

Gefühle ehrlich zeigen

Wenn Sie sich aber entschließen, das Signal des Partners aufzunehmen und bewusst zu denken. „Dieser Mensch hat zurzeit negative Gedanken und fühlt sich nicht sehr wohl”, dann beschreiben Sie das, was sie sehen, ohne es auf sich zu beziehen und falsch zu werten. Dadurch können Sie entscheiden, dass Sie weiterhin mit einem Lächeln auf diesen Menschen zugehen können und damit die Situation bestimmen.

Kein Mensch – nicht einmal mein ärgster Feind – kann mir meine Stimmung vorgeben! Ich entscheide immer selbst, wie ich dem anderen begegne. Nicht die äußere Situation bestimmt über „Ärger“ oder „Freude“, sondern meine innere Einstellung und Entscheidung dazu. Das Außen ist vielleicht eine Herausforderung, aber niemals ein Zwang, diese auch anzunehmen!

Trifft mich etwas von außen an einem wunden Punkt, so zeigt mir dies nur, dass ich dort eine zu heilende Stelle habe. Wir können Ärgernissen, die uns andere verursachen, im Grunde sogar dankbar sein; zeigen Sie uns doch nur auf, wo wir selbst noch etwas in den Schatten gedrückt haben.

Ein offenes, freundliches Gesicht mit entsprechender Haltung ist selbst dem muffeligsten Gegenüber auf Dauer unwiderstehlich. Das höhere Energiepotential (Freundlichkeit) fließt immer zum niedrigen! Das damit das Gespräch anders startet, können Sie jederzeit leicht ausprobieren.

Die bewusste Entscheidung, die Dinge des Lebens offen anzuschauen, lässt Sie nach außen als auch im Inneren positiver den Tag an- und auf Menschen zugehen. Unangenehme Situationen oder Probleme erscheinen uns bei verkniffener Mundstellung und verengten Augenstellungen eben „verbissen“, „verkniffen“ oder „suspekt“. Sprache beschreibt Körpersprache – der Körper hat Einfluss auf Denken und Fühlen.

Wenn es so gar nicht läuft

Sie kennen das sicher auch: Es gibt Tage, da ist Ihnen nach gar nichts. Sie fühlen sich unbehaglich, jedes Gespräch ist eher lästig. Diese Gefühle sind durchaus zulässig. Unsere Gedanken in Verbindung unserer gesellschaftlichen (überholten!) Regeln aber verbieten den freien Ausdruck dieser Gefühle. Gefühle dieser Art sind Privatsache und gehören eben nicht in die Öffentlichkeit. Diese Rechnung haben wir dann jedoch wieder ohne unseren Körper gemacht. Denn der offenbart uns mit seiner Mimik (heruntergezogene Mundwinkel, trauriger Blick), unserer Gestik (Zurückhaltung der Arme und Hände, Festhalten der linken, emotionalen Hand oder Faust in der Tasche), die Schultern hängen herab.

Oder der Gang ist schleppend und die Füße wollen sich gar nicht vom Boden lösen. All diese Signale stehen dann im Gegensatz zu unserer Aussage: „Mir geht’s gut, ich bin ganz zufrieden (was nur heißt, Sie sind auf dem Weg zum Frieden mit sich Selbst und der Welt!), eigentlich kann ich nicht klagen …“ Warum stehen wir nicht zu unserer Situation, wenn wir sie letztlich doch nicht verstecken können?

Wenn Sie ehrlich antworten und damit Ihre Gefühle annehmen, wird es Ihnen besser gehen. Und auch der Gesprächspartner wird Sie für ehrlich halten, wenn sie anschließend auf der Sachebene zum Gespräch kommen. „Verzeihen Sie, wenn ich so ein Gesicht mache, das geht nicht gegen Sie. Ich habe gerade solche Kopfschmerzen“, oder: „Macht Ihnen dieser Fön auch so zu schaffen? Ich habe richtig Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.“ So oder ähnlich können Sie sich und ihre Gefühle äußern und vermeiden damit, dass der andere die körpersprachlichen Signale auch noch auf sich persönlich, ablehnend bezieht.

Für Sie selber bedeutet dieses Verhalten, dass das unbehagliche Gefühl nachlässt (es wird wieder auf die seelisch-geistige Ebene gehoben und der Körper kann auf die Signalgebung verzichten!) und Sie sich und anderen aufrichtiger und authentisch erscheinen. Unsere Körper lügt nicht – nur wer eine Einheit aus Körper und Sprache darstellt, kann überzeugend und souverän wirken, Menschen im Gespräch begegnen und sich in seiner Haut wohl fühlen.

Hier ein kleiner Test zur Selbstbeobachtung:

Stellen Sie eine Begrüßungssituation nach und überprüfen Sie Ihre Signale und deren Be-Deutung:

  • Welchen Standpunkt vertreten Sie?
  • Welchen Abstand hat Ihr ausgestreckter Arm zum Gegenüber?
  • In welchem Winkel steht Ihr Oberkörper zu ihrem Gesprächs-Partner?
  • Welche Intensität hat Ihr Händedruck?
  • Welche Kopfhaltung nehmen Sie ein?
  • Wie wirkt Ihr Gesichtsausdruck, speziell der Mund und die Augen?
  • Fragen Sie nach dem spontanen Gesamteindruck bei Ihrem Gegenüber nach ….

Welche konkreten, persönlich erfahrenen Situationen haben Sie erfahren? Bitte schildern Sie mir diese – und wir schauen nach Lösungen, die Sie das nächste Mal anwenden können!


 

  Über die Autorin:

Sabine Mühlisch, ausgebildete Diplom-Sportwissenschaftlerin, ist seit 1986 selbständige Trainerin für KörperSprache & Persönlichkeitsentwicklung.

In den über 25 Jahren als Trainerin mit Managern, UnternehmensLeitern und Privatpersonen hat sie sich einen umfangreichen Erfahrungsschatz zu menschlichem (non-verbalen) Verhalten angeeignet. Sie bietet Seminarreihen zum Thema „KörperSprache als Ausdruck von Geist und Seele“ – auf der Grundlage und in der Auseinandersetzung mit der Arbeit von Prof. Samy Molcho – an. Bereiche dabei sind Kommunikation, Führung, Verkauf, Präsentation und freien Reden. Ihre lebendigen Vorträge und Impulsreden zum Thema „KörperSprache“ werden ergänzt durch Coachings, Seminare und Inspirationen für mittelständische Firmen zum Thema „Vitale UnternehmensKörper“ und IFM-Coachings.

Durch mehrere Bücher, Fachartikel sowie Medienauftritte hat sie den Namen „Grande Dame“ der KörperSprache erhalten.

Im Junfermann Verlag sind von ihr die Bücher Fragen der KörperSprache (2006) sowie Das Prinzip KörperSprache im Unternehmen (2014) erschienen.

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