Hochsensibilität im Berufsleben als Stärke?

Hochsensibilität ist mit den Anforderungen einer sehr leistungsorientierten Arbeitswelt für Betroffene meist nur schwer zu vereinen. Überforderung, Leistungsdruck oder generell Stress sind Faktoren, die Hochsensible stark belasten, unabhängig von beruflicher Tätigkeit. Doch muss Hochsensibilität zwingend eine Hürde im beruflichen Alltag sein? Oder kann man Hochsensibilität im Berufsleben als Stärke einsetzen?

Wie fühlen sich Hochsensible?

Hochsensible Personen, oder kurz HSP, haben ein ausgeprägteres Nervensystem und nehmen Reize aller Art stärker und intensiver wahr als nicht-hochsensible Mitmenschen. Das Reizspektrum kann hierbei von Geräuschen über Gerüche bis hin zu sozialen Interaktionen reichen.

Sensibilität ist dabei grundlegend nichts Schlechtes. Im Gegenteil: meist zeugt Sensibilität von Empathie, Verständnis und einem gut ausgeprägten Emotionserleben. Der Unterschied zur Hochsensibilität liegt hierbei in der Ausprägung: die Wahrnehmung (sensorische Komponente), das Denken (kognitive Komponente) und das Fühlen (emotionale Komponente) sind wesentlich stärker ausgeprägt, dass dies schnell zu einer Übererregung beziehungsweise einer Überreizung führen kann.

Foto: Ulrike Hensel

Neben den persönlichen Faktoren für Betroffene wirkt sich dies im Berufsleben ebenfalls aus: die Konzentration und die Leistungsfähigkeit lassen nach, HSP fühlen sich schnell überreizt und sind kaum noch in der Lage, weitere Reize aufzunehmen.

Und es ist bekannt, dass ein Automatismus unseres Körpers ist, dass auf jeden Reiz auch eine Reaktion folgt. Schlägt man sich mit dem Hammer versehentlich auf den Finger, schreit man wahrscheinlich kurz „Aua!“, bevor man sich überhaupt darüber im Klaren ist, dass man diese Reaktion gar nicht bewusst steuern kann, sondern dass sie automatisch passiert. Im Rahmen der Hochsensibilität kann  diese „unterbewusste“ Reaktion auf verschiedenste Auslösereize folgen. Bei HSP fällt diese Reaktion zudem oft stärker aus und macht es der betroffenen Person situativ unmöglich, zu interagieren oder zu kommunizieren. Die Folge dieser Reizüberflutung ist ein sozialer Rückzug und die emotionale Isolation.

Im Berufsleben ist womöglich die sensorische Komponente, also die Wahrnehmung, am stärksten ausgeprägt. Für hochsensible Personen kann bereits ein kleiner Trigger reichen, sei es ein abfälliger Blick vom Arbeitskollegen, die Art, wie jemand am Telefon „Hallo“ sagt oder die schlechte Stimmung im Büro. Hochsensible Personen haben die Fähigkeit, kleinste Details subtil zu registrieren, die anderen nicht auffallen. Meist werden diese Reize als unangenehm wahrgenommen.

„Du fühlst/denkst zu viel!“

Die Wahrnehmung ist zudem ausschlaggebend für die emotionale Komponente bei HSP, also das Fühlen. Bereits auf kleinste Wahrnehmungen hin beginnen HSP zu denken, zu interpretieren und sich ein Bild zu machen, wodurch sich starke Gefühle entwickeln können, die gegebenenfalls mit der Ursprungssituation oder dem Auslöser nicht mehr übereinstimmen. Emotionen sind bei HSP sehr stark ausgeprägt, was bedeutet, dass sämtliche Gefühle intensiver durchlebt werden, sowohl positive als auch negative. Dieses Empfinden macht es Betroffenen außerdem schwerer, sich emotional zu distanzieren. Wahrnehmungen dringen somit schneller und prägender zu ihnen durch.

Ein weiteres Merkmal ist die Konfliktvermeidung, was im Berufsleben zu Schwierigkeiten führen kann. HSP tendieren dazu, sich aus ernsten Gesprächen und Konflikten zurückzuziehen, um sich nicht hilflos mit einem Problem konfrontiert zu sehen. Meist fühlen sie sich der Situation nicht gewachsen, sehen sich selbst als wehrlos und dem Konflikt völlig ausgeliefert.

Zwischenmenschliche Schwingungen, Anspannung oder Nervosität werden von HSP oftmals als erstes wahrgenommen. Dieser erste perzeptive Eindruck veranlasst sie dazu, sich nicht in emotional in diese Angelegenheiten hineinziehen zu lassen.

Die positiven Seiten der Hochsensibilität

Die meisten Probleme bei Hochsensibilität im Berufsalltag beziehen sich auf das Umfeld und auf Reize, die von diesem ausgehen. Sicher fragen Sie sich nun, wie Hochsensibilität bei so vielen scheinbar negativen Faktoren auch als Vorteil gesehen werden kann. Viele Charakterzüge und Eigenschaften von HSP können auch im Arbeitsleben auch gewinnbringend eingesetzt werden.

Eine besondere Fähigkeit von HSP ist beispielsweise die Detailgenauigkeit. Dadurch, dass sie mehr wahrnehmen als andere, fallen ihnen Dinge auf, welche sonst ungeachtet geblieben wären. HSP arbeiten oft akribisch, nahezu perfektionistisch und haben ein gutes Auge fürs Detail. Durch diesen Hang zum Perfektionismus sind HSP in der Lage, komplexe Probleme zu lösen – häufig auf kreative Weise!

Die hohe emotionale Intelligenz kann ebenfalls als Vorteil angesehen werden: Durch ein tiefes Einfühlungsvermögen und viel Empathie verbessern sie das Arbeitsklima untereinander und machen sich zu wertvollen Teammitgliedern, welche allerdings auch auf die soziale Interaktion mit anderen Menschen angewiesen sind. HSP können sich gut in andere Menschen hineinversetzen, was sie emotional erreichbarer für ihre Mitmenschen macht.

Auch die facettenreichere Wahrnehmungsfähigkeit sorgt dafür, dass Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. HSP können eine völlig neue Sichtweise einbringen, was berufliche und betriebsinterne Entscheidungen bereichern und verbessern kann.

Eine reizarme Umgebung zu schaffen ist wichtig, um als HSP im Berufsleben gut durch den Tag zu kommen. Zu viele Reize sind der Hauptfaktor für Stress und Unbehagen im Berufsalltag. Die eigenen Erwartungen an sich selbst zurückzuschrauben, trägt dazu bei, Druck zu mindern und seinen Beruf gewissenhaft auszuführen. Außerdem reduziert es den Leistungsdruck von außen.

Am wichtigsten ist es jedoch, seine eigene Hochsensibilität anzuerkennen und zu respektieren. Denn mit ihren besonderen Eigenschaften tragen HSP viel zur Arbeitswelt bei, was den Arbeitsalltag positiv beeinflusst oder Betriebe und Firmen stärken und voranbringen kann.

Hochsensibilität ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Im Gegenteil, HSP haben einfach nur eine andere innere Sicht auf die Welt. Die Hürde ist die Überwindung, diese Sicht nach außen zu tragen, denn Hochsensible tragen in ihren Berufen viele wichtige Dinge gerade dadurch bei, wie sie wahrnehmen, denken und fühlen.

Tipps und Fragen für Hochsensible im Berufsalltag:

  • Suchen Sie sich einen Beruf aus, der zu den eigenen Neigungen passt und Besonderheiten der Wahrnehmung berücksichtigt (Wer besonders geräuschempfindlich ist, kommt beispielsweise in einer lauten Werkshalle schnell an seine Grenzen)
  • Schaffen Sie sich ein möglichst reizarmes Arbeitsumfeld, das zu Ihren Bedürfnissen passt (Licht, Raum, eigene Tür, Rückzugsmöglichkeit, Geräuschkulisse, nicht zu viele Außenreize…)
  • Nehmen Sie wahr, wo Ihre Grenzen sind und kommunizieren Sie diese
  • Überlegen Sie, wie sich Ihr Kontakt zu Menschen am Arbeitsplatz gestalten kann/soll
  • Haben Sie genug Freiraum, sich die Arbeit zu strukturieren?
  • Stimmen Job und Arbeitsklima mit Ihren Werten überein?
  • Gibt es Modelle, Arbeitszeit zu reduzieren oder im Homeoffice zu arbeiten?
  • Erfahren Sie echte Wertschätzung in Ihrem Arbeitsumfeld (von Kolleg:innen/Vorgesetzten)?

 


Weiterlesen in:

Ulrike Hensel

Hochsensibel im Berufsleben – Begabungen nutzen, Herausforderungen meistern, Möglichkeiten ausloten

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